Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 135-138
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Ein Meeting


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 141 vom 24. März 1855]

<135> London, 20, März. Der "Morning Advertiser" hatte seit Monaten daran gearbeitet, eine Agitationsgesellschaft unter dem Namen "Nationale und konstitutionelle Assoziation" ins Leben zu rufen zum Behufe des Sturzes des oligarchischen Regimes. Nach vielen Vorarbeiten, Aufrufen, Subskriptionen etc. war endlich für vergangenen Freitag ein öffentliches Meeting nach London Tavern zusammenberufen. Es sollte der Geburtstag der neuen vielangekündigten Assoziation sein. Lange vor Eröffnung des Meetings war die große Halle dicht mit Arbeitern besetzt, und die selbstgewählten Führer der neuen Bewegung, als sie endlich erschienen, fanden nur mit Mühe Platz auf der Plattform. Herr James Taylor, zum Präsidenten ernannt, verlas Briefe von Layard, Sir de Lacy Evans, Wakley, Sir James Duke, Sir John Shelley und andern, die ihre Sympathien mit den Zwecken der Assoziation versicherten, gleichzeitig aber die Einladung, persönlich zu erscheinen, unter verschiedenen Vorwänden ablehnten. Dann Verlesung einer "Adresse an das Volk". Schlaglichter werden darin geworfen auf die Kriegführung im Orient und die Ministerialkrisis. Folgt die Erklärung,

"daß praktische Männer von jeder Klasse, besonders aber der Mittelklasse, die nötigen Attribute zur Übernahme der Regierung besitzen".

Diese ungeschickte Anspielung auf die besondern Ansprüche der Mittelklasse ward mit lautem Zischen empfangen.

"Der Hauptzweck dieser Assoziation", heißt es weiter, "wird sein, das aristokratische Monopol der Regierungsgewalt und Stellen zu zerstören, das so unheilvoll für die besten Interessen des Landes ist. Zu den Nebenzwecken gehöre die Abschaffung der geheimen Diplomatie. Es werde die besondere Mission der Gesellschaft sein, sich an <136> die Wahlbürger des Vereinigten Königreichs zu wenden und sie zu warnen, sorglich zuzusehen, welchen Händen sie die Hilfsquellen und Freiheiten des Landes anvertrauten und namentlich ihre Stimmen dem Scheinwesen der Aristokratie und des Reichtums und ihren Kreaturen nicht ferner zu geben."

Herr Beales erhob sich hierauf und befürwortete in ausführlicher Rede den ersten Antrag:

"Der gefährliche Stand der öffentlichen Angelegenheiten und die offenbare Hoffnungslosigkeit jeder Besserung unter dem gegenwärtigen oligarchischen System, das die Funktionen der Regierung usurpiere, Stellen und Privilegien monopolisiere, Schmach und Unglück dem Land zuziehe, ernötigten eine Vereinigung des Volkes, um die Fortdauer des alten Systems zu brechen ... Es solle daher eine Gesellschaft gebildet werden unter dem Namen der Nationalen und konstitutionellen Assoziation."

Herr Nicholay, eins der Lichter von Marylebone, unterstützte den Antrag. Ebenso Apsley Pellatt, Parlamentsmitglied:

"Das Volk werde an sein Werk der Regierungsreform gehen mit der Bestimmtheit, Mäßigung, Ausdauer und Entschlossenheit der Ironsides <eisenfeste Männer; hier: eisernen Dragoner> des Cromwell. Die Wahlkörper von England hätten es in ihrer eignen Hand, jeden Mißbrauch zu berichtigen, wenn sie sich entschlössen, ehrliche Männer gratis ins Parlament zu schicken, aber sie könnten nie erwarten, ehrlich repräsentiert zu sein, wenn ein Mann wie Lord Ebrington nur zu einem Kostenbelauf von 5.000 Pfd.St. von Marylebone ins Parlament käme, während sein unglücklicher Rivale 3.000 Pfd.St. gespart hätte."

Herr Murrough, Parlamentsmitglied, trat nun vor, war aber nach beträchtlicher Opposition gezwungen, Platz zu machen dem George Harrison (Arbeiter und Chartist von Nottingham).

"Diese Bewegung", sagte Harrison, "sei ein Versuch der Mittelklasse, die Regierung in ihre eignen Hände zu bekommen, unter sich Stellen und Pensionen zu verteilen und eine schlimmere Oligarchie ins Leben zu rufen als die jetzt bestehende."

