Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 184-188
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 177 vom 17. April 1855]
<184> London, 14. April. Das Publikum, selbst in Frankreich, scheint hinter die Mysterien der Belagerung von Sewastopol gekommen zu sein. Louis Bonaparte daher, in seiner Eigenschaft als Redakteur en chef <Chefredakteur> des "Moniteur", hat wieder einen langen Leitartikel über diesen Gegenstand losgelassen. Verschiedene Zwecke sollen damit erreicht werden: im allgemeinen das Publikum zu trösten über den Nichterfolg des Unternehmens; im besondern die Verantwortlichkeit für den Fehlschlag von den Schultern des Nachfolgers Napoleons abzuwälzen; im einzelnen auf das Brüsseler Pamphlet zu antworten. In jenem halb vertraulichen, halb würdevollen Stil, charakteristisch für den Mann, der gleichzeitig für die französischen Bauern und die europäischen Kabinette schreibt, wird eine Art Geschichte des Feldzugs gegeben mit angeblichen Gründen für jeden Schritt. Das Dokument ist im höchsten Grade unpolitisch, weil es über alle Maßen schwach und unzureichend ist. Indes muß der "pressure from without" <"Druck von außen"> bedenklich stark sein, wenn Bonaparte in dieser Weise vorzutreten und sich selbst zu verteidigen hat.
Nach einer schleppenden Einleitung wird ein Teil der Instruktionen, die S[ain]t-Arnaud beim Beginn des Feldzuges erhielt, mitgeteilt und auseinandergesetzt, warum die alliierten Truppen zuerst nach Gallipoli gebracht wurden. Die Russen, heißt es, konnten die Donau bei Rustschuk überschreiten und, die Linien von Varna und Schumla umgehend, den Balkan passieren und auf Konstantinopel marschieren. Von allen Gründen, die für die Landung bei Gallipoli sprechen sollten, ist dies der schlechteste. Erstens ist Rustschuk eine Festung und nicht eine offene Stadt, wie der erlauchte Herausgeber des "Moniteur" sich einzubilden scheint. Es erinnert dies an den <185> historischen Schnitzer, den der "Moniteur" neulich in seinem Nekrolog des Kaisers Nikolaus beging, worin u.a. der Vertrag mit Adrianopel mit dem Vertrag von Kütschük-Kainardschi verwechselt wird. Was die Gefahr eines solchen russischen Flankenmarsches betrifft, so mag daran erinnert werden, daß eine türkische Armee von 60.000 Mann, fest etabliert zwischen 4 starken Festungen, nicht ungestraft zurückgelassen werden konnte, ohne ein starkes Korps zu ihrer Beschäftigung zu detachieren; daß dieser Flankenmarsch die Russen in den Bergschluchten des Balkans dem Schicksal Duponts bei Baylen und Vandammes bei Kulm aussetzte und daß sie im besten Fall nur 25.000 Mann nach Adrianopel bringen konnten. Wer eine solche Armee als gefährlich für Konstantinopel betrachtet, kann sich eines Besseren belehren aus den Werken des Majors Moltke über den Russisch-Türkischen Krieg von 1828/1829. Hören wir weiter. Falls Konstantinopel nicht gefährdet war, sollten die Alliierten einige Divisionen nach Varna vorschieben, um jeden Versuch auf eine Belagerung von Silistria zurückzuweisen. Dies geschehen, boten sich zwei weitere Operationen dar: in der Nähe von Odessa landen oder sich der Krim bemächtigen. Beide waren von den alliierten Generalen auf dem Fleck in Erwägung zu ziehn. Die Instruktionen enden mit einigen gesunden militärischen Ratschlägen in der Form von Maximen und Apophthegmen:
"Haltet euch stets von dem unterrichtet, was der Feind tut. Haltet eure Truppen zusammen, teilt sie nicht; aber wenn ihr sie teilen müßt, richtet es so ein, daß ihr sie auf einem gegebenen Punkt in 24 Stunden wieder vereinigen könnt etc."
Alles dies in der Tat sehr wertvolle Regeln des Betragens, aber so fürchterlich abgedroschen, so unbeschreiblich gemeinplätzlich, daß man sofort schließen muß, St-Arnaud habe in den Augen seines Meisters für einen vollkommenen Ignoranten gegolten, um solch guten Rates zu bedürfen. Und plötzlich brechen die Instruktionen unerwartet damit ab:
"Sie besitzen mein volles Vertrauen, Marschall! Gehen Sie, denn ich bin sicher, daß unter Ihrer erfahrenen Leitung der französische Adler neuen Ruhm erbeuten wird."
