Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 224-227
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 229 vom 19. Mai 1855]
<224> London, 16. Mai. Das Grollen der bürgerlichen Opposition über die Abstimmung im Oberhause bei Gelegenheit von Ellenboroughs Motion ist ein Symptom von Schwäche. Sie mußte umgekehrt die Verwerfung der Motion als einen Sieg feiern. Das Oberhaus, den hohen Rat der Aristokratie zwingen, sich in öffentlicher und feierlicher Debatte mit der bisherigen Art der Kriegführung zufrieden zu erklären, Palmerston als ihren Vorkämpfer und Repräsentanten laut anzuerkennen und bloße fromme Wünsche für administrative Reform, für jede Art von Reform, definitiv zu verwerfen - welch günstigeres Resultat konnten die Feinde der Aristokratie von Ellenboroughs Motion erwarten? Sie mußten vor allem das Haus der Lords, das letzte Bollwerk der englischen Aristokratie, zu diskreditieren suchen. Und sie klagen, daß das Haus der Lords eine vorübergehende Popularität auf Kosten nicht seiner Privilegien, sondern des bestehenden Kabinetts verschmäht? Daß der "Morning Herald" klagt, das Tory-Organ, das Organ aller Vorurteile "unserer unübertrefflichen Konstitution", ist in der Ordnung. Für den "Morning Herald" war es tröstliche Aussicht, nachdem die Whig-Oligarchen während anderthalb Jahrhunderten als Freunde des Bürgertums und des "liberalen Fortschritts fungiert haben, nun die Rolle wechseln und wieder anderthalb Jahrhunderte durch die Tories mit der Rolle der "aristokratischen" Vertreter des Bürgertums und des "liberalen Fortschritts" betraut zu sehen. Der "Morning Herald" hat ein Recht zu klagen, gutes, volles Recht. Aber die bürgerliche Opposition? Bildete sie sich etwa ein, eine gemäßigte Demonstration der Citykaufleute reiche hin, um die Aristokratie zum Selbstmord, zur Abdankung zu zwingen? Aber die Wahrheit ist, daß die Bourgeoisie ein Kompromiß wünscht, daß sie Nachgiebigkeit auf der andern Seite erwartet, um selbst nachgiebig sein zu können, daß sie, wenn möglich, einen wirklichen Kampf <225> vermeiden möchte. Sobald der Kampf wirklich wird, drängt sich "die Million", wie sie die "niedern" Klassen nennen, mit in die Arena, nicht nur als Zuschauer, nicht nur als Schiedsrichter, sondern als Partei. Und das möchte die Bourgeoisie um jeden Preis umgehen. Es war ein ähnlicher Grund, der die Whigs von 1808-1830 aus dem Kabinett entfernt hielt. Sie wollten ihre Gegner herauswerfen um jeden Preis, nur nicht zu dem Preis wirklicher Konzessionen an die Bourgeoisie, ohne deren Beistand die Tories nicht herauszuwerfen waren, nur nicht zu dem Preis einer Parlamentsreform. Wir haben gesehen, in welch zweideutiger, achselzuckender, reservierender, ironisch-nichtssagender Weise Ellenborough und Derby sich zu Parteigängern der bürgerlichen Administrativreform aufwarfen, zugleich mit Händen und Füßen ihre angeblichen Bundesgenossen abwehrend. Wir wollen nun andererseits sehen, wie ängstlich-perfid die reformierenden Handelsherren der City erst jeden Gegensatz von Seiten der Chartisten zu prävenieren und ihr Stillschweigen vorläufig zu sichern suchten, um sie dann aus den ihnen freiwillig eingeräumten Stellungen herauszueskamotieren. In dem Falle der Tories nicht mehr wie dem der Citykaufleute überwiegt die Furcht und Abneigung vor dem angeblichen Alliierten die Feindschaft gegen den angeblichen Gegner. Der Sachverlauf war in kurzem dieser.
Die Administrative Reform-Assoziation fürchtete Opposition von seiten der Chartisten, die in zwei großen Meetings, wie der Leser sich erinnern wird, in St. Martins Hall und Southwark "die Nationale und konstitutionelle Assoziation" aus dem Feld geschlagen und zum Rückzug von dem selbstgewählten Terrain gezwungen hatten. Am 26. April sandten sie Herrn James Acland (früher Anti-Corn-Lew Lecturer <Propagandist gegen die Korngesetze>) in die Wohnung von Ernest Jones, wo er sich als "Gesandter" der Administrativreform-Assoziation ankündigte, die auf die Unterstützung der Chartisten rechne, da es ihr Wunsch sei, die "Klassengesetzgebung" zu vernichten und eine Volksregierung einzuführen. Er lud Ernest Jones zu einer Zusammenkunft für den nächsten Tag mit dem Komitee der besagten Administration ein. Jones erklärte, er sei nicht kompetent, im Namen der chartistischen Partei zu antworten. Er müsse die Zusammenkunft ablehnen, bis er das Londoner Verwaltungskomitee der Chartisten, das sich nächsten Sonntag versammele, konsultiert habe.