Er verlas dann ein Amendement, worin er gleichmäßig die Grund- und Geldaristokratie als Feinde des Volks denunzierte und erklärte, das einzige Mittel, die Nation zu regenerieren, sei die Einführung der Volks-Charte mit ihren 5 Punkten: allgemeines Stimmrecht, Abstimmen durch Kugeln, gleiche Wahldistrikte, jährliche Parlamente, Wegfallen der Eigentumsqualifikation. Ernest Jones (der Chartistenchef, einer hocharistokratischen Familie angehörig) unterstützte das Amendement und bemerkte u. a.:

<137> "Das Volk würde seine eigne Position zerstören, unterstützte es diese Bewegung der Mittelklasse, sich der Macht und der Stellen zu bemächtigen. Auf der Plattform befänden sich zweifelsohne viele hungrige Premierminister" (cheers <Beifall>), "viele Stellenjäger in partibus <ohne Amt>" (cheers). "Das Volk müsse sich jedoch nicht alliieren mit den Brights und den Cobdens und den Geldinteressen. Nicht die Grundaristokratie, sondern das Geldinteresse habe sich einem humanen Fabrikgesetze widersetzt, habe die Bill gegen die stoppage of wages (Abzüge vom nominellen Arbeitslohn) verworfen, habe das Durchgehen eines guten Assoziationsgesetzes verhindert, und es sei das Geld- und Fabrikinteresse, die vor allem das Volk niederzuhalten und zu entwürdigen strebten. Er seinerseits sei jeden Augenblick bereit, sich einer Bewegung anzuschließen, deren Zweck, den Einfluß des Herzogs von Devonshire etc. zu brechen, aber er wolle es nicht tun, um in ihre Stelle den des Herzogs von Fabrikstaub und die Lords von der Spindel zu setzen." (Cheers und Gelächter.) "Man habe gesagt, die Arbeiterbewegung, die Chartistenbewegung sei tot. Er erkläre hier den Herren Reformern von der Mittelklasse, daß die Arbeiterklasse lebendig genug sei, um jede Bewegung zu töten. Sie würden der Mittelklasse nicht erlauben, sich zu bewegen, falls sie sich nicht entschließe, die Volks-Charte und deren 5 Punkte in ihr Programm aufzunehmen. Sie soll sich nicht selbst täuschen. Eine Wiederholung der alten Täuschungen sei außer Frage."

Nach einiger weitern Diskussion, mitten unter beträchtlichem Aufruhr, versuchte der Präsident, sich des Amendements zu entledigen durch die Erklärung, es sei kein Amendement; er sah sich jedoch veranlaßt, seinen Entschluß zu ändern. Das Amendement wird gestellt und ging durch mit einer Majorität von wenigstens 10 zu 1, unter lautem Beifallsruf und Schwenken der Hüte. Der Präsident, nachdem er erklärte, das Amendement sei durchgegangen, konstatierte unter lautem Gelächter, er glaube nach wie vor, die Majorität der gegenwärtigen Personen sei für Gründung der "Konstitutionellen und nationalen Vereinigung". Sie werden daher mit ihrer Organisation vorangehen und später einen andern Appell ans Publikum richten - andeutend, obgleich versteckt, daß, um künftig Opposition zu vermeiden, nur mit Mitgliedschaftskarten versehene Personen zugelassen würden. Die Chartisten, im besten Humor, bekomplimentierten den Präsidenten mit einem Dankvotum, und das Meeting trennte sich.

Man kann nicht leugnen, daß die Logik auf Seite der Chartisten, selbst vom Standpunkt der öffentlich proklamierten Prinzipien der Assoziation, war. Sie will die Oligarchie stürzen. Durch Appell vom Ministerium an das Parlament. Aber was ist das Ministerium? Die Kreatur der parlamentarischen Majorität. Oder sie will das Parlament stürzen durch Appell an die Wahl- <138> körper. Aber wer ist das Parlament? Der freigewählte Repräsentant der Wahlkörper. Bleibt also nur Erweiterung der Wahlkörper. Verweigert man, sie durch Annahme der Volks-Charte zu den Dimensionen des Volkes selbst auszuweiten, so gesteht man, daß man die alte Aristokratie durch eine neue zu ersetzen strebt. Der bestehenden Oligarchie gegenüber möchte man im Namen des Volks sprechen; zugleich aber vermeiden, daß das Volk in eigner Person erscheint, wenn man es ruft.