Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 173-175
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Über die Situation in der Krim


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 155 vom 2. April 1855]

<173> London, 30. März. Die Berichte über den Fortschritt der Friedensverhandlungen wechseln täglich Farbe und Ton. Heute ist der Friede sicher, morgen der Krieg. Palmerston, in der "Post", sprüht Schwerter und Kanonen - Beweis, daß er sobald als möglich Frieden schließen will. Napoleon befiehlt seiner Presse, Friedenspsalmen zu schreiben - sicherste Probe, daß er den Krieg fortzusetzen denkt. Der Fortschritt der Ereignisse in der Krim deutet auf nichts weniger als baldigen Fall Sewastopols. Zu Eupatoria sitzt Omer Pascha nun faktisch fest, auf der Landseite. Ihre Überlegenheit an Kavallerie erlaubt den Russen, ihre Piketts und Vedetten ganz nahe an die Stadt zu legen, die Umgegend mit Patrouillen zu durchstreifen, die die Zufuhren abschneiden, und im Fall eines ernstlichen Ausfalls auf die weiter ab postierte Infanterie zurückzufallen. So wie wir vorher vermuteten <Siehe vorl. Band, S. 121-123>, gelingt es ihnen, eine überlegene türkische Streitkraft mit einem Viertel oder einem Drittel ihrer Anzahl in Schach zu halten. Der Ausfall, den die türkische Kavallerie unter Iskender Beg (der Pole Ilinski, glorreich bekannt von Kalafat) machte, wurde zurückgewiesen durch eine gleichzeitige Charge von 3 russischen Detachements, die von 3 verschiedenen Punkten angriffen. Wie alle schlecht einexerzierte und unsichere Kavallerie machten die Türken, statt köpflings mit dem Säbel in der Faust auf die Russen herzufallen, in einer respektvollen Entfernung halt und begannen ihre Karabiner abzufeuern. Dies unzweideutige Zeichen der Unentschlossenheit trieb die Russen in die Offensive. Iskender Beg versuchte mit einer Eskadron einzuhauen, wurde aber von allen außer den Baschi-Bosuks <(eigentl. Wirrköpfe, Tollköpfe) irreguläre türkische Truppen, eine Art Landsturm> im Stich gelassen und hatte seinen Rückzug mitten durch <174> die Russen zu erzwingen. Omer Pascha harrt auf die Ankunft von Kavallerieverstärkungen und war in der Zwischenzeit im französisch-englischen Lager, die Alliierten zu unterrichten, daß er für den Augenblick nichts tun könne und daß eine Verstärkung von einigen 10.000 französischen Truppen sehr wünschenswert sei. Zweifelsohne, aber nicht minder wünschenswert für Canrobert selbst, der bereits entdeckt hat, daß er zur selben Zeit zuviel und zuwenig Truppen zur Verfügung hat. Zuviel für die Belagerung von Sewastopol in der alten Weise und die Verteidigung der Tschornaja; nicht genug, um von der Tschornaja hervorzubrechen, die Russen ins Innere zu treiben und das Nordfort <In der "Neuen Oder-Zeitung": die "Stadtseite"> einzuschließen. Die Detachierung von 10.000 Mann nach Eupatoria würde die Türken nicht befähigen, mit Erfolg ins Feld zu rücken, die französische Armee aber für Operationen im freien Feld schwächen. Die Belagerung wird täglich eine kritischere Affäre für die Belagerer.

