Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 220-223
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Oberhaussitzung


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 228 vom 19. Mai 1855]

<220> London, 15. Mai. Die Galerien des Hauses der Lords waren gestern nachmittag schon vor Eröffnung der Sitzung vollgepfropft. Es war ein Spektakelstück angezeigt - Lord Ellenboroughs Motion und eine reguläre Schlacht zwischen den Ins und Outs <Regierung und Opposition>. Zudem war es pikant, mit eignen Augen anzuschauen, wie die erblichen Gesetzmacher die Rolle von Kreuzfahrern gegen die Aristokratie spielen würden. Die Aufführung war schlecht. Die Schauspieler fielen beständig aus der Rolle. Das Stück begann mit dem Drama und endete mit der Farce. Während des Scheingefechts wurde nicht einmal die Illusion, die künstlerische Illusion gewahrt. Den edlen Kämpfern sah man auf den ersten Blick an, daß sie nicht nur sich selbst, sondern sogar die Waffen, womit sie kämpften, wechselseitig unversehrt zu erhalten suchten.

Soweit die Debatte sich um die Kritik der bisherigen Kriegführung drehte, erhob sie sich nicht auf die Höhe des ersten besten Debating-Club <Debattierklubs> von London, und es wäre reine Zeitverschwendung, sich hier einen Augenblick aufzuhalten. Mit wenigen Strichen aber wollen wir andeuten, wie die edlen Lords als Vorkampfer der administrativen Reform, als Gegner des aristokratischen Regierungsmonopols und als Echo der Citymeetings sich gebarten. "Der rechte Mann an den rechten Platz!", rief Lord Ellenborough. Und zum Beweis, wie dem Verdienste und nur dem Verdienste seine Kronen gebühren, führte er an, wie er (Ellenborough) und Lord Hardwicke im Oberhaus säßen, weil ihre Väter sich durch eignes Verdienst den Weg in das Pairshaus gebahnt. Es war dies, wie es scheint, gerade umgekehrt eine Instanz, wie man durch fremdes Verdienst, das seiner Väter, es für Lebenszeit nicht nur zu einem <221> Posten, sondern gar zur Würde eines Gesetzgebers von England bringen kann. Und welches waren die Verdienste, wodurch der Lord-Chief justice of the Queen's Bench <Präsident des Oberhofgerichts>, der alte Ellenborough, und Herr Charles Yorke, der Vater Lord Hardwickes, sich den Weg ins Oberhaus bahnten? Die Historie ist instruktiv. Der verstorbene Ellenborough, englischer Advokat, dann Richter, wußte sich in den unter Pitt und Nachfolgern schwebenden Preßprozessen, Verschwörungsprozessen, Mouchardprozessen den Ruf eines Jeffreys en miniature zu verschaffen. Unter seiner Leitung erlangte die Spezialjury in England einen Ruf, wie ihn selbst die "jurés probes et libres" <"ehrlichen und freien Gerichte"> unter Louis-Philippe nie besessen. Das war das Verdienst des alten Ellenborough, und das bahnte ihm den Weg ins Haus der Lords. Was Herrn Charles Yorke, den Vorfahren Lord Hardwickes, betrifft, so läuft er dem alten Ellenborough den Rang ab in bezug auf das Verdienst. Dieser Charles Yorke, zwanzig Jahre lang Parlamentsmitglied für Cambridge, war einer der Auserwählten, denen Pitt, Perceval und Liverpool überließen "to do the dirty work for them" <"die schmutzige Arbeit für sie zu tun">. Jede der "loyalen" Schreckensmaßregeln jener Zeit fand in ihm ihren Pindar. In jeder Petition gegen den offen betriebenen Stellenverkauf im Hause der Gemeinen erkannte er "jakobinische Umtriebe". Jede Motion gegen das schamlose Sinekurenwesen zu einer Zeit, wo der Pauperismus in England zur Welt kam, denunzierte Charles Yorke als Attentat auf "die gesegneten Komforts unserer heiligen Religion". Und bei welcher Gelegenheit feierte dieser Charles Yorke seine Himmelfahrt ins Oberhaus? Im Jahre 1810 hatte die Walcheren-Expedition ähnliche Wirkungen in England hervorgebracht wie im Jahre 1855 die Krimexpedition. Lord Porchester stellte im Unterhause den Antrag, ein Untersuchungskomitee niederzusetzen. Charles Yorke opponierte heftig, sprach von Verschwörungen, Erregung von Unzufriedenheit u.dgl. Nichtsdestoweniger ging Porchesters Antrag durch. Aber nun beschloß Yorke, dem Publikum die Untersuchungsakten zu entziehen, indem er, auf ein altes, albernes Parlamentsprivilegium gestützt, darauf bestand, daß die öffentlichen Tribünen von Zuhörern und Berichterstattern gesäubert würden. Das geschah. Ein Herr Gale Jones, Präsident eines Londoner Debating-Club, veröffentlichte dann eine Anzeige, worin es hieß, daß in der nächsten Sitzung des Klubs die Verletzung der Preßfreiheit und die grobe Beschimpfung der öffentlichen Meinung durch Charles Yorke zur Diskussion kommen würde. Charles Yorke ließ den Gale Jones nun wegen Beleidigung eines Parlamentsmitglieds und Bruchs der "Privilegien des Parlaments" vor das Unterhaus <222> zitieren, von wo er, im Widerspruch mit allen englischen Gesetzen, ohne weiteres, ohne Untersuchung, ohne Verweisung an einen Richter, in das Newgate-Gefängnis transportiert wurde, "dort gefangengehalten zu werden, solange es den Gemeinen beliebe". Während Charles Yorke diese Heldentaten verrichtete, gab er sich große Airs <Anschein> von Unabhängigkeit. Er handle nur als biederer "Landedelmann", als des "Königs Freund", als "loyaler Antijakobiner" Es verflossen indes nicht 3 Wochen, seit er die Galerie hatte schließen lassen, als bekannt wurde, daß er unterdes dem Ministerium Perceval seine Rechnung eingesandt und die lebenslängliche Sinekure eines Teller of the Exchequer <Zahlmeisters der Schatzkammer> (ähnlich wie die "des Wächters vom grünen Wachse"), d.h. eine lebenslängliche Pfründe von jährlich 2.700 Pfd.St. sich erhandelt hatte. Wegen Annahme dieser Sinekure mußte Charles Yorke sich einer Neuwahl vor seinen Konstituenten von Cambridge unterziehen. Auf dem Wahlmeeting ward er mit Zischen, Grunzen, faulen Äpfeln und Eiern begrüßt und sah sich genötigt, auszureißen. Zum Schadenersatz erhob ihn Perceval in die Pairswürde. So ward Charles Yorke in einen Lord metamorphosiert und so, lehrt Lord Ellenborough den Lord Palmerston, muß das Verdienst sich seine Bahn brechen können in einem wohlgeregelten Staatshaushalt. Diese höchst naiven und charakteristischen Lapsus linguae <Schnitzer> abgerechnet, hielt sich Ellenborough, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Ritter von der traurigen Gestalt besitzt, mehr in der Phraseologie der Citymeetings.

