Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 146-149
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Napoleons letzter Schwindel

Geschrieben um den 23. März 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4358 vom 7. April 1855, Leitartikel]

<146> "Wenn Krösus den Halys überschreitet, wird er ein großes Reich zerstören!" Diese Antwort des Orakels von Delphi an den lydischen König könnte jetzt mit gleicher Berechtigung Louis Bonaparte für seine Exkursion nach der Krim mitgegeben werden. Es ist nicht das Russische Reich, sondern sein eigenes Reich, das durch diese Reise bestimmt ist, zerstört zu werden.

Eine außergewöhnliche, anomale Lage ruft anomale Notwendigkeiten hervor. Jeden anderen an seiner Stelle würde man für einen Narren halten, unternähme er diesen Ausflug, bei dem die Chancen zehn zu eins gegen ihn stehen. Louis Bonaparte muß sich dieser Tatsache völlig bewußt sein und ist gezwungen, dennoch zu gehen. Er ist der Urheber der ganzen Expedition, er hat die alliierten Armeen in ihre gegenwärtige, nicht beneidenswerte Lage gebracht und ist vor ganz Europa verpflichtet, sie wieder herauszubringen. Es ist seine erste militärische Tat, und von ihrem Ausgang wird sein Ruf als General wenigstens für einige Zeit abhängen. Für den Erfolg der Kampagne haftet er mit keinem geringeren Pfand als mit seiner Krone.

Es gibt außerdem weniger wichtige Gründe, die ebenfalls dazu beitragen, diese gewagte Reise zu einer Staatsnotwendigkeit zu machen. Die Soldaten im Osten haben bei mehr als einer Gelegenheit gezeigt, daß sie in ihren Hoffnungen auf militärischen Ruhm für das neue Reich bitter enttäuscht wurden. Bei Varna und Basardschik wurden die Paladine des nachgeäfften Karls des Großen von ihren eigenen Truppen mit der Bezeichnung "Affen" begrüßt. "À bas les singes! Vive Lamoricière!" <"Nieder mit den Affen! Es lebe Lamoricière!"> war der Schrei der Zuaven, als sie von S[ain]t-Arnaud und Espinasse in die bulgarische Wüste geschickt <147> wurden, um an Cholera und Fieber zu sterben. Jetzt stellen die Truppen nicht mehr nur den Ruhm und die Popularität der verbannten Generale den Kommandeuren von zweifelhaftem Ruf, die jetzt die französische Armee führen, gegenüber. Das sonderbare Betragen des jungen Napoleon-Jérôme, als er im Osten war, hat bei den alten algerischen Soldaten das ganz andere Verhalten der Prinzen von Orléans in Afrika wieder ins Gedächtnis gerufen, die, was auch sonst gegen sie gesagt werden könnte, immer an der Spitze der Truppen standen und ihre Pflicht als Soldaten erfüllten. Der Kontrast zwischen dem jungen Aumale und dem jungen Napoleon war gewiß stark genug, um die Soldaten zu dem Ausspruch zu veranlassen: Wenn die Orléans noch an der Macht wären, wären die Prinzen mit uns in den Laufgräben und teilten die Gefahren und Strapazen mit uns; und doch trugen sie nicht den Namen Napoleons! So sprechen die Soldaten, und was kann man tun, um sie zum Schweigen zu bringen? Der Mann, dem "es erlaubt ist, die Uniform eines Divisionsgenerals zu tragen", hat es fertiggebracht, den militärischen Traditionen, die mit dem Namen Napoleons verbunden sind, einen Makel anzuhängen; die übrigen Mitglieder der Familie sind alles sehr ruhige Zivilisten, Naturforscher, Priester oder aber ausgesprochene Abenteurer; der alte Jérôme kann wegen seines Alters nicht in Betracht gezogen werden, und da seine kriegerischen Taten von früher keinen großen Glorienschein um sein Haupt weben, muß Louis-Napoleon eben selber gehen. Dann war auch das Gerücht von der Krimreise in den entlegensten Nestern Frankreichs bekannt und von der Bauernschaft begeistert begrüßt worden; und es war die Bauernschaft, die Louis-Napoleon zum Kaiser gemacht hatte. Die Bauernschaft ist überzeugt, daß ein Kaiser, den sie selbst auf den Thron gesetzt hat und der den Namen Napoleons trägt, in der Tat ein Napoleon redivivus <wiedererstandener Napoleon> sein müsse. In ihren Augen ist sein Platz an der Spitze der Truppen, die, von ihm geführt, mit den Legionen der großen Armee wetteifern werden. Wenn Sewastopol noch nicht eingenommen ist, so nur, weil der Kaiser noch nicht dorthin gegangen ist; laßt ihn erst an Ort und Stelle sein, und die Wälle der russischen Festung werden in den Staub sinken wie die Mauern Jerichos. Louis-Napoleon kann also jetzt nicht mehr, auch wenn er wollte, sein Versprechen zurücknehmen, da das Gerücht von seiner Reise nun einmal ausgesprengt wurde.

