Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 18-21
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Aus dem Parlamente -
Vom Kriegsschauplatz


"Neue Oder-Zeitung" Nr. 53 vom 1 Februar 1855]

<18> London, 29. Januar. Unsere Beurteilung des englischen Parlaments findet sich heute bestätigt in der englischen Presse.

"Das Parlament von England", sagt der "Morning Advertiser", "hat sich wieder versammelt und trennte sich in der ersten Nacht unter Gelächter, das widerwärtiger als der Spaß eines Idioten am Sarge seines Vaters."

Auch die "Times" kann nicht umhin, zu bemerken:

"Es gibt sicher wenige, die nach Durchlesung der Debatten vom Freitag nicht von einer melancholischen Empfindung übermeistert werden. Sie wird sich bei näherer Analyse in die Überzeugung auflösen, daß unsere Legislatur, zusammenberufen bei der dringendsten Gelegenheit zur Erwägung der ernstesten Fragen, die wichtigsten Gegenstände Nebendingen nachsetzt und persönlichen und Parteiinteressen die Stunden widmet, die ausschließlich der verzweifelten Lage unserer Krimarmee gebühren."

Bei dieser Gelegenheit rät die "Times" denn auch, Palmerston zum Premierminister zu machen, weil er zum Kriegsminister "zu alt" sei. Dieselbe "Times" riet, die Krimexpedition zu einer Jahreszeit und mit einer Truppenstärke zu unternehmen, die, nach dem Zeugnis von Sir Howard Douglas, dem größten militärischen Kritiker Englands, ihr Mißlingen fast garantierten.

Zur Charakteristik der Freitagsitzung noch ein kleiner Nachtrag. Obgleich Roebuck durch sein seit Jahren chronisches Leiden gezwungen ward, seine Rede nach 10 Minuten abzubrechen und abrupt seinen Antrag zu stellen, hatte er Zeit genug gefunden, die fatale Frage zu formulieren: Wir haben 54.000 Mann wohlausgerüstete Truppen nach dem Orient gesandt. Davon existieren noch 14.000. Was ist aus den 40.000 geworden, die fehlen? Und wie <19> antwortete der Kriegsminister <Hier der Secretary at War (Staatssekretär für das Kriegswesen)> Sidney Herbert, der große Patron der englischen Pietisten, der Traktarianer? Das System tauge nichts. Aber wer widerstand vor wenigen Monaten, als die Trennung des Ministeriums für den Krieg vom Kolonialministerium durchgesetzt wurde, jeder gründlichen Reform des Systems? Sidney Herbert und seine Kollegen. Sidney Herbert, nicht zufrieden, sich hinter "das System" zu retten, klagt die Kommandeurs der Brigaden und Regimenter völliger Untüchtigkeit an. Wer das System kennt, weiß auch, daß diese Kommandeurs nichts mit der Verwaltung, also auch nichts mit der Mißverwaltung zu tun haben, die jetzt eingestandenermaßen eine Musterarmee geopfert hat. Aber der fromme Herbert hat noch nicht genug mit dem Beichten fremder Sünden. Die englischen Soldaten seien unbeholfen. Sie wüßten sich nicht selbst zu helfen. Tapfer seien sie, aber stupid.

"Zuschlagen, da sind sie respektabel,
Denken gelingt ihnen miserabel."

Er, Sidney Herbert, und seine Kollegen seien lauter verkannte Genies. Kann man sich wundern, daß Herberts Predigt den wunderlichen Drummond aufrief und ihm die Frage in den Mund legte, ob es nicht Zeit sei, die Konstitution zu suspendieren und einen Diktator für England zu ernennen? Vernon Smith, der Ex-Whigminister, gab schließlich der allgemeinen Konfusion den klassischen Ausdruck, indem er erklärte: Er wisse nicht, was die Motion eigentlich wolle, noch was er selbst solle, noch ob ein neues Ministerium im Entstehen begriffen, noch ob das alte je existiert habe, und darum wolle er nicht für die Motion stimmen, Die "Times" glaubt indes, daß die Motion heute abend durchgehn werde. Am 26. Januar 1810 wurde bekanntlich Widerstand geleistet im englischen Parlament gegen Lord Porchesters Antrag auf Niedersetzung eines Untersuchungskomitees über die Walcheren-Expedition. Ähnlicher Widerstand am 26. Januar 1855. Am 29. Januar 1810 passierte die Motion, und England ist ein Land der historischen Präzedenzien.

