Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 624-626
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
Geschrieben am 19. Januar 1855.
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 37 vom 23. Januar 1855]
<624> London, 19. Januar. Sir Howard Douglas hat eine neue Ausgabe seines berühmten Werkes über "Naval Gunnery" mit einem kritischen Anhang über die Ereignisse des letzten Krieges vermehrt. Er beweist unter anderem aus den jüngsten Erfahrungen und auf offizielles und ihm allein zu Gebot stehendes Material gestützt, daß Flotten unzureichend sind gegen kasemattierte Forts, wenn letztere richtig konstruiert und ordentlich verteidigt sind; die Nutzlosigkeit von Bomben gegen solides Mauerwerk; endlich, daß in Türme und kasemattierte Forts, wie die von Bomarsund und Sewastopol Bresche nur durch schweres Belagerungsgeschütz - mindestens 32pfünder - geschossen werden kann, und zwar in der alten Manier, während das unsichere Zielen vom Borde eines Schiffes nie eine Bresche bewirken werde, ohne das Schiff sicherer Zerstörung auszusetzen. Was den Krimfeldzug im besonderen betrifft, so kommt Douglas trotz aller seiner Parteilichkeit für die Befehlshaber in der Krim und mit aller offiziösen Rücksicht für seine offizielle Stellung zu dem Resultat, daß die Krimexpedition sich schließlich als ein Fehlschlag herausstellen wird. Aber hat nicht der Donnergott der "Times" die große Neuigkeit mitgeteilt, daß Sewastopol gestürmt werden sollte nach vierzigstündiger Kanonade! Sie habe es von sicherer Quelle, nur um ihre Information den Russen vorzuenthalten, erzähle sie nicht alles über ein Ereignis, das gerade in diesen Tagen (siehe ihre Nummern vom 26. bis 31 .Dezember) stattfinden werde. Es sei unzweifelhaft, Sewastopol werde in diesen Tagen genommen sein. Die Sache hängt so zusammen. Die "Times" machte bekanntlich eine wütende Opposition gegen die Fremdenlegion-Bill, weil sie diese Maßregel erst mit dem übrigen profanen Publikum kennenlernte. Sie begann nun zu grameln und grummeln und quengeln mit dem Ministerium. Letzteres, um sie zum Schweigen zu bringen, war feig genug, ihr ein <625> Stück Neuigkeit hinzuwerfen - den Sturm von Sewastopol, wobei das Ministerium eine für gewisse Fälle und unter gewissen Bedingungen ausgesprochene Absicht der Generale in einen positiven Feldzugsplan verwandelte. Daß die französischen Blätter - also halboffizielle Organe - ähnliches berichteten, ist nicht zu verwundern, denn das Anlehen von 500 Millionen stand vor der Türe. Daß die "Times" geprellt wurde, ist ebenso erklärlich. Sie glaubt jede Nachricht, die sie 24 Stunden vor jeder andern Zeitung erhält.
