Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 141-145
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Aus dem Parlamente -
[Debatten über Preußen im Haus der Lords]


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 141 vom 24. März 1855]

<141> London, 21. März. In der gestrigen Sitzung des Hauses der Lords brachte Lord Lyndhurst, der alte Kollege von Liverpool und Castlereagh, seine längst angekündigte Motion "über das Verhältnis Preußens zur Wiener Konferenz" vor. Zwei Umstände, bemerkte er, hätten in letzter Zeit dieser Frage neues Interesse verliehen: Die Botschaft des sterbenden Kaisers von Rußland an den preußischen Hof, das Manifest Alexanders II., worin er die Politik Peters, Katharinens, Alexanders und seines Vaters zu vollenden verspricht. Wie Rußland selbst die preußische Politik auffasse, möge man aus folgenden Auszügen einer geheimen Depesche ersehen, die Pozzo di Borgo kurz vor Ausbruch des Krieges von 1828/29 an Nesselrode gerichtet. Es lautet hier u.a.:

"Wenn Rußland zu Zwangsmaßregeln gegen die Türkei greife, sei aller Grund, zu glauben, daß Preußen ihm in keiner Weise opponieren werde, sondern umgekehrt, Preußens Haltung, zugleich frei und freundlich, wird als mächtiges Hindernis auf andere Staaten wirken und sie zur Annahme von Resultaten bringen entsprechend der Würde und den Interessen Rußlands. Es wird notwendig sein, das Berliner Kabinett zu einem gewissen Umfang in dieses Vertrauen zu ziehen und es zu überzeugen, daß die Rolle, die wir Preußen anweisen, dazu beitragen wird, die glückliche Vertraulichkeit zwischen den beiden Souveränen und den beiden Höfen zu vermehren."

