Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 47-49
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Zwei Krisen


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 67 vom 9. Februar 1855]

<47> London, 6. Februar. Zwei Krisen absorbieren in diesem Augenblicke die öffentliche Meinung - die Krise der Krimarmee und die Ministerkrise. Die erste beschäftigt das Volk, die zweite die Klubs und Salons. Die letzten Briefe von der Krim, grau in grau gemalt, lassen die englische Streitmacht von 14.000 auf 12.000 Mann zusammenschmelzen und stellen die baldige Aufhebung der Belagerung von Sewastopol in Aussicht. Unterdessen wird die Salonskabale im Unterhause verhandelt. Lord [John] Russell und Herr Gladstone füllen eine ganze Sitzung abermals mit breiten Erörterungen über, für und gegen den Austritt des großen Russell aus einem nicht mehr existierenden Kabinett. Neue Tatsachen werden von keiner Seite vorgebracht, aber die alten werden plädiert. Lord John ist sein eigener Advokat, Gladstone der Advokat des Herzogs von Newcastle. Die tiefen Untersuchungen über die Brauchbarkeit des letztem zum Kriegsminister empfangen neues Lustre von dem Umstande, daß keine Armee mehr vorhanden ist, die administriert zu werden braucht. Selbst dieses Haus der Gemeinen indes machte seinem Unwillen in dem bekannten traditionellen Grunzen Luft, als Gladstone am Schlusse seiner wohlgesetzten Rede die Worte fallen ließ: "Er wünsche, das ganze Mißverständnis" (zwischen Russell und Newcastle) "könne rückgängig gemacht werden."

Also nicht das Mißtrauensvotum des Hauses, noch weniger der Untergang einer englischen Armee, nichts als ein "Mißverständnis" zwischen einem alten Lord und einem jungen Herzog - darauf reduziert sich die Ministerkrise. Die Krim ist bloß ein Vorwand für die Salonskabale. Das Mißverständnis zwischen Ministerium und den Gemeinen verdient nicht einmal die Ehre der Erwähnung. Das war selbst diesen Gemeinen zu stark. Russell fiel durch, Gladstone fiel durch, die ganze Sitzung fiel durch.

<48> Beiden Häusern ward angezeigt, daß Lord Palmerston mit der Bildung eines Ministeriums beauftragt sei. Er ist jedoch auf unerwartete Hindernisse gestoßen. Lord Grey verweigerte, die Leitung eines Krieges zu übernehmen, den er von Antang an mißbilligte und noch mißbilligt. Ein Glück dies für die Armee, deren Disziplin er ebenso sicher gebrochen haben würde, wie er zu seiner Zeit die Disziplin der Kolonien brach. Aber auch Gladstone, Sidney Herbert und Graham zeigten sich widerstrebend. Sie verlangten die Restauration der Peeliten mit Haut und Haar. Diese Staatsmänner sind sich bewußt, eine sehr kleine Clique zu bilden, die ungefähr 32 Stimmen im Unterhause kommandiert. Nur durch Zusammenhalten ihrer "großen" Talente kann die kleine Clique hoffen, ihre Selbständigkeit zu konservieren. Ein Teil der leitenden Peeliten im, ein anderer außerhalb des Kabinetts wäre gleichbedeutend mit dem Verschwinden dieses gediegenen Staatsmännerklubs. Palmerston versucht unterdes das äußerste, sich dem Parlamente, wo er keine Partei besitzt, ebenso zu oktroyieren, wie er sich der Königin oktroyiert hat. Noch ist sein Kabinett nicht gebildet, und schon droht er in der "Morning Post", von der Legislatur an das Volk zu appellieren. Er droht mit Auflösung des Hauses, sollte es wagen, "ihm nicht die Schätzung angedeihen zu lassen, deren er außerhalb des Westminster-Palastes, im Volke, genieße". Dieses "Volk" beschränkt sich auf die ihm halb oder ganz angehörigen Journale. Wo das Volk sich neuerdings hat hören lassen, z.B. im Meeting zu Newcastle-upon-Tyne - von wo Petitionen an das Parlament gerichtet sind, das Ministerium in Anklagezustand zu versetzen -, wurde Palmerston als der geheime Leiter der verstorbenen Koalition auf das heftigste denunziert.