Wir haben gesehen, daß die Russen am 24. Februar die Redoute auf dem Berge Sapun (vor den Malachow-Werken) hielten. Sie haben diese Redoute nun vergrößert, verstärkt, Kanonen auf ihr aufgepflanzt und Contre-Approchen von ihr aus unternommen. Ebenso ist auf einem anderen Platze, in der Front der Kornilow-Bastion, eine Reihe von neuen Redouten aufgeworfen worden, 300 Yards weiter als die alten russischen Befestigungswerke. Dem Leser der "Times" muß dies unerklärlich sein, da ihr zufolge schon längst die Alliierten ihre eigenen Laufgräben in einer geringern Entfernung von den russischen Linien aufgeworfen hatten. Jetzt endlich, z.B. in seinem Briefe vom 16. März, gesteht der "Times"-Korrespondent, daß selbst an letzteren Daten die britischen Trancheen noch 600-800 Yards entfernt waren und daß in der Tat die Batterien, die im Begriff stehen, auf den Feind zu spielen, dieselben sind, die ihr Feuer am vergangenen 17. Oktober eröffneten. Das also der große Fortschritt in der Belagerung, das das Voranstoßen der Laufgräben, das zwei Dritteilen der englischen Armee Leben oder Gesundheit gekostet hat! Unter diesen Umständen war Platz genug vorhanden in dem Zwischenraume zwischen den zwei Batterielinien zur Errichtung der neuen russischen Werke. Diese können als Eröffnen einer neuen Parallele gegen die Belagerer, auf einer Distanz von 300-400 Yards von ihren Werken, als eine Contre-Approche auf der größten Stufenleiter gegen die einschließende Armee betrachtet werden. Letztere ist so in die Defensive geworfen, während die erste wesentliche Bedingung einer Belagerung, daß die Belagerer die Belagerten in die Defensive werfen.

Wie im Lager vor Sewastopol, beginnt man nun in England zu entdecken, <175> daß keine Chance vorhanden ist, Sewastopol im Sturme zu nehmen. In dieser Verlegenheit hat sich die "Times an eine "hohe kriegswissenschaftliche Autorität" gewandt und erfahren, daß es nötig ist, die Offensive zu ergreifen, entweder durch Überschreiten der Tschornaja und Bewirken einer Vereinigung mit den Türken unter Omer Pascha, sei es vor oder nach einer Schlacht gegen die russische Observationsarmee oder durch eine Diversion nach Kaffa, die die Russen zwingen würde, sich zu zersplittern. Da die alliierte Armee nun 110.000-120.000 Mann zählt, so müssen solche Bewegungen in ihrer Gewalt sein. So die "Times".

Nun weiß niemand besser als Raglan und Canrobert, daß eine Vereinigung mit Omer Paschas Armee sehr wünschenswert, aber unglücklicherweise haben die Alliierten auf den Höhen vor Sewastopol bis jetzt [nicht] über 110.000 bis 120.000, sondern höchstens über 80.000-90.000 dienstfähige Mann zu verfügen gehabt. Was aber eine Expedition nach Kaffa betrifft, so könnten die Russen nichts Besseres wünschen: Die alliierten Truppen nach drei verschiedenen Punkten zerstreuen, 60-150 Meilen von dem Zentralpunkt entfernt, während sie an keinem der zwei Punkte, die sie nun innehaben, hinreichend stark sind, um die Aufgabe vor ihnen zu lösen! Es scheint, daß die "Times" sich ihren Rat bei "russischen" Kriegsgelehrten geholt hat.

Da die 11. und 12. französische Division nun auf dem Wege, wenigstens teilweise, und der Rest sowie die 13. und 14. Division und die zwei piemontesischen Divisionen im Begriff sind zu folgen, wird die alliierte Armee vor Ende Mai zu einer Stärke gebracht sein, die sie zugleich befähigen und zwingen wird, von der defensiven Position an der Tschornaja voranzumarschieren. Die Truppen werden zu Konstantinopel konzentriert und wahrscheinlich alle zusammen verschifft werden, so daß sie möglichst kurze Zeit auf dem fatalen Chersones zu verweilen haben werden. Diese Maßregel wird einige Verzögerung verursachen, sichert aber große Vorteile. Die Verstärkungen, die bisher nach und nach in kleinen Abteilungen zur Krim verschickt worden, obgleich zusammengenommen eine Armee, stärkten die Expeditionsarmee nie hinreichend, um sie zu Offensivoperationen zu befähigen.