Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 610-615
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 20 vom 13. Januar 1855]
<610> London, 9. Januar. Die Wiener telegraphische Depesche über die Annahme der vier Punkte von seiten Rußlands bewirkte einerseits ein Steigen der Consols auf der hiesigen Börse - einen Augenblick 21/2 p.c. über der Rate von Sonnabend, andererseits eine wahre Panik im Talg-, Öl- und Samenmarkt, wo ein baldiger Friedensabschluß das Signal für enorme Bankerutte geben würde. Heute ist die Aufregung unter den Cityleuten wieder verschwunden, die nun ziemlich übereinstimmend die Unterhandlungen über die vier Punkte als eine zweite Auflage der Verhandlungen über die "Wiener Note" betrachten. Nach dem durchaus ministeriellen "Morning Chronicle" war es übereilt, von einer wirklichen Annahme der verlangten Garantien von seiten Rußlands zu sprechen. Es habe sich nur bereit erklärt, auf ihrer Grundlage, so wie sie von den drei Mächten gemeinsam interpretiert werde, zu unterhandeln. Die "Times" glaubt, einen Sieg der westlichen Politik feiern zu dürfen, und erklärt bei dieser Gelegenheit:
"Wir können nicht zu entschieden die Annahme zurückweisen, als solle dieser Krieg eine sogenannte Revision der Karte von Europa herbeiführen, mittelst Eroberungen oder Revolutionen, in denen dieses Land wenigstens durchaus kein Interesse hat."
"Die Alliierten", sagt die "Morning Post", "haben genug getan, um sich mit Ehren vom Kriegsschauplatz zurückziehen zu können, wenn ihre Bedingungen angenommen werden."
Nach der "Daily News" bezweckt Rußland durch Wiederaufnahme der Unterhandlungen, Preußens Glauben an seine Mäßigung zu befestigen, Zwietracht zwischen den deutschen Mächten zu schüren und das Verhältnis der Westmächte zu Österreich zu lockern. Wichtig in den vier Punkten sei nur der Zusatzartikel, wonach der Dardanellenvertrag vom 13. Juli "im <611> Sinne einer Beschränkung der russischen Seemacht im Schwarzen Meere" revidiert werden solle. Man munkle in der City, daß das Ministerium bereit sei, diesen Zusatzartikel fallenzulassen. Der "Morning Advertiser" endlich erklärt, der letzte russische Schritt sei mit Österreich verabredet worden, um letzterem Gelegenheit zu geben, seine Verpflichtungen gegen die Westmächte loszuwerden. Nach einer neu eingetroffenen Depesche ist stipuliert, daß die Unterhandlungen die Kriegsoperationen nicht unterbrechen sollen.
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 23 vom 15. Januar 1855]
London, 12. Januar. Die unbedingte Annahme der "vier Punkte" - und zwar der "vier" Punkte im Sinne der "drei" Mächte - von seiten Rußlands hat sich jetzt als ein "hoax" <eine Zeitungsente> der "Morning Post" und der "Times" herausgestellt. Wir waren um so geneigter, an den "hoax" zu glauben, als wir aus Pozzo di Borgos geheimen, aber infolge der Warschauer Insurrektion bekannt gewordenen Depeschen wissen, daß dieser Meister der Diplomatie das Prinzip aufstellt:
"Rußland müsse sich in allen Kollisionsfällen seine eigenen Bedingungen von den europäischen Großmächten aufzwingen lassen."
Und wir können in den "vier" Punkten nur "vier" russische Pointen erblicken. Wenn Rußland sie einstweilen nicht akzeptiert, so finden wir auch dafür die Erklärung in Meister Pozzo di Borgo. Rußland, erklärt er, dürfe solche scheinbare Konzessionen an den Westen nur von einem siegreichen Heerlager aus machen. Dies sei nötig zur Erhaltung des "Prestige", worauf seine Macht beruhe. Und bisher hat Rußland es zwar zu einem "Heerlager", aber noch zu keinem "Siege" gebracht. Wäre Silistria gefallen, so wären die "vier Punkte" längst aufgestellt. Nach der "Times" und der "Morning Post" waren die "vier Punkte" im Sinne der "drei Mächte" als Grundlage der Unterhandlungen angenommen, um von ihnen als Minimum fortzuschreiten. Es stellt sich jetzt heraus, daß Prinz Gortschakow sie als ein problematisches Maximum versteht, von dem aus vielmehr herabgedingt werden soll, oder die überhaupt nur die Bestimmung haben, den Vorwand zu einer zweiten "Wiener Konferenz" zu liefern. Die "Morning Post" vertraut uns heute in einem wichtigtuenden, diplomatisch-orakelnden Leader <Leitartikel>, daß die einstweiligen Zusammenkünfte der Diplomaten zu Wien nur die Vorschule zur <612> wirklichen Konferenz bilden, die sich erst am 1. Februar versammeln und sicher nicht verfehlen werde, die Welt mehr oder minder zu überraschen.