Sein Freund Derby bemühte sich, selbst die rein rhetorische Konzession einzuschränken. Er wies das Gerücht ab, sich mit Layard alliiert zu haben. Er, dessen ganzes Talent in der Diskretion besteht, klagte Layard der Indiskretion an. Es sei viel Wahres in den Ansichten der Citymänner, aber sie seien zu extravaganten (!!) Schlußfolgerungen fortgegangen. Ein Minister müsse seine Kollegen im Parlament suchen und nicht nur im Parlament, sondern in der Partei, der er angehöre, und nicht nur in dieser Partei, sondern unter dem Kreise der parlamentarisch einflußreichen Männer seiner Partei. Innerhalb dieses Kreises allerdings, solle die Fähigkeit entscheiden, und das sei bis jetzt oft versäumt worden. Der Fehler, meinte Derby, liege in der Parlamentsreform von 1831. Man habe die "faulen Flecke", die "rotten boroughs" vertilgt, und gerade diese faulen Flecke hätten die gesunden Staatsmänner Englands geliefert. Sie hätten es einflußreichen Männern möglich gemacht, talentvolle, aber unbemittelte junge Leute ins Parlament und von da in den Staatsdienst zu bringen. Also selbst nach Lord Derby ist eine Administrationsreform möglich ohne Parlamentsreform - nur Parlaments- <223> reform im umgekehrten Sinne, Restauration der "faulen Flecke". Die Klage Derbys scheint nicht ganz begründet, wenn man erwägt, daß 85 Sitze im Hause der Gemeinen noch immer einigen 60 kleinen "rotten boroughs" angehören (in England allein), von denen keines über 500 Einwohner zählt und einige zwei Deputierte ernennen.

Lord Panmure, im Namen des Ministeriums, brachte die Oberhausdebatte auf ihren wahren Punkt. Ihr wollt, stotterte er, das Geschrei außerhalb der Parlamentsmauern exploitieren, um uns aus dem Ministerium heraus- und euch selbst hineinzudeklamieren. Warum bildete Derby kein Ministerium vor 3 Monaten, als er den Auftrag der Königin erhielt? Ja, erwiderte Derby schmunzelnd, vor 3 Monaten! Seit 3 Monaten haben sich die Dinge geändert. Lord Palmerston war vor 3 Monaten der homme à la mode <begehrte Mann>, der große, der unentbehrliche Staatsmann. Palmerston hat sich ausgespielt, und nun ist die Reihe an uns.

Die Debatte im Oberhause hat gezeigt, daß hier auf keiner Seite der Stoff ist, um Männer daraus zu schneiden. Was aber das Unterhaus betrifft, so bemerkte Ellenborough mit Recht, daß es abgedroschen, daß es seinen Kredit verloren hat und daß der politische Einfluß nicht mehr innerhalb, sondern außerhalb des Hauses zu suchen ist.

Die Debatten im Oberhause zeigten klar die mala fides <schlechten Absichten> der aristokratischen Opposition, die die bürgerliche Bewegung gleichzeitig zu eskamotieren und als Mauerbrecher gegen das Ministerium zu benutzen gedenkt. In einem folgenden Briefe werden wir Gelegenheit haben, ebenso die mala fides der Cityreform gegen die Arbeiterklasse zu beweisen, mit der sie ganz ebenso zu spielen gedenken wie die aristokratische Opposition mit ihnen. Man würde daraus den Schluß ziehen, daß die jetzige Bewegung in England durchaus komplizierter Natur ist und, wie wir früher andeuteten, gleichzeitig zwei entgegengesetzte und feindliche Bewegungen in sich einschließt.