Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 91-94
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 105 vom 3. März 1855]
<91> London, 27. Februar. Dem Schrei gegen die Aristokratie hat Palmerston ironisch geantwortet mit einem Ministerium von 10 Lords und 4 Baronetts - dazu 10 Lords, wovon 8 im Hause der Pairs sitzen. Der Ungeduld über das Kompromiß zwischen den verschiedenen Fraktionen der Oligarchie entgegnet er mit einem Kompromiß zwischen verschiedenen Familien innerhalb der Whig-Fraktion. In seinem Ministerium ist der Grey-Clan abgefunden, die herzoglich Sutherlandsche Familie, endlich die Clarendonsche Familie. Der Minister des Innern, Sir George Grey, ist Vetter des Grafen Grey, dessen Schwager Sir Charles Wood ist, der Erste Lord der Admiralität; der Graf Granville und der Herzog von Argyll vertreten die Familie Sutherland. Sir G[eorgel C[ornewall] Lewis, Schatzkanzler, ist Schwager des Grafen Clarendon, [des] auswärtigen Ministers. Indien allein ist einem Unbetitelten, obgleich in die Whig-Familien Hineingeheirateten, dem Vernon Smith anheimgefallen. Ein Königreich für ein Pferd! rief Richard III. Ein Pferd für ein Königreich! ruft Palmerston, den Caligula nachahmend, und macht Vernon Smith zum Großmogul von Indien.
"Lord Palmerston", klagt der Morning Advertiser", "hat uns nicht nur die alleraristokratischste Administration gegeben, von der unsere Geschichte ein Beispiel aufweist, sondern er hat seine Regierung aus dem miserabelsten aristokratischen Material zusammengesetzt, das aufzufinden war." Aber, tröstet sich der biedere "Advertiser", aber "Palmerston ist immer noch kein freier Agent, er ist immer noch in Ketten und Banden etc."
Wie wir vorhersagten <Siehe vorl. Band, S. 89>, Lord Palmerston hat ein Kabinett von Nullen gebildet, mit sich selbst als der einzigen Ziffer. Lord John Russell, der ihn 1851 undiplomatisch aus dem Whig-Kabinett warf, hat er diplomatisch auf Reisen geschickt. Die Peeliten hat er benutzt, um die Erbschaft <92> Aberdeens anzutreten. Die Ministerpräsidentschaft, einmal gesichert, hat die Aberdeeniten fallen lassen und dem Russell, wie Disraeli sagt, nicht nur die Whig-Garderobe, sondern die Whigs selbst gestohlen. Trotz der großen Ähnlichkeit, ja fast Identität der jetzigen Regierung mit Russells Whig-Administration von 1846-1852, wäre nichts falscher als sie zu verwechseln. Es handelt sich diesmal überhaupt nicht um ein Kabinett, sondern um Lord Palmerston statt eines Kabinetts. Obgleich das Personal großenteils das alte, sind die Stellen so unter dasselbe verteilt, ist sein Anhang im Hause der Gemeinen so verschieden und erscheint es unter so gänzlich veränderten Verhältnissen wieder, daß, wenn es früher ein schwaches Whig-Ministerium, es jetzt die starke Diktatur eines einzigen Mannes bildet, vorausgesetzt, daß Palmerston kein unechter Pitt, Bonaparte kein unechter Napoleon und Lord John Russell auf Reisen bleibt. Verdrießlich, wie dem englischen Bürger die unerwartete Wendung der Dinge kam, amüsiert ihn einstweilen die gewissenlose Gewandtheit, womit Palmerston Freund und Feind düpiert und übervorteilt hat. Palmerston, sagt der Citykaufmann, hat wieder gezeigt, daß er "clever" ist. "Clever" aber ist ein unübersetzbares Prädikat, vieldeutig, vielsinnig. Es umfaßt alle Eigenschaften eines Mannes, der sich an den Mann zu bringen weiß und sich ebensosehr auf den eigenen Vorteil wie auf den fremden Schaden versteht. Moralisch, wie der englische Bürger ist, respektabel, wie er ist, bewundert er doch vor allem den Mann, der "clever" ist, den die Moral nicht geniert, den der Respekt nicht irrt, der Prinzipien für Fallstricke hält, um seinen Nebenmenschen zu Fall zu bringen. Wenn der Palmerston so "clever" ist, wird er nicht die Russen überlisten, so gut wie er den Russell überlistet hat? So der Politiker der höheren englischen. Mittelklasse.