War es möglich, ruft Lyndhurst aus, in mehr prophetischem Geist die Richtung zu antizipieren, die der preußische Hof in den letzten 6 oder 12 Monaten verfolgt hat? Preußen habe allerdings die Protokolle vom 5. Dezember, 13. Januar und 9. April mitunterzeichnet. Der Zweck dieser Protokolle war, die Räumung der Donaufürstentümer herbeizuführen und Garantien zum Schutz der Unabhängigkeit des Sultans und der Integrität <142> der Türkei zu erhalten. Habe der preußische Hof diesem Zwecke gemäß gehandelt? Bei Gelegenheit der Anleihe von 30 Mill[ionen] T[a]l[e]rn für militärische Operationen habe Baron Manteuffel erklärt: Preußen habe seine Meinung über die russische Politik in den obenerwähnten Protokollen dahin ausgesprochen, daß ein großes Unrecht begangen worden; aber es betrachte sich nicht verpflichtet, weiterzugehen und aktiv teilzunehmen. Sei diese Sprache die einer großen Nation? Und sei Preußen nicht zum Schutz der Türkei ausdrücklich verpflichtet durch die Verträge von 1840 und 1841? Baron Manteuffel habe hinzugesetzt, die Unabhängigkeit Deutschlands oder deutscher Interessen seien nicht in dem Zwist involviert und Preußen daher nicht verpflichtet, irgendwelche Opfer zu bringen. Baron Manteuffel habe aber selbst in einem anderen Dokumente das Gegenteil konstatiert. Übrigens, wenn der Zar sich einmal Konstantinopels bemächtigt, werde es überflüssig sein, ferner von deutscher Unabhängigkeit und deutschen Interessen zu sprechen. Sie müßten dann einer überwiegenden Macht unterliegen. Nachdem Lord Lyndhurst dann noch angespielt auf die Entlassung des Kriegsministers Bonin, auf des Gesandten Bunsen Zurückberufung von London und auf das Abwehren einer Antwortsadresse der preußischen Kammern auf die Thronrede, kommt er "zu dem zweiten Akt dieses politischen Dramas". Nach Verlauf einer geraumen Zeit habe Österreich für geeignet gehalten, von Rußland die Räumung der Donaufürstentümer zu fordern. Diese Forderung ward aufgesetzt und nach Berlin zum Unterzeichnen geschickt. Von Berlin wurden Gegenvorschläge nach Wien gesandt, durchaus unzureichend, aber Zeitverlust verursachend, sofern sie den Alliierten zur Prüfung mitgeteilt werden mußten. Rußland unterdes habe die Fürstentümer geräumt, jedoch einen Teil aus militärischen Gründen besetzt gehalten und erklärt, sich ganz auf der Defensive halten zu wollen. Preußen habe sich dann von der Konföderation zurückgezogen, weil Rußland allen vernünftigen Ansprüchen genügt habe. Von diesem Augenblicke habe Preußen alles aufgeboten, die Pläne Österreichs zu vereiteln. Zu diesem Behuf habe es, großenteils mit Erfolg, dem Bundestag und den einzelnen deutschen Staaten Vorschläge gemacht. Zur selben Zeit dankte Rußland zwei deutschen Staaten öffentlich für ihre Weigerung, sich den Alliierten anzuschließen. Er (Lyndhurst) komme jetzt zum dritten und letzten Akt des Dramas. Die Alliierten hätten eine Zusammenkunft für den 8. August zu Wien festgesetzt gehabt, um zu entscheiden, was von Rußland als Grundlage jeder vorläufigen Negotiation zu verlangen [sei]. Da sei in der herkömmlichen Weise Preußen Anzeige gemacht und diese mehr als einmal wiederholt worden. Preußen habe nicht ausdrücklich verweigert, beizuwohnen, in der Tat sich aber nicht bei der <143> Konferenz eingefunden. Infolge seiner Abwesenheit hätten die Alliierten, statt ein Protokoll aufzusetzen, eine Note unterzeichnet, die als Grundlage künftiger Unterhandlung die vier Punkte niedergelegt. Diese vier Punkte seien dann Rußland zur Annahme vorgelegt worden, das verweigert, sie anzunehmen. Preußen seinerseits veröffentlichte und zirkulierte ein Dokument, worin es Einwendungen gegen die vier Punkte erhob. Ebenso fuhr es fort, auf dem Bundestag und bei den einzelnen deutschen Höfen den Anschluß der kleinen deutschen Staaten an die Alliierten zu hindern. Nach Abschluß des Vertrags vom 2. Dezember wird Preußen mitgeteilt, daß Raum für seine Adhäsion gelassen worden. Preußen schlug ab, beizutreten, erklärte sich aber bereit, abgesondert ähnliche Verträge mit Frankreich und England einzugehen. Von dem Augenblicke, wo letztere diesen Vorschlag annahmen, habe es in verschiedenen Negotiationen und verschiedenen Vorschlägen zahllose Modifikationen verlangt, von denen sicher war, daß Frankreich und England sie verwerfen mußten. Wenn er (Lyndhurst) von Preußen spreche, so meine er das offizielle Preußen. Er wisse, daß die preußische Nation der großen Mehrzahl nach antirussisch gesinnt sei. Unbegreiflich sei, wie Preußen, nachdem es verweigert, dem Vertrag vom 2. Dezember beizutreten, verlangen könne, zu den Wiener Verhandlungen zugezogen zu werden. Er hoffe, die alliierten Mächte würden unter keinem Vorwande einen preußischen Geschäftsführer zulassen. Geschehe das Gegenteil, so würde Rußland statt einer zwei Stimmen auf dem Wiener Kongreß besitzen. Die preußische Diplomatie sei seit Friedrich dem Großen unveränderlich geblieben. Er erinnere an 1794, an die Zeit kurz vor und nach der Schlacht von Austerlitz etc.

Lord Clarendon: Er wolle sich darauf beschränken, einige Lücken auszufüllen in bezug auf die Mitteilungen, die zwischen England und Preußen stattgehabt. Nachdem das russische Kabinett die Bedingungen der Alliierten verworfen, wurde eine Konferenz der respektiven Bevollmächtigten zusammengerufen, die indes nicht abgehalten werden konnte, weil der Repräsentant der preußischen Regierung nicht beiwohnen wollte. Später habe ihm zwar der preußische Gesandte zu London erklärt, seine Regierung wolle ihrem Bevollmächtigten in Wien die verlangte Erlaubnis geben. Er (Clarendon) habe jedoch erklärt: "Es sei zu spät." Die Korrespondenz zwischen Preußen und Österreich habe Rußland gedient. Vor der Zeichnung des Vertrages vom 2. Dezember sei Preußen schon zum Zutritt eingeladen worden, aber vergeblich. Preußen habe verlangt, unbedingt zur neuen Konferenz zugelassen zu werden, weil sie eine Fortsetzung der frühern Konferenz, die noch nicht beendigt, und von der es sich keineswegs zurückgezogen. In bezug auf das letztere verwies die englische Regierung auf die Tatsache, daß bei einer <144> frühern Gelegenheit keine Konferenz stattfinden konnte, weil Preußen nicht beiwohnen wollte, obgleich wiederholt gebeten. Die neue Konferenz sei auch durchaus keine Fortsetzung der alten, da, als Österreich im Oktober und November Frankreich und England ersuchte, sie wieder aufzunehmen, geantwortet wurde, daß die Zeit für Protokolle und Konferenzen vorbei, daß aber, wenn Österreich eine Kriegsverpflichtung mit ihnen eingehe, sie zusehen wollten, ob Friede ausführbar sei. Dies habe zum Vertrag vom 2. Dezember geführt. Man sei später bereit gewesen, Spezialverträge mit Preußen einzugehen.

