Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 12-17
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
Geschrieben um den 29. Januar 1855.
Aus dem Englischen.
["New-York Daily Tribune" Nr. 4316 vom 17. Februar 1855, Leitartikel]
<12> Während der Zeitpunkt für den Beginn der neuen Konferenz in Wien näherrückt, verlieren sich die Chancen auf irgendwelche Konzessionen seitens Rußlands in einer nebelhaften und höchst ungewissen Ferne. Der glänzende Erfolg dieses großartigen diplomatischen coup, des Zaren prompte Annahme der vorgeschlagenen Verhandlungsbasis, bringt ihn, zumindest für den Augenblick, in eine dominierende Position und macht es sicher, daß, unter welchen Vorwänden er auch den Friedensvorschlägen zustimmen mag, die einzige reale Basis, auf der er jetzt den Streit beizulegen einwilligen wird, im wesentlichen die des Status quo ist. Mit der Annahme der vier Punkte hat er Österreich in eine zweideutige Stellung zurückgeworfen, während er Preußen an seinem Gängelband hält und Zeit gewinnt, um seine ganzen Reserven und neue Truppenformationen an die Grenze zu werfen, bevor die Feindseligkeiten beginnen können.
Die bloße Tatsache, daß man sich auf Unterhandlungen geeinigt hat, setzt zugleich soviel russische Soldaten der Observationsarmee an der österreichischen Grenze frei, als in zwei Monaten oder zehn Wochen ersetzt werden können - das sind mindestens 60.000-80.000 Mann. Da die gesamte ehemalige Donauarmee aufgehört hat, als solche zu existieren, das 4. Korps sich seit Ende Oktober in der Krim befindet, das 3. Korps dort in den letzten Tagen des Dezember anlangte und der Rest des 5. Korps nebst Kavallerie und Reserven jetzt auf dem Wege dorthin begriffen ist, müssen diese Truppen am Bug und am Dnestr durch frische Truppen ersetzt werden, die von der Westarmee in Polen, Wolhynien und Podolien zu nehmen sind. Folglich, wenn der Krieg nach dem Zentrum des Kontinents verlegt wird, sind für Rußland zwei oder drei Monate Zeit von größter Wichtigkeit. Denn im gegenwärtigen Augenblick sind die auf der langen Linie von Kalisch nach <13> Ismail zerstreuten Kräfte ohne Verstärkungen nicht länger fähig, der wachsenden Zahl der ihnen gegenüberstehenden österreichischen Truppen zu widerstehen. Diese Zeit hat Rußland nun gewonnen, und wir gehen dazu über, den gegenwärtigen Stand seiner militärischen Vorbereitungen darzulegen.
Wir haben bei früheren Gelegenheiten die russische militärische Organisation kurz aufgezeichnet. Die große aktive Armee, die bestimmt ist, gegen den Süden und Westen Europas zu agieren, bestand ursprünglich aus sechs Armeekorps mit je 48 Bataillonen, zwei Korps auserlesener Truppen, jedes 36 Bataillone stark, nebst einer verhältnismäßig starken Anzahl von Kavallerie, regelmäßiger und unregelmäßiger, und Artillerie. Wie wir schon meldeten, rief die Regierung nicht nur die Reserven ein, um das vierte, fünfte und sechste Bataillon der auserlesenen Truppen und das fünfte und sechste der anderen sechs Armeekorps zu formieren, sondern durch neue Aushebungen war sogar das siebente und achte Bataillon bei jedem Regiment formiert worden, so daß die Anzahl der Bataillone für die sechs Linienkorps verdoppelt und für die auserlesenen Truppen (Garden und Grenadiere) mehr als verdoppelt wurde. Diese Streitkräfte können jetzt annäherungsweise veranschlagt werden wie folgt:
Garden und Grenadiere - |
96 Bataillone zu 900 Mann |
86.400 |
Garden und Grenadiere - |
96 Bataillone zu 700 Mann |
67.200 |
1. und 2. Korps (noch nicht engagiert) - |
96 Bataillone zu 900 Mann |
86.400 |
1. und 2. Korps - die letzten vier Bataillone pro Regiment |
96 Bataillone zu 700 Mann |
67.200 |
3., 4., 5., 6. Korps - die aktiven Bataillone |
192 Bataillone zu 500 Mann |
96.000 |
3., 4., 5., 6. Korps - die letzten vier Bataillone pro Regiment |
192 Bataillone zu 700 Mann |
134.400 |
Korps von Finnland |
16 Bataillone zu 900 Mann |
14.400 |
Gesamtzahl |
784 |
552.000 |
Hinzukommen: |
Kavallerie, reguläre |
80.000 |
Kavallerie, irreguläre |
46.000 |
|
Artillerie |
80.000 |
|
Gesamtzahl |
758.000 |
<14> Ein Teil dieser Schätzungen mag hoch erscheinen, in Wirklichkeit sind sie es aber nicht. Die riesige, seit Kriegsbeginn vorgenommene Rekrutierung sollte, ungeachtet der erlittenen Verluste, die alle auf die 96 aktiven Bataillone des 3., 4., 5. und 6. Korps fielen, die Reihen der Armee in einem noch größeren Maße anschwellen lassen, jedoch haben wir reichlich die Rekruten in Abzug gebracht, die sterben, bevor sie ihre Regimenter erreichen. Außerdem ist unsere Schätzung hinsichtlich der Kavallerie sehr niedrig.
Von den obengenannten Truppen sind 8.000 Mann (eine Division des 5. Korps) im Kaukasus und müssen daher abgezogen werden; denn hier lassen wir die außerhalb Europas beschäftigten Streitkräfte unbeachtet. Die verbleibenden 750.000 Mann sind ungefähr wie folgt verteilt: An den Ufern des Baltischen Meeres die Baltische Armee unter General Sievers, bestehend aus dem Finnischen Korps und den Reserven der Garden, Grenadiere und des 6. Korps, zusammen mit Kavallerie und Artillerie ungefähr 135.000 Mann; einen Teil von ihnen kann man jedoch als noch ungedrillte Rekruten und kaum organisierte Bataillone betrachten. In Polen und an der Grenze von Galizien, von Kalisch bis Kamenez, die Garden, Grenadiere, das 1. Korps, eine Division des 6. Korps und einige Reserven der Grenadiere und des 1. Korps nebst Kavallerie und Artillerie, ungefähr 235.000 Mann. Diese Armee ist der beste Teil der russischen Truppen; er enthält die auserlesenen Truppen und die besten der Reserven. In Bessarabien und zwischen dem Dnestr und Bug befinden sich zwei Divisionen des 2. Korps und ein Teil seiner Reserven, ungefähr 60.000 Mann. Diese bildeten einen Teil der Armee des Westens, aber nachdem die Donauarmee nach der Krim gesandt wurde, wurden sie, um deren Stelle einzunehmen, detachiert. Sie stehen nun den österreichischen Truppen in den Fürstentümern gegenüber unter dem Kommando des Generals Panjutin. Für die Verteidigung der Krim sind unter dem Kommando von Menschikow bestimmt: das 3. und 4. Korps, eine Division des 5. Korps, zwei Divisionen des 6. Korps und einige Reserven, die bereits dort sind, außerdem je eine Division des 2. und 5. Korps auf dem Marsch; das Ganze bildet zusammen mit Kavallerie und Artillerie eine Streitmacht, die man schwerlich auf weniger als 170.000 Mann schätzen kann. Der Rest der Reserven und der neuen Formationen, besonders des 1., 2., 3., 4. und 5. Korps wird jetzt zu einer großen Reservearmee durch General Tscheodajew organisiert. Sie sind konzentriert im Innern Rußlands und müssen ungefähr 150.000 Mann zählen. Wie viele davon nach Polen oder dem Süden marschieren, kann man natürlich nicht sagen.
