Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 193-199
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Deutschland und der Panslawismus

Geschrieben um den 17. April 1855.


I

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 185 vom 21. April 1855]

<193> Es wird aus bester Quelle versichert, daß der jetzige Kaiser von Rußland gewissen Höfen eine Depesche hat zukommen lassen, worin es u.a. lautet:

"Den Augenblick, wo Österreich sich unwiderruflich mit dem Westen alliiere oder irgendeinen offen feindlichen Akt gegen Rußland begehe, werde Alexander II. sich selbst an die Spitze der panslawistischen Bewegung stellen und seinen jetzigen Titel: Kaiser aller Reußen in den eines Kaisers aller Slawen verwandeln" (?).

Diese Erklärung Alexanders, wenn authentisch, ist das erste gerade Wort seit Beginn des Krieges. Es ist der erste Schritt, dem Kriege den europäischen Charakter zu geben, der bisher hinter allen Arten von Vorwänden und Vorgeben, Protokollen und Verträgen lauerte, Paragraphen aus Vattel und Zitationen aus Pufendorf. Die Unabhängigkeit, ja die Existenz der Türkei ist damit in den Hintergrund gedrängt. Es fragt sich nicht länger, wer in Konstantinopel regieren, sondern wer ganz Europa beherrschen soll. Die slawische Race <Stamm, Geschlecht>, lang geteilt durch innere Zwiste, nach dem Osten zurückgetrieben durch die Deutschen, unterjocht, zum Teil von Deutschen, Türken und Ungarn, still ihre Zweige wiedervereinend, nach 1815, durch das allmähliche Wachstum des Panslawismus, sie versichert nun zum erstenmal ihre Einheit und erklärt damit Krieg auf den Tod den römisch-keltischen und deutschen Racen, die bisher in Europa geherrscht haben. Panslawismus ist eine Bewegung nicht nur für nationale Unabhängigkeit; er ist eine Bewegung, die ungeschehen zu machen strebt, was eine Geschichte von tausend Jahren geschaffen hat, die sich nicht verwirklichen kann, ohne die Türkei, Ungarn und eine Hälfte Deutschlands von der Karte von Europa wegzufegen, die, sollte <194> sie dies Resultat erreichen, seine Dauer nicht sichern kann außer durch die Unterjochung Europas. Panslawismus hat sich jetzt umgewandelt aus einem Glaubensbekenntnis in ein politisches Programm, mit 800.000 Bajonetten zu seiner Verfügung. Er läßt Europa nur eine Alternative: Unterjochung durch die Slawen oder Zerstörung für immer des Zentrums ihrer Offensivkraft - Rußlands.

