Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 40-43
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Das gestürzte Ministerium


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 63 vom 7. Februar 1855]

<40> London, 3. Februar. Am 16. Dezember 1852 wurde der erste Punkt von Disraelis Budget - Ausdehnung der direkten Steuer, zunächst der Haussteuer - durch eine Majorität von 19 Stimmen verworfen. Das Tory-Ministerium resignierte. Nach zehntägigen Intrigen hatte sich das Koalitionsministerium gebildet. Es bestand aus einem Teile der Whig-Oligarchie - der Grey-Clan war diesmal ausgeschlossen -, der Bürokratie der Peeliten, einem Zusatz von sog. Mayfair-Radikalen, wie Molesworth und Osborne, endlich den Maklern der Irischen Brigade, die am 16. Dezember den Ausschlag gegeben hatten - Sadleir, Keogh, Monsell - und in untergeordneten ministeriellen Posten untergebracht wurden. Das Ministerium bezeichnete sich selbst als das "Kabinett aller Talente"'. Es umfaßte in der Tat beinahe alle Talente, die sich seit 30 Jahren und länger in der Regierung abgelöst hatten. Die "Times" kündete das "Kabinett aller Talente" mit den Worten an: "Wir sind nun beim Beginn des politischen Millenniums angelangt." Das "politische Millennium" war in der Tat für die regierenden Klassen hereingebrochen von dem Augenblicke, wo sie entdeckten, daß ihre Parteibildungen aufgelöst, ihre innern Gegensätze nur noch auf persönlichen Launen und Eitelkeiten beruhten und ihre wechselseitigen Reibungen nicht länger das nationale Interesse zu spannen vermochten. Das Koalitionsministerium vertrat keine besondere Fraktion. Es vertrat "alle Talente" der Klasse, die bis jetzt England regiert hat. Es ist daher wichtig, einen Rückblick auf seine Leistungen zu werfen.

Nach dem Sturz des Derby-Ministeriums wurde das Parlament für die Weihnachtsferien vertagt. Es wurde dann wieder vertagt für die Osterferien. Dann erst begann die wirkliche Sitzung von 1853, beinahe ganz absorbiert von den Debatten über Gladstones Budget, von Sir Charles Woods Bill über <41> Indien und Youngs Bill zur Regulation der Verhältnisse zwischen Grundherren und Pächtern in Irland.

Bevor er sein Budget einbrachte, kündigte Gladstone große Operationen zur Reduktion der Staatsschuld - sowohl der schwebenden wie der konsolidierten - an. Die Operation auf die erste bestand dann, daß er den Zins der Schatzkammerscheine von 11/2 d. per Tag auf 1 d. herabsetzte, und zwar in einem Augenblicke, wo die Marktrate des Zinses stieg. Resultat war, daß er 3 Millionen von Schatzscheinen erst einzulösen und dann zu höherem Zinse wieder auszugeben hatte. Bedeutender noch war sein Experiment mit dem Ungeheuer der konsolidierten Staatsschuld. Ostensibler Zweck war ihre Reduktion. Er operierte so geschickt, daß er am Ende des finanziellen Jahres 8 Millionen Südseescheine at par <auf pari (gleich an Wert)> rückkaufen mußte, die nach dem damaligen Börsenkurse nur 85 p.c. wert waren. Gleichzeitig wirft er ein neu von ihm erfundenes Papier - Schatzkammerbonds - auf die Börse. Er hat sich vom Parlament zur Ausgabe von 30 Millionen Pfd.St. solcher Papiere ermächtigen lassen. Er wird mit Mühe 400.000 Pfd.St. los. Mit einem Worte: seine Operationen zur Reduktion der Staatsschuld endigen mit Vergrößerung des Kapitals der konsolidierten und des Zinsfußes der schwebenden Staatsschuld.

Sein Budget, der Stolz der Koalition, besteht aus verschiedenen heterogenen Momenten. Teile desselben, wie Herabsetzung der Teesteuer, der Akzise (nur daß er sie auf Seife, Disraeli auf Malz herabsetzte) und Erhöhung der direkten Steuer, sind dem Budget seines Vorgängers entlehnt. Andere und die wichtigsten Bestimmungen, wie Auflegung der Erbschaftssteuer auf Grund und Boden, Abschaffung der Steuer auf Zeitungsanzeigen etc., wurden ihm aufgenötigt, indem er zweimal mit seinen Gegenanträgen im Hause durchfiel. Andere Bestandteile seines Plans, wie z.B. die neue Regulation des Patentsystems <d.h. des Schanksteuersystems>, muß er ganz zurückziehen. Was er als ein enzyklopädisches System in das Haus gebracht, kommt heraus als ein Mischmasch von heterogenen und widersprechenden Items. Originell bleibt ihm nur noch ein Platz im Budget, der, wo der "Times" 30.000-40.000 Pfd.St. jährlich erlassen werden durch Abschaffung des Stempels für die Beiblätter, die von allen Zeitungen nur die "Times" herausgibt. Umso fester bestand er - und so sehr hat er sich dadurch die Gunst der "Times" erworben, daß sie ihn auch in einem neuen Ministerium nicht vermissen will - auf Beibehaltung des Stempels für das Hauptblatt. Das waren Gladstones Meisterstücke, von denen die Koalition während der ganzen Session von 1853 zehrte.