Somit hat der Kaiser Nikolaus, der im vergangenen Sommer weniger als 500.000 Mann an der westlichen Grenze seines Reiches, von Finnland bis <15> zur Krim, zählte, jetzt 600.000 Mann dort aufgestellt, außer einer Reserve, die im Innern des Landes in einer Stärke von 150.000 Mann formiert wird. Trotzdem ist er gegenüber Österreich jetzt schwächer als damals. Im August oder September standen in Polen und Podolien 270.000 Russen und am Pruth und Dnestr die ungefähr 80.000 Mann zählende Donauarmee; die letztere wurde dort auch mehr um der Österreicher wegen gehalten, denn für irgend etwas anderes. Das sind insgesamt 350.000, die gegen Österreich operiert haben könnten. Jetzt sind dort, wie wir gesehen haben, nur 295.000 Mann entlang der österreichischen Vorpostenlinie konzentriert, während Österreich ihnen nun 320.000 Mann direkt entgegenzustellen hat und zu ihrer Unterstützung 70.000-80.000 Mann in Böhmen und Mähren. Diese augenblickliche zahlenmäßige Unterlegenheit auf der russischen Seite sowie die große Unsicherheit, daß in dieser Jahreszeit rechtzeitig neue Formationen aus dem Inneren des Landes ankommen werden, und in einem Land, wo die ganze Verwaltung korrupt ist, sind durchaus hinreichende Gründe für die russische Regierung, zu versuchen, soviel Zeit wie möglich zu gewinnen. Solch eine zahlenmäßige Unterlegenheit macht die Russen für Offensivoperationen kampfunfähig, und in einem offenen Land wie Polen, ohne große Flußlinien zwischen den beiden Armeen, ist dies gleichbedeutend mit der Notwendigkeit, beim ersten Gefecht sich auf eine haltbare Position zurückzuziehen. In diesem besonderen Falle bedeutet es, die russische Armee in zwei Teile zu spalten, wovon der eine auf Warschau, der andere auf Kiew retirieren müßte; zwischen diesen beiden Hälften würden die unzugänglichen Moräste des Polesje liegen, die vom Bug (nicht dem südlichen Bug, sondern einem Nebenfluß der Weichsel) bis zum Dnepr reichen. Tatsächlich wäre es ein größeres Glück, als die Russen gewöhnlich in solchen Fällen haben, wenn eine große Anzahl der Gefahr entgeht, in diese Sümpfe getrieben zu werden. Somit müßte, sogar ohne eine Schlacht, der größere Teil Südpolens, Wolhyniens, Podoliens, Bessarabiens, die Gegend von Warschau bis Kiew und Cherson evakuiert werden. Andererseits könnte eine überlegene russische Armee ebenso leicht, ohne eine entscheidende Schlacht zu riskieren, die Österreicher aus Galizien und der Moldau vertreiben und die Pässe nach Ungarn erobern; die Konsequenzen eines solchen Ergebnisses kann man sich leicht vorstellen. In der Tat, in solch einem Krieg wie dem zwischen Österreich und Rußland ist für jede Partei die erste erfolgreiche Offensivbewegung von der größten Bedeutung, und jede wird das Äußerste tun, um sich als erste auf dem Gebiet der anderen festzusetzen.