Die nächste Frage, die wir zu beantworten haben: wie ist Österreich affiziert durch den von Rußland uniformierten Panslawismus? Von den siebzig Millionen Slawen, die östlich vom böhmischen Wald und den kärntischen Alpen leben, sind ungefähr 15 Millionen dem österreichischen Szepter unterworfen, einschließend die Repräsentanten fast jeder Abart slawischer Sprache. Der böhmische oder tschechische Stamm (6 Millionen) fällt ganz unter österreichische Oberherrschaft; der polnische ist repräsentiert durch ungefähr 3 Millionen Galizier; der russische durch 3 Millionen Malorussen (Rotrussen, Ruthenen) in Galizien und dem Nordosten von Ungarn - der einzige russische Stamm außer dem Bereich des russischen Kaisertums; der südslawische Stamm durch ungefähr 3 Millionen Slowenen (Kärntner und Kroaten) und Serben mit Einschluß von zerstreuten Bulgaren. Die österreichischen Slawen zerfallen so in zwei Klassen: Ein Teil davon besteht aus Trümmern von Nationalitäten, deren eigne Geschichte der Vergangenheit angehört und deren gegenwärtige historische Entwickelung an die von Nationen verschiedener Race und Sprache gebunden ist. Um ihre mißliche nationale Lage zu vollenden, besitzen diese traurigen Trümmer früherer Größe nicht einmal eine nationale Organisation innerhalb Österreichs, sondern sind vielmehr unter verschiedene Provinzen verteilt. Die Slowenen, obgleich kaum 1.500.000, sind zerstreut über die verschiedenen Provinzen von Krain, Kärnten, Steiermark, Kroatien und das südwestliche Ungarn. Die Böhmen, obgleich der zahlreichste Stamm unter den österreichischen Slawen, sind teils in Böhmen angesiedelt, teils in Mähren und teils (die slowakische Linie) im nordwestlichen Ungarn. Diese Nationalitäten daher, obgleich ausschließlich auf österreichischem Boden lebend, sind keineswegs anerkannt als verschiedene Nationen konstituiert. Sie werden betrachtet als Anhängsel entweder der deutschen oder der ungarischen Nation, und in der Tat: sie sind weiter nichts. Die zweite Klasse der österreichischen Slawen besteht aus Bruchstücken verschiedener Stämme, die im Lauf der Geschichte vom großen Körper ihrer Nation getrennt worden sind und deren Schwerpunkt daher außerhalb Österreichs liegt. So haben die österreichischen Polen ihr natürliches Gravitätszentrum in Russisch-Polen, die Ruthenen in den andern mit Rußland vereinigten malorussischen Provinzen und die Serben im türkischen Serbien. <195> Daß ihre von ihren resp. Nationalitäten abgelösten Fragmente nach ihrem natürlichen Zentrum hin gravitieren, versteht sich von selbst und wird augenfälliger, je mehr Zivilisation und daher das Bedürfnis nationalhistorischer Tätigkeit sich unter ihnen verbreitet. In beiden Fällen sind die österreichischen Slawen nur disjecta membra <zerstreute Glieder>, die nach ihrer Wiedervereinigung streben, entweder untereinander oder mit dem Hauptkörper ihrer besonderen Nationalitäten. Dies ist der Grund, warum der Panslawismus nicht eine russische, sondern eine österreichische Erfindung ist. Um die Restauration jeder besonderen slawischen Nationalität zu sichern, beginnen die verschiedenen slawischen Stämme in Österreich für eine Verbindung aller slawischen Stämme in Europa zu arbeiten. Rußland, stark in sich selbst, Polen, selbst im Sinne unbesiegbarer Zähigkeit des nationalen Lebens sich bewußt und zudem in offener Feinschaft gegen das slawische Rußland - diese beiden Nationen waren offenbar nicht dazu berufen, den Panslawismus zu erfinden. Die Serben und Bulgaren der Türkei aber waren zu barbarisch, um eine solche Idee zu fassen; die Bulgaren unterwerfen sich ruhig den Türken, die Serben hatten genug zu tun mit dem Kampf für ihre eigene Unabhängigkeit.

II

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 189 vom 24. April 1855]

Die erste Form des Panslawismus war eine rein literarische. Dobrovsky, ein Böhme, der Gründer der wissenschaftlichen Philologie der slawischen Dialekte, Kollár, ein slowakischer Poet von den ungarischen Karpaten, waren seine Erfinder. Bei Dobrovsky war es der Enthusiasmus des wissenschaftlichen Entdeckers, bei Kollár wurden politische Ideen bald vorherrschend. Aber noch befriedigte sich der Panslawismus in der Elegie, und die Größe der Vergangenheit, die Schmach, das Unglück und die fremdländische Unterdrückung der Gegenwart waren das Hauptthema seiner Poesie. "Ist denn, O Gott, kein Mann auf Erden, der dem Slawen Recht widerfahren lassen will?" Die Träume von einem panslawischen Reich, Europa Gesetze diktierend, wagten sich damals kaum noch anzudeuten. Aber die Jammerperiode schwand bald vorüber und mit ihr der Schrei für bloße "Gerechtigkeit für den Slawen". Historische Forschung, umfassend die politische, <196> literarische und linguistische Entwicklung der slawischen Race, machte Riesenfortschritte in Österreich. Schafarik, Kopitar und Miklosich als Linguisten, Palacký als Geschichtsschreiber stellten sich an die Spitze, gefolgt von einem Schwarm anderer von weniger oder gar keiner wissenschaftlichen Begabung, wie Hanka, Gaj etc. Die glorreichen Epochen der böhmischen und serbischen Geschichte wurden in glühenden Farben geschildert im Kontrast zu der erniedrigten und gebrochenen Gegenwart dieser Nationalitäten; und gerade wie im übrigen Teil von Deutschland unter dem Schutze der "Philosophie" Politik und Theologie der Kritik unterworfen wurden, so wurde in Österreich, unter den Augen Metternichs, die Philologie von den Panslawisten benutzt, um die Lehre von der slawischen Einheit zu predigen und eine politische Partei zu schaffen, deren unverkennbares Ziel: die Verhältnisse aller Nationalitäten in Österreich umzuwälzen und es selbst in ein großes slawonisches Reich zu verwandeln.

