Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 239-240
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Zur Reformbewegung


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 237 vom 24. Mai 1855]

<239> London, 21. Mai. Sämtliche Londoner Blätter veröffentlichen heute eine Adresse der Cityreformer oder vielmehr ihres Verwaltungsausschusses an das "Volk von England". Der Stil des Aktenstücks ist trocken, geschäftsmäßig, nicht ganz so hochfliegend wie die Handelszirkulare, die periodisch von derselben Stelle ausgehn und Kaffee, Tee, Zucker, Gewürze und andere Produkte der Tropenländer in mehr oder minder geschmackvoll arrangierten Phrasengeflechten der Welt zum Verkauf auslegen. Die Assoziation verspricht, Materialien zu einer förmlichen Physiologie der verschiedenen Regierungsdepartements zu liefern und sämtliche Mysterien von Downing Street, der erbweisheitlichen Downing Street, zu enthüllen. Das ist, was sie verspricht. Sie verlangt ihrerseits, daß die Wahlkörper von England, statt wie bisher von den aristokratischen Klubs aufgedrängte, frei nach ihrem Herzen gewählte und nur durch ihr Verdienst empfohlene Kandidaten in das Parlament senden. Sie erkennt also die bestehenden privilegierten Wahlkörper als normal an, dieselben Wahlkörper, von denen sie gesteht, daß ihre Bestechlichkeit, ihre Abhängigkeit von ein paar Klubs, ihre Unselbständigkeit die Geburtsstätte des jetzigen Unterhauses und darum der jetzigen Regierung sind. Sie will diese exklusiven Körperschaften nicht auflösen, nicht einmal erweitern, sondern nur moralisieren. Warum dann nicht gleich der Oligarchie selbst ins Gewissen reden, statt sie mit Abschaffung ihrer Privilegien zu bedrohen? Es muß jedenfalls eine leichtere Arbeit sein, die oligarchischen Häupter zu bekehren als die oligarchischen Wahlkörper. Die Cityassoziation möchte offenbar eine antiaristokratische Bewegung hervorrufen, aber eine Bewegung innerhalb der Grenzen des legalen (wie Guizot es nannte), des offiziellen England. Und wie gedenken sie den faulen Sumpf <240> dieser Wahlkörper aufzustürmen? Wie sie zur Emanzipation von Interessen und Gewohnheiten zu treiben, die sie zu Vasallen von ein paar vornehmen Klubs machen und zu Grundpfeilern der regierenden Oligarchie? Durch eine Physiologie von Downing Street? Nicht ganz so. Sondern auch durch Druck von außen, durch Massenmeetings und dergleichen. Und wie wollen sie die nichtoffizielle, die nicht wahlfähige Volksmasse in Bewegung setzen, um auf den privilegierten Kreis der Wahlkörper zu wirken? Dadurch, daß sie sie einladen, auf die Volks-Charte (die im Grund nichts enthält als die Forderung des allgemeinen Wahlrechts und die Bedingungen, worunter es allein in England eine Wahrheit werden kann) zu verzichten und die Privilegien dieser nach dem Geständnis der Cityreformer selbst in der Verwesung begriffenen Körperschaften anzuerkennen. Die Cityassoziation hat das Beispiel der "finanziellen und parlamentarischen Reformer" vor sich. Sie weiß, daß diese Bewegung, an deren Spitze Hume, Bright, Cobden, Walmsley, Thompson standen, gescheitert ist, weil sie an die Stelle der Volks-Charte die sogenannte "Kleine Charte" setzten, weil sie bloß Konzessionen an die Volksmasse machen, bloß ein Kompromiß mit ihr schließen wollten. Und sie bilden sich ein, ohne Konzession zu erreichen, was jene trotz der Konzession nicht erreichen konnten? Oder folgern sie aus der Antikorngesetzbewegung, daß es möglich ist, das englische Volk für partielle Reformen in Bewegung zu setzen? Aber der Gegenstand jener Bewegung war sehr allgemein, sehr populär, sehr handgreiflich. Das Symbol der Anti-Corn-Law League war bekanntlich ein großes und breites Laib Brot im Gegensatz zum Diminutivbrot der Protektionisten. Ein Laib Brot, namentlich im Hungerjahre 1846, spricht natürlich einen ganz andern Volksdialekt als eine "Physiologie von Downing Street". Wir brauchen nicht an ein bekanntes Büchlein zu erinnern - "Die Physiologie der City". Hier wird haarscharf gezeigt, daß, so gut die Herren ihr eignes Geschäft treiben mögen, sie in der Verwaltung gemeinschaftlicher Geschäfte, wie aller Assekuranzgesellschaften, mehr oder minder das Muster der offiziellen Downing Street treu befolgen. Ihre Verwaltung der Eisenbahnen mit den schreienden Prellereien, Schwindeleien und der totalen Vernachlässigung für Sicherheitsvorkehrung, ist so berüchtigt, daß mehr als einmal in der Presse, im Parlament und außerhalb des Parlaments die Frage aufgeworfen wurde, ob die Eisenbahnen nicht unter direkte Staatskontrolle zu stellen und den Händen der Privatkapitalisten zu entziehen [seien]! Die Physiologie der Downing Street wird also nichts "tun", wie die Engländer sagen. "This will not do, sir!"