Sonntag abend, den 29. April, teilte Jones die ganze Angelegenheit dem Chartistenkomitee mit. Er wurde bevollmächtigt, die Unterhandlung weiter zu führen. Den folgenden Morgen hatte Jones eine Zusammenkunft mit Herrn Ingraham Travers, dem Leiter der Citybewegung, der persönlich <226> Herrn James Acland als autorisierten Agenten und Repräsentanten seiner Partei akkreditierte. Herr I. Travers versicherte Jones, man beabsichtige, eine Volksregierung zu gründen. Die Resolutionen, wie sie in der "Times" gedruckt, seien nur vorläufig; über die Mittel zum Ziele sollte erst das Verwaltungskomitee entscheiden, das in dem London-Tavern-Meeting zu wählen sei. Die Chartisten, als Beweis ihrer Sympathie für die Sache der Administrativreform, sollten einen Sprecher ernennen, der sie bei dem Meeting vertrete. Dieser solle vom Präsidenten aufgerufen werden, um eine der Resolutionen zu unterstützen. Die Chartisten sollten ferner einen Repräsentanten ernennen, der auf dem Tavern-Meeting, auf Vorschlag des provisorischen Komitees der Citykaufleute, zum permanenten Mitglied des Verwaltungsausschusses der Reform-Assoziation ernannt werden würde. Es ward endlich übereingekommen, daß, da Zulassung nur auf Karten hin stattfand, die Chartisten den gebührenden Anteil an diesen Karten erhalten sollten. Jones schlug ab, diese Angelegenheit auf bloß mündlicher Verabredung beruhen zu lassen, und erklärte Herrn Ingraham [Travers], er müsse alle erwähnten Punkte in einem Briefe an das Verwaltungskomitee der Chartisten vorschlagen.
Das geschah. Der Brief, strotzend von Beteuerungen, traf ein. Indes, als die Zeit zur Übersendung der Eintrittskarten herangekommen, trafen nur 12 Karten ein. Auf die Klage des Chartistenkomitees wegen Wortbruchs entschuldigte man sich damit, daß keine Karten übriggeblieben. Indes, wenn das Chartistenkomitee zwei seiner Mitglieder an die Tore der Tavern stationieren wollte, sollten sie Vollmacht erhalten, wen immer sie wünschten, auch ohne Einlaßkarten zuzulassen. Die Herren Slocombe und Workman wurden zu diesem Behufe von den Chartisten erwählt und erhielten ihre Vollmachten von Herrn Travers. Um allen Verdacht zu entfernen, sandte die Administrativreform-Assoziation noch am Tage des Meetings, einige Stunden vor seiner Eröffnung, einen Spezialboten mit einem Briefe an Jones, um ihn zu erinnern, daß der Präsident ihn auffordern werde, die 4. Resolution zu unterstützen, und daß er dem Meeting zum Mitglied des Verwaltungsausschusses vorgeschlagen werden würde in seiner Eigenschaft als Repräsentant der Chartisten.
Eine Stunde ungefähr vor Eröffnung des Meetings waren große Massen von Chartisten vor der Tavern versammelt. Sobald die Tore eröffnet, wurde den Herren Slocombe und Workrnan verboten, irgend jemand ohne Karten zuzulassen. Acht Karten wurden widerwillig ausgeteilt, um Aufschub zu verschaffen in einem Augenblicke, wo der Andrang von außen ernsthaft zu werden schien. Der Aufschub wurde benutzt, um eine in einer Neben- <227> straße bereitstehende Abteilung Polizei einzuschieben. Von diesem Augenblick ward niemand mehr zugelassen außer "den bekannten Kaufleuten und Bankiers". Ja, Leute in Arbeitertracht, in den bekannten Samtjacken, wurden abgewiesen, selbst wenn sie mit Einlaßkarten versehen waren. Um die in der Straße harrende Arbeitermasse zu täuschen, wurden die Türen plötzlich geschlossen und Zettel angeschlagen des Inhalts: "Die Halle ist voll. Es kann niemand mehr herein." Zu dieser Zeit war aber die Halle noch nicht halb gefüllt, und "Gentlemen", die in ihren Wagen vorfuhren, wurden zugelassen durch die Fenster und vermittels einer Hintertür durch die Küche. Die Arbeitermasse zerstreute sich ruhig, da sie von dem Verrat nichts ahnte. Obgleich Ernest Jones während des Meetings sein "Plattformticket" vorwies, wurde er nicht zur Tribüne und natürlich noch weniger zum Sprechen zugelassen. Die Assoziation hatte zwei Zwecke erreicht - die Opposition der Chartisten zu verhindern und auf die Masse in der Straße als ihren Anhang zeigen zu können. Aber sie sollte auch nur in der Straße als Statist figurieren.
Ernest Jones, in einem Aufruf an die Arbeiter Englands, erzählt den Verlauf dieser Intrigenkomödie und wirft der Administrativreform-Assoziation den Fehdehandschuh hin im Namen der Chartisten.