Die Sprachverwirrung, die östlich von Böhmen und Kärnten bis zum Schwarzen Meere herrscht, ist wahrhaft erstaunlich. Der Prozeß der Entnationalisierung unter den an Deutschland angrenzenden Slawen, das langsame, aber ununterbrochene Fortschreiten der Deutschen, der Einfall der Ungarn, der Nord- und Südslawen schied durch eine kompakte Masse von 7 Millionen finnischer Race, das Zwischenschieben von Türken, Tartaren, Walachen mitten unter die slawischen Stämme, brachte ein sprachliches Babel hervor. Von Dorf zu Dorf, beinahe von Pachthof zu Pachthof, variiert die Sprache. Böhmen selbst zählt unter 5 Millionen Einwohnern 2 Millionen Deutsche neben 3 Millionen Slawen, außerdem auf drei Seiten von den Deutschen umringt. Dasselbe ist der Fall mit den österreichisch-slawonischen Stämmen. Allen ursprünglich slawischen Grund und Boden den Slawen zurückerstatten, Österreich, mit Ausnahme Tirols und der Lombardei, in ein slawonisches Reich verwandeln, was die Panslawisten bezweckten, hieß null und nichtig erklären die historische Entwicklung der letzten tausend Jahre, ein Drittel von Deutschland abschneiden und ganz Ungarn und Wien und Budapest in slawische Städte verwandeln - eine Verfahrungsart, womit die diese Distrikte besitzenden Deutschen und Ungarn nicht gerade sympathisteren konnten. Zudem ist die Verschiedenheit zwischen den slawischen Dialekten so groß, daß sie mit wenigen Ausnahmen sich wechselseitig unverständlich sind. Dies wurde in komischer Weise bewiesen auf dem Slawenkongreß zu Prag 1848, wo, nach verschiedenen und nutzlosen Versuchen, eine allen Mitgliedern verständliche Sprache auszufinden, sie schließlich die Sprache sprechen mußten, die ihnen allen die meist verhaßte war - die deutsche.

<197> Wir sehen so, daß dem österreichischen Panslawismus die wesentlichsten Elemente des Erfolgs fehlten: Masse und Einheit. Masse, weil die panslawistische Partei, auf einen Teil der gebildeten Klassen beschränkt, keinen Einfluß auf das Volk besaß und daher nicht die Kraft, gleichzeitig der österreichischen Regierung Widerstand zu leisten und den deutschen und ungarischen Nationalitäten, die sie in die Schranken forderte. Einheit, weil ihr Einheitsprinzip ein rein ideales war, das bei dem ersten Versuch zur Verwirklichung durch die Tatsache der Sprachverschiedenheit gebrochen wurde. Solange der Panslawismus eine rein österreichische Bewegung blieb, bot er keine große Gefahr, aber das Zentrum der Einheit und Masse, dessen er bedurfte, wurde sehr bald für ihn gefunden.

Die Nationalbewegung der türkischen Serben im Beginn dieses Jahrhunderts lenkte bald die Aufmerksamkeit der russischen Regierung auf die Tatsache, daß einige 7 Millionen Slawen die Türkei bewohnten, deren Sprache vor allen andern slawischen Dialekten der russischen glich, deren Religion und heilige Sprache - Alt- oder Kirchenslawonisch - vollständig dieselbe war wie die der Russen. Es war unter diesen Serben und Bulgaren, daß Rußland zum erstenmal eine panslawistische Agitation begann, unterstützt durch Rußlands Stellung als Haupt und Protektor der griechischen Kirche. Als die panslawistische Bewegung in Österreich einigen Boden gewonnen hatte, dehnte Rußland sehr bald die Verzweigungen seiner Agenturen auf das Gebiet seines Alliierten aus. Wo es auf römisch-katholische Slawen stieß, wurde die religiöse Seite der Frage fallengelassen und Rußland bloß hingestellt als Gravitationszentrum der slawischen Race, als der Kern, um den sich die regenerierten slawischen Stämme kristallisieren, als das starke und einige Volk, berufen zur Verwirklichung des großen Slawenreichs von der Elbe bis China und vom Adriatischen bis zum Eismeer. Hier also war die mangelnde Einheit und Masse gefunden! Der Panslawismus fiel sofort in die Falle. Er sprach so sein eignes Urteil. Um eingebildete Nationalitäten neu zu behaupten, erklärten sich die Panslawisten bereit, eine 800jährige faktische Teilnahme an der Zivilisation russisch-mongolischer Barbarei zu opfern. War das nicht das naturgemäße Resultat einer Bewegung, die mit einer entschiedenen Reaktion gegen den Gang der europäischen Zivilisation begann und die Weltgeschichte zurückdämmen wollte?