Die bloße Annahme der Friedensunterhandlungen erlaubte Rußland, soviel Truppen von der Observationsarmee an der österreichischen Grenze zu entziehen, als in 2 Monaten oder 10 Wochen wiederersetzt werden können, d.h. mindestens 60.000 - 80.000 Mann. Wir wissen nun, daß die gesamte ehemalige (russische) Donauarmee aufgehört hat, als solche zu existieren, da sich das 4. Korps seit Ende Oktober in der Krim befindet, das 3. dort in den letzten Tagen des Dezember anlangte und der Rest des 5. Korps nebst Kavallerie und Reserven auf dem Marsch dahin begriffen ist. Die neue <20> Verteilung dieser Truppen, die am Bug und Dnestr zu ersetzen sind durch Truppen von der Westarmee (stationiert in Polen, Wolhynien und Podolien), und die Tatsache, daß zudem Teile des 2. Korps und der Reservekavallerie ebenfalls nach der Krim marschieren, erklären, selbst ohne Rücksicht auf alle anderen diplomatischen Nebenzwecke, hinreichend, warum Rußland keinen Augenblick zauderte, die Unterhandlungen auf der sog. "Basis" wiederaufzunehmen. Zwei bis drei Monate Zeit sind von entscheidender Wichtigkeit für es, weil seine auf der langen Linie von Kalisch nach Ismail zerstreute Armee ohne Verstärkungen nicht länger fähig ist, der wachsenden Zahl der ihr gegenüberstehenden österreichischen Armee zu widerstehen. Um dies näher zu zeigen, geben wir folgende aus den möglichst besten Quellen geschöpfte und die russische Streitkraft eher über- als unterschätzende Übersicht über die Stärke und Stellung der russischen großen aktiven Armee, die bestimmt ist, gegen den Süden und Westen Europas zu agieren. Sie bestand ursprünglich aus 6 Armeekorps, jedes von 48 Bataillons, 2 Korps auserlesener Truppen (Garden und Grenadiere), jedes 36 Bataillons stark, nebst einer verhältnismäßig starken Anzahl von Kavallerie, regelmäßiger und unregelmäßiger, und Artillerie. Die russische Regierung rief dann die Reserven ein, um das 4., 5. und 6. Bataillon der auserlesenen Truppen und das 5. und 6. Bataillon der anderen Armeekorps zu formieren. Bald darauf fügte sie durch neue Truppenaushebungen ein 7. und 8. Bataillon jedem Regiment hinzu, so daß die Anzahl der Bataillons für die Linienkorps verdoppelt und für die auserlesenen Truppen mehr als verdoppelt wurde.

Diese Streitkräfte können annäherungsweise veranschlagt werden wie folgt: Garden und Grenadiere - die ersten 4 Bataillons pro Regiment = 96 Bataillons zu 900 Mann = 86.400 Mann, dito die letzten 4 Bataillons pro Regiment, dito zu 700 Mann = 67.200 Mann. 1. und 2. Korps (noch nicht engagiert) - die ersten vier Bataillons pro Regiment 96 Bataillons zu 900 Mann = 86.400 Mann. Die letzten 4 Bataillons pro Regiment 96 Bataillons zu 700 Mann = 67.200 Mann. 3., 4., 5., 6. Korps - die ersten 4 Bataillons pro Regiment = 192 Bataillons zu 500 Mann = 96.000 Mann; die letzten 4 Bataillons pro Regiment 192 Bataillons zu 700 Mann = 134.400 Mann. Korps von Finnland - 14.400 Mann. [Gesamtzahl] = 784 Bataillons [mit] 552.000 Mann. Kavallerie (reguläre) - 80.000 Mann. Kavallerie (irreguläre) - 46.000 Mann. Artillerie - 80.000 Mann. Gesamtzahl 758.000 Mann. Die Verluste fielen bisher nur auf die 96 aktiven Bataillons des 3., 4., 5. und 6. Korps.