Wir haben oft gesagt, daß dieser Krieg nicht das militärische Interesse haben würde, das eigentlich europäischen Kriegen beigemessen wird, bis <16> Österreich sich gegen Rußland erklärt. Selbst die Kämpfe auf der Krim sind nichts anderes als ein großer Krieg im kleinen Maßstabe. Die gewaltigen Märsche der Russen, die Leiden der Alliierten haben die kriegführenden Armeen so weitgehend reduziert, daß keine wirklich große Schlacht ausgetragen worden ist. Was sind das für Kämpfe, wo auf jeder Seite nur 15.000 bis 20.000 Mann ins Gefecht gebracht werden? Welche strategischen Operationen von wirklich wissenschaftlichem Interesse können innerhalb des kleinen Raumes von Chersones bis Bachtschissarai stattfinden? Und selbst da, was auch immer sich ereignen mag, reichen die Truppen niemals aus, um die ganze Linie zu besetzen. Das Interesse besteht mehr darin, was nicht getan wird, als was getan wird. Im übrigen wird an Stelle von Geschichte eine Anekdote aufgeführt.
Es wird jedoch eine andere Sache sein, wenn die beiden großen sich jetzt an der galizischen Grenze gegenüberstehenden Heere in Aktion treten. Welche Absichten und Fähigkeiten die Kommandeure haben mögen, allein die Größe der Armeen und die Beschaffenheit des Bodens lassen keinen Scheinkrieg und keine Unentschlossenheit zu. Schnelle Konzentrationen, Eilmärsche, Kriegslisten und Umgehungsmanöver der größten Art, Wechseln der Operationsbasen und -linien - in der Tat, Manövrieren und Kämpfen im großen Maßstab und gemäß wirklich militärischen Prinzipien werden hier zu einer Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit. Dann wird derjenige Kommandeur, der sich von politischen Erwägungen beeinflussen läßt oder mit mangelnder Entschlossenheit handelt, seine Armee verlieren. In solch einem Ausmaße und solch einem Lande nimmt der Krieg sofort eine ernste und sachliche Wendung. Das würde, wenn er ausbricht, einen Russisch-Österreichischen Krieg zu einem der interessantesten Ereignisse seit 1815 machen.
Was die Aussicht auf den Frieden anbelangt, so ist das keinesfalls so klar, als es vor wenigen Wochen schien. Wenn die Alliierten bereit sind, dem Kampfe im wesentlichen unter den Bedingungen des Status quo ein Ende zu setzen, könnte es zum Frieden kommen, doch wie wenig Hoffnung darauf besteht, brauchen wir unseren Lesern nicht zu erklären. Gewiß können wir nicht erwarten, daß Rußland - da die Hälfte Deutschlands zumindest moralisch zu seinen Gunsten handelt, und nachdem es die riesigen Armeen, deren Stärke wir oben dargelegt haben, aufgestellt hat - irgendwelchen Bedingungen zustimmt, die Frankreich und England wahrscheinlich vorschlagen oder gutheißen werden. Der fast ununterbrochenen Reihe von vorteilhaften Friedensverträgen, von Peter dem Großen bis zum Frieden von Adrianopel, wird jetzt kaum ein Vertrag folgen, der die Beherrschung des Schwarzen <17> Meeres preisgibt, noch bevor Sewastopol genommen und erst ein Drittel der russischen Streitkräfte engagiert worden ist. Wenn aber der Friede nicht vor dem Fall Sewastopols geschlossen werden kann oder bevor die Expedition der Alliierten voll entfaltet ist, wird er weniger wahrscheinlich sein, nachdem der Krimfeldzug entschieden ist. Fällt Sewastopol, wird die Ehre Rußlands - werden die Alliierten geschlagen und ins Meer getrieben, wird deren Ehre es nicht erlauben, ein Übereinkommen abzuschließen, bis nicht entscheidendere Ergebnisse erzielt worden sind. Wären die Vorbereitungen für die Konferenz von einem Waffenstillstand begleitet gewesen, wie wir andeuteten, als wir erfuhren, daß der Zar die vier Punkte akzeptiert hat, hätte Grund bestanden, weiterhin Hoffnungen auf Frieden zu hegen; jedoch unter den gegenwärtigen Umständen müssen wir einräumen, daß ein großer europäischer Krieg viel wahrscheinlicher ist.