Was die Tories betrifft, so glauben sie die gute alte Zeit wiederhergestellt, den bösen Koalitionszauber gebrochen und den angestammten Regierungswechsel zwischen Whigs und Tories wieder eingeleitet. Eine wirkliche Änderung, nicht beschränkt auf bloß passive Auflösung, dürfte in der Tat erst unter einer Tory-Regierung eintreten. Nur wenn die Tories am Ruder sind, beginnt der gewaltige Druck von außen - die pressure from without - und werden die unvermeidlichen Umwälzungen ins Werk gesetzt. So die Katholikenemanzipation unter dem Ministerium Wellington, so der Widerruf der Korngesetze unter dem Ministerium Peel, so, wenn nicht die Reformbill, mindestens die Reformagitation, die bedeutender war als ihr Resultat.
Als die Engländer eigens einen Holländer über die See kommen ließen <Wilhelm III. von Oranien>, <93> um ihn zum König zu machen, geschah es, um mit der neuen Dynastie eine neue Epoche einzuführen - die Epoche der Vermählung von Grundaristokratie und Finanzaristokratie. Seit der Zeit finden wir das Privilegium des Bluts und das Privilegium des Goldes im konstitutionellen Gleichgewicht bis auf den heutigen Tag. Das Blut z.B. überwiegt einen Teil der Stellen in der Armee der Familienkonnexion, dem Nepotismus, dem Favoritismus, aber das Prinzip des Goldes erhält sein Recht, indem alle Offiziersstellen für klingende Münze verkaufbar und kaufbar sind. Es wird so berechnet, daß die gegenwärtig in den Regimentern dienenden Offiziere ein Kapital von 6 Millionen Pfd.St. in ihren Stellen fixiert haben. Der ärmere Offizier, um nicht seines im Dienst erworbenen Anrechts verlustig zu gehen und durch einen jungen Geldbeutel ausgestochen zu werden, leiht Kapital auf, um sein Avancement zu sichern, und wird so ein verhypothekiertes Wesen.
Wie in der Armee, so herrscht in der Kirche neben dem Prinzipe der Familie das bare Prinzip. Wenn ein Teil der Kirche den jungen Söhnen der Aristokratie anheimfällt, so gehört der andere dem Meistbietenden. Der Handel mit den "Seelen des englischen Volkes - soweit sie der Staatskirche zugehören - ist nicht minder regelmäßig wie der Negerhandel in Virginien. Es existieren in diesem Handel nicht nur Käufer und Verkäufer, sondern auch Mäkler. Ein solcher "klerikaler" Makler, namens Simpson, erschien gestern vor dem Court of Queen's Bench <Oberhofgericht> und verlangte seine Gebühren von einem gewissen Lamb, der sich kontraktlich verpflichtet habe, ihm die Präsentation zur Pfarre von Westhackney für den Rektor Joseah Rodwell zu verschaffen, wobei Simpson 5 p.c. von Käufer und Verkäufer sich ausbedungen, nebst einigen Nebensporteln. Lamb habe seine Verpflichtung nicht erfüllt. Die Sache hing so zusammen: Lamb ist der Sohn des 70jährigen Rektors zweier Pfründen in Sussex, deren Marktpreis zu 16.000 Pfd.St. angeschlagen wird. Der Preis steht natürlich im direkten Verhältnis zur Einnahme der Pfarre und im umgekehrten Verhältnis zum Alter des Pfründenbesitzers. Der junge Lamb ist der Patron der vom alten Lamb besessenen Pfarreien und zugleich der Bruder eines noch jüngeren Lamb, des Pfründenbesitzers und Pfarrers von Westhackney. Da der Rektor von Westhackney noch sehr jugendlich, steht der Marktpreis der nächsten Präsentation zu seiner Sinekure verhältnismäßig niedrig. Obgleich ihre Einnahme 550 Pfund jährlich nebst Pfarrwohnung, verkauft ihr Besitzer die nächste Präsentation zu nur 1.000 Pfd.St. Sein Bruder verspricht ihm die Pfarreien in Sussex bei dem Tode des Vaters, verkauft aber durch Simpson seine so erledigte Stelle in <94> Westhackney zu 3.000 Pfd.St. dem Joseah Rodwell, wobei er also einen Nettoprofit von 2.000 Pfd.St. einsteckt, sein Bruder eine bessere Pfründe erhält, und der Mäkler zu 5 p.c. Kommission ein Geschäft von 300 Pfd.St. gemacht haben würde. Es stellte sich nicht heraus, wodurch der Kontrakt sich zerschlagen. Das Gericht erkannte dem Mäkler Simpson "für getane Arbeit" eine Entschädigung von 50 Pfd.St. [zu].