Nach Abzug der 1. Division des 5. Korps, die am Kaukasus steht, bleiben 750.000 Mann, die nun folgendermaßen disloziert sind. An den Ufern des Baltischen Meeres die Baltische Armee unter General Sievers, bestehend aus <21> dem Finnischen Korps und den Reserven der Garden, Grenadiere und des 6. Korps, zusammen mit Kavallerie usw. ungefähr 135.000 Mann, wovon ein Teil rohe Rekruten und kaum organisierte Bataillons. In Polen und an der Grenze von Galizien, von Kalisch bis Kamenez, die Garden, Grenadiere, das 1. Korps, die 2. Division des 6. Korps, einige Reserven der Grenadiere und des 1. Korps nebst Kavallerie und Artillerie, ungefähr 235.000 Mann. Dies ist der auserlesenste Teil der russischen Armee, kommandiert von [Michail Dmitrijewitsch] Gortschakow. In Bessarabien und zwischen Dnestr und Bug zwei Divisionen des 2. Korps und ein Teil seiner Reserven, ungefähr 60.000 Mann. Diese bildeten einen Teil der Armee des Westens. Als aber die Donauarmee nach der Krim gesandt wurde, wurden sie, um deren Stelle einzunehmen, von der Westarmee detachiert und stehen nun der österreichischen Armee in den Fürstentümern gegenüber unter dem Kommando des Generals Panjutin. Für die Verteidigung der Krim bestimmt: 3. und 4. Korps, 2 Divisionen des 6. Korps und Reserven nebst 1 Division sowohl des 2. als 5. Armeekorps auf dem Marsche, alles zusammen mit Kavallerie an 170.000 Mann unter Menschikow. Der Rest der Reserven und neu gebildeten Bataillons, besonders des 1., 2., 3., 4., 5. Korps, wird neu organisiert als große Reservearmee durch General Tscheodajew. Sie ist konzentriert im Innern von Rußland, ungefähr 150.000 Mann stark. Wie viele davon nach Polen oder dem Süden marschieren, ist unbekannt.

Während Rußland also Ende vergangenen Sommers weniger als 500.000 Mann an den westlichen Grenzen seines Reiches musterte, von Finnland bis zur Krim, zählt es jetzt 600.000 Mann, außer einer Reservearmee von 150.000 Mann. Trotzdem ist es schwächer gegen Österreich als damals. Damals, August und September, standen in Polen und Podolien 270.000 Russen, während die Armee am Pruth, Dnestr, der Donau ungefähr 80.000 Mann betrug, zusammen 350.000 Mann, die zusammen gegen Österreich operieren konnten. Jetzt nur noch 295.000 Mann, während Österreich ihnen 320.000 direkt entgegenstehen hat und sie mit 70.000-80.000 in Böhmen und Mähren unterstützen kann. Rußland kann daher in diesem Augenblicke keine Offensivoperation wagen, was in einem offenen Land wie Polen, ohne große Flußlinien zwischen den zwei Armeen, gleichbedeutend ist mit der Notwendigkeit, sich auf eine haltbare Position zurückzuziehen. Griffe Österreich jetzt an, so müßte sich die russische Armee in zwei Hälften spalten, wovon die eine auf Warschau, die andere auf Kiew retirieren müßte, zwischen beiden die unzugänglichen Moräste des Polesje, die vom Bug zum Dnepr reichen. Daher in diesem Augenblicke Zeitgewinn entscheidend für Rußland. Daher seine "diplomatischen Erwägungen".