Was den Hauptpunkt betrifft, die Krimexpedition, so gesteht Bonaparte, daß sie sein Favoritplan war und daß er später mit Bezug auf sie einen zweiten Pack Instruktionen an St-Arnaud sandte. Aber er leugnet, den Plan in seinem Detail ausgearbeitet und ins Hauptquartier gesandt zu haben. Ihm zufolge blieb den Generalen offen, die Landung bei Odessa vorzuziehen. Zum Beweis wird eine Stelle aus diesen neuen Instruktionen mitgeteilt. Bonaparte schlägt <186> darin eine Landung bei Feodosia (Kaffa) vor in Anbetracht des sichern und geräumigen Ankerplatzes, den es biete für die Flotten, die stets die Operationsbasis der Armee bilden müßten. Was eine Operationsbasis ist, hatte er schon in der ersten Instruktion dem berühmten Marschall auf das weitläufigste und elementarste verständlich zu machen gesucht. Von diesem Punkte - Kaffa - sollte die Armee auf Simferopol marschieren, die Russen auf Sewastopol werfen, vor dessen Wällen wahrscheinlich eine Schlacht stattfinden würde, und schließlich Sewastopol belagern. "Unglücklicherweise" wurde dieser Plan nicht befolgt von den alliierten Generalen! Dieser "unglückliche" Umstand ist um so glücklicher, als er Bonaparte erlaubt, die ganze Verantwortlichkeit für die verdrießliche Affäre abzuschütteln und auf die Schultern der Generale abzuwälzen. Der Plan, mit 60.000 Mann bei Kaffa zu landen und von da auf Sewastopol zu marschieren, ist in der Tat originell. Als allgemeine Regel angenommen, daß die Offensivkraft einer Armee in feindlichem Lande wenigstens in demselben Verhältnisse abnimmt, worin die Entfernung von ihrer Operationsbasis zunimmt, wieviel Mann würden die Alliierten nach Sewastopol gebracht haben nach einem Marsche von mehr als 120 Meilen? Wieviel Mann hätten in Kaffa zurückgelassen werden müssen? Wie viele, um Zwischenpunkte zu behaupten und zu befestigen? Wie viele, um Transporte zu beschützen und das Land zu säubern? Nicht 20.000 Mann hätten unter den Wällen einer Festung konzentriert werden können, die dreimal diese Zahl zu ihrer bloßen Blockade erheischt. Wenn Bonaparte je selbst in den Krieg zieht und ihn nach diesen Prinzipien führt, so wird jedenfalls dieselbe Familie den erstaunlichsten Antagonismus in der Kriegsgeschichte repräsentieren.<1> Was das sichere Ankern bei Kaffa betrifft, so weiß jeder Matrose im Schwarzen Meer und zeigt jede Schiffskarte, daß Kaffa eine offene Reede mit Schutz bloß gegen Nord- und Westwinde ist, während die gefährlichsten Stürme im Schwarzen Meere von Südost- und Südwestwinden drohen. So z.B. der Sturm vom 14. November. Hätten die Flotten damals bei Kaffa vor Anker gelegen, so wären sie unstreitig auf die Windseite geworfen worden.
Nun kommt der schwierigste Teil des Werkes. Louis Bonaparte selbst, wie er glaubt, hat die Verantwortlichkeit, die das Brüsseler Pamphlet auf ihn wirft, glücklich abgewälzt. Aber er geht nicht, Raglan und Canrobert zu opfern. Demgemäß, um die Tüchtigkeit besagter Generale zu beweisen, wird <187> eine Skizze der Belagerungskunst entworfen. Diese Skizze jedoch dient nur dazu, zu zeigen, wie Sewastopol nicht genommen werden muß, denn sie wickelt sich ab mit der Versicherung, daß alle diese Regeln unanwendbar auf Sewastopol waren.
"Zum Beispiel", heißt es, "in einer gewöhnlichen Belagerung, wo eine Front angegriffen wird, würde die Länge der letzten Parallele ungefähr 300 mètres <Meter> betragen und die Gesamtlänge der Laufgräben nicht über 4.000 mètres. Hier hingegen beträgt die Ausdehnung der Parallele 3.000 mètres und die gesamte Linearlänge der Laufgräben 41.000 mètres."