Noch einiges Nachträgliclies, um den Nekrolog des "Kabinetts aller Talente" zu vervollständigen. Am 30. November 1853 fiel das Ereignis von Sinope vor; am 3. Dezember ward es zu Konstantinopel bekannt; am 12. Dezember reichten die Repräsentanten der Pforte eine Note ein, die größere Zugeständnisse an Rußland verlangte als die berufene Wiener Note. Am 14. Dezember telegraphiert das englische Ministerium nach Wien, daß Sinope die Wiener Friedenskonferenzen nicht unterbrechen solle. Lord Palmerston wohnte dem Kabinettsrat bei, worin dieser Beschluß gefaßt wurde. Er billigte ihn, trat aber den nächsten Tag aus dem Kabinett aus unter dem Vorwande, Russells beabsichtigte Reformbill widerspreche seiner konservativen Ansicht. Der wirkliche Zweck war, sich vor dem Publikum die Hände in Unschuld zu waschen wegen des Sinope-Ereignisses. Sobald dieser Zweck erreicht, trat er ohne weiteres in das Kabinett zurück.

Anfang Februar 1854 wird das Parlament wieder eröffnet. Die diplomatischen Dokumente über die orientalischen Wirren werden ihm angeblich vor- <49> gelegt. Die wichtigsten Papiere fehlen. Das Parlament erhält sie vom Kaiser Nikolaus statt von den britischen Ministern via Petersburg. Die dort veröffentlichte "Geheime und vertrauliche Korrespondenz" beweist dem erstaunten Parlament sonnenklar, daß es während seiner ganzen bisherigen Sitzung 1853 wie 1854 absichtlich von seinen Ministern über die auswärtige Politik düpiert ward. Sie zwingt die Minister den 27. März zur Kriegserklärung. Am 6. Februar hatte Palmerston angezeigt, daß er eine Bill für Einberufung der Milizen in Schottland und Irland einbringen werde. Sobald aber der Krieg erklärt ist, vertagt er seine Bill und bringt sie nicht vor Ende Juni ein. Am 13. Februar legt Russell seine Reformbill vor, vertagt die zweite Lesung bis Ende April, nimmt sie im März pathetisch schluchzend zurück und wird von seinen Kollegen für dies Opfer belohnt, indem er - bisher ohne Departement und ohne Gehalt - sozusagen als außerordentlicher Minister eine ministerielle Sinekure mit Gehalt erhält, die Präsidentschaft des Geheimen Rats. Am 6. März legt der große Finanzier Gladstone sein Budget vor. Er beschränkt sich darauf, die Einkommensteuer für sechs Monate zu verdoppeln. Er verlangt "nur die Summe, die hinreicht, um die 25.000 Mann, die im Begriffe sind, England zu verlassen, wieder dahin zurückzubringen".

Von dieser Sorge hat ihn jetzt sein Kollege Newcastle befreit. Schon am 8. Mai ist er gezwungen, ein zweites Budget einzubringen. Am 12. April erklärt er sich gegen jede Staatsanleihe; am 21 April ersucht er das Haus, eine Anleihe von 6 Millionen zu sanktionieren, um die Kosten seines unglücklichen Staatsschulden-Konversionsexperiments zu bestreiten. Am 7. April hält Lord Grey seine Rede über die Mängel der englischen Kriegsverwaltung. Am 2. Juni benutzt das Ministerium seinen Reformkasus - wie es die Reform von Indien, wie es die Reform [im Zusammenhang mit] der Cholera benutzte - zur Schöpfung eines neuen Postens. Das Kriegsministerium wird vom Kolonialministerium getrennt. Alles andere bleibt beim alten. Die legislativen Leistungen des Ministeriums in dieser Sitzung fassen sich so zusammen: Es legt 7 wichtige Bills vor. Es fällt durch mit 3 Stücke: den Bills für Niederlassung, für Erziehung für Schottland, für Änderung der parlamentarischen Eidformeln. Es zieht 3 Stücke zurück: die Bills für Verhinderung von Wahlbestechungen, für .die gänzliche Umgestaltung des Zivildienstes und die Parlamentsreform. Eine Bill passiert, die für Reform der Universität zu Oxford, aber so mit Amendements gepflastert, daß ihre ursprüngliche Form nicht mehr erkenntlich. Die diplomatischen und militärischen Großtaten sind in frischem Gedächtnis. Das war das "Kabinett aller Talente".