Metternich, in den besten Jahren seiner Macht, erkannte die Gefahr und durchschaute die russischen Intrigen. Er unterdrückte die Bewegung mit allen zu seiner Verfügung stehenden Mitteln. Alle seine Mittel jedoch faßten sich in einem Worte zusammen: Repression. Die einzig geeigneten Mittel: Freie Entwicklung des deutschen und ungarischen Geistes, mehr als hin- <198> reichend, das slawische Gespenst zu verscheuchen, paßte nicht in das System seiner kleinen Politik. Folglich, nach Metternichs Sturz, 1848, brach die slawische Bewegung aus, stärker als je und weitere Schichten der Bevölkerung umfassend als je zuvor. Aber hier kam sofort ihr gründlich reaktionärer Charakter ans Tageslicht. Während die deutschen und ungarischen Bewegungen in Österreich entschieden progressiv, waren es die Slawen, die das alte System vor Zerstörung retteten, Radetzky befähigten, auf den Mincio vorzumarschieren und Windischgrätz, Wien zu erobern. Um die Abhängigkeit Österreichs von der slawischen Race zu vollenden, hatte 1849 die große slawische Reserve, die russische Armee, nach Ungarn herabzusteigen und dort Frieden für es zu diktieren.

Aber wenn die Adhäsion der panslawischen Bewegung an Rußland ihre Selbstverurteilung war, erkannte Österreich nicht minder seinen Mangel an Lebensfähigkeit durch die Annahme, ja Herausforderung dieser slawischen Hilfe gegen die drei einzigen Nationen in seinen Besitzungen, die historische Lebenskraft besitzen und beweisen: Deutsche, Italiener und Ungarn. Stets seit 1848 hielt diese Schuld an den Panslawismus Österreich nieder, und das Bewußtsein derselben war die Hauptspringfeder der österreichischen Politik.

Das erste, was Österreich tat, war, gegen die Slawen auf seinem eigenen Gebiet zu reagieren, und das war nur möglich durch eine teilweis wenigstens progressive Politik. Die Privilegien aller Provinzen wurden gebrochen, eine zentralisierte Administration trat an die Stelle einer föderativen; und statt der verschiedenen Nationalitäten sollte eine künstliche, die österreichische, allein anerkannt werden. Obgleich diese Neuerungen teilweise auch gegen die deutschen, italienischen und ungarischen Elemente gerichtet waren, fielen sie doch mit der größten Wucht auf die weniger kompakten slawischen Stämme und gaben dem deutschen Element ein beträchtliches Übergewicht. Wenn so die Abhängigkeit von den Slawen im Innern beseitigt war, blieb die Abhängigkeit von Rußland und die Notwendigkeit, für einen Augenblick wenigstens und in einem gewissen Grade, diese direkte und erniedrigende Abhängigkeit zu brechen. Das war der wirkliche Grund der zwar schwankenden, aber wenigstens öffentlich proklamierten antirussischen Politik Österreichs in der orientalischen Frage. Andererseits ist der Panslawismus nicht verschwunden; er ist tief verletzt, grollt, schweigt und blickt seit der ungarischen Intervention auf den Kaiser von Rußland als seinen prädestinierten Messias. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, ob Österreich, sollte Rußland offen als Haupt des Panslawismus hervortreten, mit Konzessionen an Ungarn und Polen antworten kann, ohne seine Existenz zu gefährden. Soviel ist gewiß, es ist jetzt nicht mehr Rußland allein, es ist die panslawistische <199> Verschwörung, die ihr Reich auf den Ruinen von Europa zu gründen droht. Die Vereinigung aller Slawen wird bald durch die unleugbare Stärke, die sie besitzt und erhalten kann, die Seite, die ihr gegenübersteht, zwingen, in einer durchaus anderen Form als bisher zu erscheinen. Wir haben bei dieser Gelegenheit weder von den Polen gesprochen - zu ihrer Ehre meist entschieden feindlich dem Panslawismus - noch von der angeblich demokratischen und sozialistischen Form des Panslawismus, die sich im Grunde nur durch ihre Phraseologie und Heuchelei von dem gemeinen, ehrlichen, russischen Panslawismus unterscheidet. Wir haben ebensowenig von der deutschen Spekulation gesprochen, die aus sublimierter Unwissenheit zum Organ der russischen Verschwörung herabgesunken ist. Wir werden ausführlich auf diese und andere mit dem Panslawismus zusammenhängenden Fragen zurückkommen.