Der Zustand in der Krim hat sich wenig gebessert. Während die Verluste der Franzosen von Krankheit verhältnismäßig gering sind, während ihre Kavallerie wohlberitten und ihre Infanterie munter und aktiv ist, fahren die Briten fort, 150 Mann täglich ins Spital zu senden und 40 bis 50 Tote herauszutragen. Ihre Artillerie ist ohne Pferde und ihre Kavallerie demontiert, damit ihre Pferde sich vollständig abnutzen im Aufschleppen schwerer Kanonen von Balaklawa. Das Wetter wechselt alle zwei und drei Tage zwischen Regen und leichtem Frost, so daß die Masse des "Schlammes" keineswegs abgenommen. Da fast alle Transportmittel absorbiert sind durch die Armeeprovisionen, die herbeizuschaffen erste Notwendigkeit bleibt, so können weder Kanonen noch Ammunition heraufgebracht werden. Unterdessen sind die Laufgräben den feindlichen Werken genähert, und eine dritte Parallele ist errichtet worden, die nicht bewaffnet werden kann, aber doch gegen Ausfälle zu verteidigen ist. Wie nahe die Laufgräben den nächsten angegriffenen Punkten sind, ist unmöglich zu sagen, da die Berichte widersprechend und natürlich nicht offiziell veröffentlicht sind. Einige sagen 140 oder 150 Yards, während nach einem französischen Bericht der nächstliegende Punkt noch 240 Yards entfernt ist. Unterdessen haben die französischen Batterien, die nun vollendet und montiert sind, zu warten, weil die desultorische und völlig nutzlose Kanonade vom November die Munitionsvorräte reduziert hat und die Wiederholung eines so desultorischen Feuers abgeschmackt sein würde. So hatten und haben die Russen hinreichende Zeit, nicht nur allen durch die früheren Angriffe zugefügten Schaden auszubessern, sondern neue Werke aufzuführen, und sie tun dies mit solchem Eifer, daß Sewastopol in diesem Augenblicke fester ist als je zuvor. Ein entscheidender Sturm liegt ganz außer dem Bereich der Eventualitäten, wo verschiedene Verteidigungslinien nacheinander genommen und wo hinter der letzten Ringmauer die großen Steingebäude der Stadt in ebenso viele Redouten verwandelt worden sind. Wenn immer die Belagerung wieder beginnt, muß alles von vorne wieder angefangen werden, nur mit dem Unterschied, daß die Batterien der Stadt beträchtlich näher gerückt und folglich wirksamer sind. Aber zu welchem Preise ist dieser <626> Vorteil erkauft! Es war gerade die Arbeit, so ausgedehnte Laufgräben zu bewachen, welche die meisten Krankheitszufälle in der britischen Armee verursachte, indem sie die Soldaten übertrieben des Schlafes beraubte. Daneben waren die Russen tätig genug in Ausfällen, die, wenn nicht stets glücklich, immer hinreichten, um einen bereits überarbeiteten Feind abzuarbeiten.<1> Die türkische Armee langte unterdes allmählich in Eupatoria an, von wo sie gegen Simferopol zu operieren und gleichzeitig die Nordseite von Sewastopol zu beobachten hat. Diese Operation, die die Türken ganz von der englisch-französischen Armee trennt und so zwei ganz verschiedene Armeen bildet, ist ein neuer strategischer Mißgriff, der die Russen einladet, sie jede besonders zu schlagen. Aber er war unvermeidlich. Es wäre noch fehlerhafter gewesen, noch mehr Truppen auf dem kleinen Herakleatischen Chersones zusammenzuhäufen. So entwickeln sich die Folgen des berühmten "Flankenmarsches von Balaklawa".<2>
Textvarianten
<1> In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4304 vom 3. Februar 1855, in der dieser Artikel ebenfalls erschien, ist hier folgender Satz eingefügt: "Auch scheint es, daß die Verstärkungen der Briten und Franzosen fast alle eingetroffen sind, und bevor nicht neue Regimenter für die Einschiffung bereitgestellt werden, wird die Stärke der beiden Armeen in der Krim nur sehr wenig zunehmen." <=
<2> In der "New-York Daily Tribune" schließt der Artikel wie folgt: "So sehen wir die Folgen des berühmten Flankenmarsches von Balaklawa sich in immer wieder neuen falschen Bewegungen entwickeln. Daß die Türken wohl geschlagen werden, ist sehr wahrscheinlich; sie sind nicht mehr die Armee von Kalafat und Silistria. Desorganisation, Nachlässigkeit und Mangel an allem haben diese Armee verwandelt, und die Türkei hat keine zweite, sie zu ersetzen. Unter diesen Umständen ist nichts unwahrscheinlicher, als daß die Friedensverhandlungen durch den Fall von Sewastopol gestört werden. Zu keiner Zeit seit der Landung der Alliierten war dieses Ereignis weniger wahrscheinlich als gegenwärtig. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, daß es in der ganzen Kriegsgeschichte keinen bemerkenswerteren Mißerfolg gibt als diesen Krimfeldzug." <=