Demzufolge wird alles vorbereitet. Den zehn Divisionen, die sich jetzt in der Krim befinden, werden vier neue nachgeschickt, wovon zwei im Beginn der Kampagne eine Reservearmee zu Konstantinopel bilden sollen. Eine dieser <148> Divisionen wird aus der kaiserlichen Garde bestehen, eine andere aus den vereinigten Elitekompanien oder den Grenadieren und Voltigeurs <Füsilieren> der Pariser Armee. Die zwei andern Divisionen (11. und 12.) werden bereits verschifft oder konzentriert zu Toulon und Algier. Diese frischen Verstärkungen werden die französische Truppenstärke auf der Krim auf ungefähr 100.000 oder 110.000 Mann bringen, während gegen Ende April die 15.000 Piemontesen und zahlreiche britische Verstärkungen eintreffen werden. Doch es ist kaum zu erwarten, daß die Alliierten in der Lage sein werden, die Kampagne im Mai mit einer Armee von 150.000 Mann zu eröffnen. Der Zustand des Herakleatischen Chersones, der in einen großen und völlig verwilderten Begräbnisplatz verwandelt wurde, ist derartig, daß mit dem Eintreten des heißen und feuchten Wetters das Ganze eine Brutstätte aller möglichen Seuchen werden muß. Und wieviel Truppen auch immer sich dort aufhalten sollten, sie werden weit furchtbareren Verlusten durch Krankheit und Tod ausgesetzt sein als je zuvor. Es gibt keine Chance für die Alliierten, aus ihrer Position mit einer aktiven Armee vorzustoßen, bevor alle ihre Verstärkungen eingetroffen sind, und das wird irgendwann um die Mitte des Monats Mai sein, wenn die Epidemie bereits ausgebrochen ist.

Im günstigsten Falle müssen die Alliierten 40.000 Mann vor der Südseite Sewastopols zurücklassen und werden 90.000-100.000 Mann zur Verfügung haben für eine Expedition gegen die russische Feldarmee. Wenn sie nicht sehr gut manövrieren und die Russen keine ernsten Fehler begehen, wird diese Armee, wenn sie vom Chersones hervorrückt, erst die Russen schlagen und sie aus Simferopol zurückdrängen müssen, bevor sie sich mit den Türken bei Eupatoria vereinigen kann. Wir wollen jedoch annehmen, daß diese Verbindung ohne Schwierigkeiten hergestellt werden wird; die Verstärkung, die die Türken diesem buntscheckigen Korps von Franzosen, Engländern und Piemontesen höchstens geben können, wird 20.000 Mann betragen, die nicht sehr geeignet sind für eine Schlacht auf offenem Felde. Alles miteinander würde das eine Armee von ungefähr 120.000 Mann ausmachen. Wie eine solche Armee in einem Lande leben soll, das von den Russen selber verwüstet wurde, arm an Getreide ist und dessen Hauptreichtum, das Vieh, die Russen bestrebt sein werden, nach dem Perekop zu treiben, kann man sich schwer vorstellen. Der geringste Vormarsch würde ausgedehnte Fouragierung und zahlreiche Detachements benötigen, um die Flanken und die Kommunikationen zur See zu sichern. Die russische irreguläre Kavallerie, die bislang keine Gelegenheit zum Eingreifen gehabt hatte, wird <149> dann beginnen, sie mit ihren Operationen zu zermürben. In der Zwischenzeit werden auch die Russen ihre Verstärkungen erhalten haben. Die Offenkundigkeit, mit der die französischen Bewaffnungen während der letzten sechs Wochen betrieben wurden, machte es den Russen möglich, ihre Maßnahmen rechtzeitig zu treffen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß gegenwärtig zwei oder drei russische Divisionen entweder der wolhynischen und der bessarabischen Armee oder der neugebildeten Reserven auf dem Marsch sind, um dort das Gleichgewicht zu behaupten.

Jedoch das größte Detachement, das von der alliierten Armee bereitgestellt werden muß, müssen die Kräfte sein, die Sewastopol von der Nordseite einzuschließen haben. Für diesen Zweck werden 20.000 Mann abgezogen werden müssen, und ob dann der Rest ihrer Streitkräfte, die durch Versorgungsschwierigkeiten gebunden sind und durch endlose Reihen von Fuhrwerken mit Kriegsmaterialien und Proviant behindert sein müssen, ausreichen wird, um die russische Feldarmee aus der Krim zu vertreiben, ist sehr zweifelhaft.

Soviel ist gewiß, die Lorbeeren, durch die Louis Bonaparte sich den Namen eines Napoleon der Krim zu erwerben gedenkt, hängen ziemlich hoch und werden nicht so leicht zu pflücken sein. Jedoch alle bisher erwähnten Schwierigkeiten sind rein lokalen Charakters. Der Haupteinwand gegen diese Art der Kriegführung in der Krim ist im Grunde der, daß sie ein Viertel der verfügbaren Kräfte Frankreichs auf einen kleinen Kriegsschauplatz wirft, wo selbst die größten Erfolge nichts entscheiden. Es ist diese absurde Starrköpfigkeit in bezug auf Sewastopol, die in eine Art von Aberglauben ausartet, Erfolgen, aber auch Rückschlägen, fiktiven Wert beimißt, die den großen fundamentalen Fehler dieses ganzen Planes bildet. Und es ist dieser, den Ereignissen in der Krim zugesprochene, fiktive Wert, der mit verdoppelter Kraft auf den unglückseligen Urheber dieses Planes zurückfällt. Für Alexander ist Sewastopol bei weitem nicht Rußland, doch für Louis Bonaparte ist die Unmöglichkeit, Sewastopol zu nehmen, der Verlust Frankreichs.