<42> Die Charte der Ostindischen Kompanie lief ab mit dem 30. April 1854. Das Verhältnis Englands zu Indien mußte also neu reguliert werden. Die Koalition bezweckte, die Charte der Ostindischen Kompanie wieder für 20 Jahre zu erneuern. Sie fiel durch. Indien ist nicht von neuem für Dezennien an die Kompanie "verpachtet". Sie besteht nur noch auf "Ankündigung", die das Parlament ihr jeden Tag zuschicken kann. Dies, das einzig bedeutende Moment der Indiabill, wurde wider das Ministerium durchgesetzt. Mit Ausnahme einiger Winkelreformen im indischen Justizdienste und der Eröffnung der Zivilstellen und wissenschaftlichen Militärstellen für alle Befähigten kann der eigentliche Kern der indischen Reformbill so zusammengefaßt werden: das Gehalt des in London regierenden Ministers für Indien (Präsident des Board of Control <Kontrollbehörde (für indische Angelegenheiten)>) ist von 1.200 auf 5.000 Pfd.St. jährlich erhöht. Von 18 Direktoren wird die Regierung künftig 6, die Versammlung der Aktionäre der Ostindischen Kompanie nur noch 12 wählen. Das Gehalt dieser Direktoren wird von 300 auf 900 und das ihrer 2 Vorsteher von 400 auf 1.000 Pfd.St. erhöht. Außerdem wird die Stelle eines Gouverneurs von Bengalen (nebst seinem Regierungskollegium) künftig von der des Generalgouverneurs von Indien getrennt; nicht minder wird ein neuer Präsident nebst Kollegium für den eigentlichen Indusdistrikt geschaffen werden. Auf diese Erhöhung von Gehalten und Schöpfung von neuen Sinekuren beschränkt sich die indische Reform des Kabinetts aller Talente.

Die auf das Verhältnis von Grundherrn und Pächtern in Irland bezüglichen Bills hatte das Koalitionsministerium von seinen torystischen Vorgängern übernommen. Es durfte sich nicht von ihnen überbieten lassen. Es nahm sie auf und setzte sie kurz vor Schließung der Sitzung nach 10monatlicher Debatte im Unterhaus durch oder erlaubte ihnen vielmehr, dort zu passieren. Im Oberhause billigte Aberdeen dagegen, daß dieselben Bills verworfen würden - unter dem Vorwande, sie in der nächsten Sitzung näher zu prüfen und wieder aufzunehmen.

Die ministeriellen Bills für parlamentarische Reform, nationale Erziehung, Gesetz- und Gerichtsreform etc. wurden auf Verlangen des Kabinetts für die folgende Sitzung vertagt. Das große Werk "aller Talente" - die Bill für Regulation der Droschkenkutscher in London - wurde wirklich Gesetz, hatte aber kaum die Schwelle des Parlaments verlassen, als es umkehren mußte, um neu gemacht zu werden. Es hatte sich unausführbar gezeigt.

Endlich am 20. August ward das Parlament vertagt. Die auswärtige Politik des Ministeriums während dieser Session faßte Palmerston zusammen, indem <43> er das Parlament mit den Worten entließ: Es könne sich ruhig vertagen. "Er habe volles Vertrauen in die Ehre und den Charakter des russischen Kaisers", der die Donaufürstentümer freiwillig räumen werde.

Palmerstons öffentliche Einmischung in die auswärtige Politik beschränkte sich während der Sitzung von 1853 auf diese Erklärung, auf eine parlamentarische Rede einige Tage vor der Vertagung des Unterhauses, worin er die Verstopfung der Sulinamündung der Donau durch die Russen als einen schlechten Witz behandelte, endlich auf das in der Sitzung vom 15. April 1853 ihm abgepreßte Geständnis - bei Gelegenheit der sog. Kossuthschen Pulververschwörung <Siehe Band 9, S. 83-85> -, daß er die englische Polizei im Auftrage kontinentaler Höfe zur Überwachung der politischen Flüchtlinge verwende.