Richtig, aber das gerade ist die Frage: Warum ist diese enorme Ausdehnung der Attacke beliebt worden, während alle Umstände die größtmögliche Konzentration des Feuers auf einem oder zwei bestimmten Punkten geboten? Die Antwort ist:
"Sewastopol ist nicht wie eine andere Festung. Es hat einen nur seichten Graben, keine gemauerten Eskarpes, und diese Verteidigungswerke sind ersetzt durch Abattis <Verhaue> und Palisaden. So konnte unser Feuer nur schwache Wirkung auf die Erdbrustwehren machen."
Da dies nicht für Marschall St-Arnaud geschrieben sein kann, der vielleicht daran geglaubt hätte, muß es ausschließlich zum Behuf und Besten der französischen Bauernschaft geschrieben sein, denn jeder Unteroffizier in der französischen Armee wird über solchen Galimathias lachen. Palisaden, wenn nicht auf dem Grunde eines Grabens oder wenigstens außerhalb des Gesichtskreises des Feindes, sind sehr bald niederkartätscht. Abattis können in Brand gesteckt werden. Sie müssen sich am Fuße der Glacis befinden, ungefähr 60-80 Yards von den Brustwehren, weil sie sonst dem Feuer der Kanonen im Wege stehen. Wo das Holz für diese Abattis - lange, auf den Grund gelegte Bäume, mit den zugespitzten Zweigen nach dem Feinde gekehrt, das Ganze fest zusammen verbunden -, woher dies Holz in diesem holzlosen Lande kommen sollte, verschweigt der "Moniteur".<2> Daß Palisaden ein Fortschritt gegen gemauerte Eskarpen sind, ist sicher neu; denn diese hölzernen Wehren können sehr leicht in Brand gesteckt werden und erlauben so einen Sturm, sobald die Kanonen des Feindes zum Stillschweigen gebracht sind.
<188> Schließlich erfahren wir, soll das oben beleuchtete Exposé beweisen, daß die alliierten Generale getan haben, was möglich war, ja, mehr als unter den gegebenen Umständen von ihnen zu erwarten war, ja, sich sogar mit Ruhm bedeckt haben. Schlimm für den Ruhm, der bewiesen werden muß und so bewiesen wird! Wenn die Herren Generale Sewastopol nicht einschließen konnten, wenn sie die russische Observationsarmee nicht vertreiben konnten, wenn sie noch nicht in Sewastopol sind - nun, so liegt das nur daran, daß sie nicht stark genug waren! In der Tat, sie sind es nicht. Aber wenn sie es nicht waren, wer ist verantwortlich für diesen größten aller Fehler? Niemand als Bonaparte. Das ist der notwendige Schluß, wozu der Leitartikel des "Moniteur" führte. Welchen Eindruck er in Paris hervorgebracht, zeigt folgender Auszug aus dem Briefe des sonst so servilen Pariser Korrespondenten der "Times":
"Manche Personen betrachten diesen Artikel bloß als Vorwort zur gänzlichen Räumung der Krim. In einem Legitimistenzirkel sagt man: Man ließ uns Krieg à la Napoleon erwarten; aber es scheint, wir sollen nun einen Frieden à la Louis-Philippe haben. Auf der andern Seite herrschen Eindrücke ähnlicher Art in den Gemütern der arbeitenden Klasse des Faubourg <Vorortes> Saint Antoine. Sie legen den Artikel als ein offenes Eingeständnis ohnmächtiger Schwäche aus."
Textvarianten
<1> In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4377 vom 30. April 1855 wird dieser Satz folgendermaßen gebracht: "Wenn Bonaparte je selbst in den Krieg zieht und ihn nach diesen Prinzipien führt, so kann er ebensogut sofort im Hotel Mivarts, London, sich Quartier bestellen, denn er wird niemals Paris wiedersehen." <=
<2> In der "New-York Daily Tribune" folgt hier der Satz: "Das Fehlen gemauerter Eskarpen hat nichts mit der langwierigen Belagerung zu tun, denn selbst nach der Darstellung des 'Moniteur' kommen sie erst dann ins Spiel, nachdem die Bresche legenden Batterien auf der Spitze des Glacis etabliert sind - eine Position, von der die Alliierten noch weit entfernt sind." <=