"Aber Preußen zu erlauben, alle Privilegien in Anspruch zu nehmen, ohne irgend eine Gefahr zu teilen, es unbedingt zu einer Konferenz zuzulassen, die in Friede enden, aber auch zu einem Kriege auf größerer Stufenleiter führen kann, ohne sein Erklärung, was seine Absichten oder seine Politik, ohne daß es mit uns eine unmittelbare oder eventuelle Verbindung eingeht, ohne zu wissen, ob es in die Konferenz kommt als Neutraler, als Feind oder als Freund - das ist absolut unmöglich."

Die später von Preußen abgesandten Spezialmissionen seien in London und Paris gleich freundlich aufgenommen worden, hätten indes bisher zu nichts geführt. Indes betrachte er die Verhandlungen nicht als abgebrochen. Erst vor drei Tagen seien neue Vorschläge gemacht worden. Unglücklicherweise jedoch seien die Wiener Konferenzen eröffnet worden, während Preußen durch seinen eignen Akt ausgeschlossen blieb. Eine große Macht wie Preußen dürfe sich nicht in engster deutscher Verschlossenheit halten. Man habe wiederholt gegen diese Haltung remonstriert. Die beständige Antwort sei, daß Frieden die Politik Preußens. Seine Politik sei aber in der Tat weder "europäisch, noch deutsch, noch russisch", mehr geeignet, Österreich zu durchkreuzen, als Rußland in Schach zu halten. Trotz alledem könne Preußen nicht lange in der Isolierung verharren, sobald große europäische Interessen auf dem Spiele stehen. Es könne nicht auf Rußlands Seite treten im Widerspruch mit dem Nationalgefühl in Preußen und Deutschland. Auf der Seite Rußlands gegen Österreich wisse es wohl, daß es in Abhängigkeit von ersterem geraten werde. Es wolle nicht auf Seite Österreichs treten. Es habe im Gegenteil eine unfreundliche Haltung gegen Österreich eingenommen.

"Ich sage daher, daß Preußen sich in einer vereinsamten und falschen Position befindet. Dies mag genugtuend sein für seine Feinde, aber es wird tief bedauert von seinen Alliierten und den Patrioten seiner eigenen Bevölkerung."

Es würden, versicherte er schließlich, keine Anstrengungen gespart werden, um Preußens Mitwirkung zu gewinnen.

<145> Im Unterhause interpellierte Lord W[illiam] Graham den Premierminister:

"ob der österreichische Gesandte von Lord Clarendon eine Erläuterung verlangt wegen der von Sir Robert Peel bei seiner Neuwahl geäußerten Worte, daß kein Abschluß der östlichen Frage befriedige ohne die Wiederherstellung von Polen und Ungarn?"

Lord Palmerston, statt irgendeiner Antwort auf diese Frage, gratulierte sich erst, daß Sir Robert Peel eine Stelle in seiner Administration angenommen. Was Ungarn betreffe, so wisse Österreich seit langem, daß England seine Trennung vom Kaiserstaat als ein großes europäisches Unglück betrachten würde, da der Kaiserstaat als Gesamtkörper im Zentrum von Europa ein wesentliches Element des Gleichgewichts der Mächte sei. Was Polen angehe - (beträchtliches Gelächter ward hier erregt durch eine kleine Pause in Palmerstons Antwort und die sonderbare Art, womit er seine Rede wieder aufnahm) -, so sei es seine Ansicht, daß das Königreich Polen, wie jetzt konstituiert und wie jetzt besessen, eine fortwährende Drohung für Deutschland sei. Indes Stipulationen wegen einer Neugestaltung Polens bildeten keinen Teil der Punkte, worüber gegenwärtig in Wien verhandelt werde. Indes hätten England und Frankreich sich vorbehalten, je nach Umständen oder den Ereignissen des Kriegs den vier Punkten, auf deren Grundlage man jetzt unterhandle, andre Stipulationen hinzuzufügen, die ihnen für die künftige Sicherheit Europas wesentlich scheinen möchten.