Gestern war folgende Bekanntmachung der Admiralität in Lloyd's House angeschlagen:
"Mit Bezugnahme auf den letzten Paragraph meines Briefes vom 8. November (1854), der die Mitteilung enthielt, daß die französischen und englischen Admiräle im Schwarzen Meere Befehl von ihren respektiven Regierungen erhalten haben, die Blockade von den Mündungen der Donau auf alle Häfen des Schwarzen Meeres und des Sees von Asow, die noch im Besitz des Feindes sind, auszudehnen, bin ich beordert von den Lords der Admiralität, Ihnen bekanntzumachen, damit Kenntnis davon an das kommerzielle Publikum gelange, daß die Regierungen von England und Frankreich ferner beschlossen haben, daß die fragliche Blockade am und nach dem 1. Februar (1855) eintreten, und daß in der Londoner 'Gazette' gebührende Notiz von der Blockade der besonderen Häfen gegeben werden soll, sobald solche in Kraft gesetzt ist. Gez.: W. A. B. Hamilton."
Hier ist denn offen eingestanden, daß die alliierten Flotten bisher nur ihre eignen Bundesgenossen an der Donaumündung, aber weder die russischen Häfen im Schwarzen Meere noch im Asowschen See blockiert haben. Dennoch hatte das Ministerium wiederholt im Parlament erklärt - im April, im August und Oktober -, es habe die "striktesten Befehle" zur Blockade der Hafen und Küsten von Rußland gegeben. Noch am 21. Dezember erklärte Lord Granville dem Oberhause im Namen des Ministeriums,
"daß Odessa durch fünf Kriegsschiffe blockiert sei, die beständig vor dem Hafen auf- und abkreuzten und von denen die Regierung fortwährend Berichte erhalte".
In einem Briefe, gerichtet an ein Tagesblatt, resumiert ein bekannter englischer Pamphletist die Folgen der von der Koalition ergriffenen, oder vielmehr nicht ergriffenen Blockademaßregeln dahin:
"1. Die englische Regierung liefert von England aus dem Feinde Englands die Geldmittel, um den Krieg gegen es fortzuführen. 2. Die Donau wird blockiert, um die Fürstentümer zu verarmen und uns selbst die Kornzufuhren abzuschneiden. 3. Odessa, Taganrog, Kertsch etc. bleiben unbelästigt, um Verstärkungen, Ammunition und Provisionen den russischen Truppen in der Krim zu liefern. 4. Die Scheinblockade ruiniert unsere Kaufleute. während sie die griechischen, russischen und österreichischen bereichert."
Auch die "Times" nimmt von der Anzeige des Herrn Hamilton Gelegenheit zu heftigen Ausfällen auf die "Blockadediplomatie" des Ministeriums. Charakteristisch für den Donnerei von Printing-House-Square <Platz in London, Sitz der Redaktion der "Times"> ist, daß seine <613> Donner immer post festum <hinterher> geschleudert worden. Vom 26. März 1854 bis heute verteidigte die "Times" die "Blockadediplomatie". Heute, wo ihr Gepolter keine ministeriellen Maßregeln durchkreuzt, wohl aber ihre Popularität gewinnt, wird sie plötzlich zur Hellseherin.
Der Marineminister oder wie er hier heißt, der Erste Lord der Admiralität, Sir James Graham, ist auf dem Kontinente hinreichend bekannt wegen jener Großtat im schwarzen Kabinette, die die Brüder Bandiera aufs Schafott führte. Weniger verbreitet dürfte die Tatsache sein, daß Sir James Graham 1814, als der Kaiser Nikolaus an der englischen Küste landete, die ihm dargereichte kaiserliche Hand nicht zu drücken, sondern nur zu küssen wagte. (S. "Portfolio", 2. Serie, Jahrgang 1844.)
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 29 vom 18. Januar 1855]
London, 15. Januar. Zur Beurteilung der vier Punkte:
"Auf dem Wege der Diplomatie kann nichts weiter geschehen bis zum 1. Februar." (Bis zum 5. oder 6. Februar, sagt der Wiener Korrespondent der "Times".) "Unterdessen hat der Zar einen vollen Monat vor sich, um seine Streitkräfte zu bewegen, wohin er will. Der Monat, gewonnen durch die Annahme der vier Punkte, mag zu zwei Monaten ausgeweitet werden, indem Schritt für Schritt über jeden Punkt gestritten wird, wohin wahrscheinlich die Instruktionen des russischen Gesandten lauten, während es keineswegs unwahrscheinlich ist, daß die angestrengtesten Versuche gemacht werden, um Österreich mit Bedingungen zufriedenzustellen, die für England und Frankreich unannehmbar sind. Die drei Mächte zu trennen ist ein sehr plausibler Zweck."
So die "Morning Post".
Wichtiger als das Hin- und Herreden der englischen Presse über die geheimen Absichten Rußlands ist ihr offenes Geständnis (mit Ausnahme natürlich der ministeriellen Organe), daß die Grundlage der Unterhandlungen, die vier Punkte, nicht des Unterhandelns wert ist.
"Als der Kampf begann", sagt die "Sunday Times", "suchte man die Welt glauben zu machen, der Gegenstand, um den es sich handle, sei das Aufbrechen des Russischen Reichs oder mindestens die Eroberung materieller Garantien für die Erhaltung des europäischen Friedens. Zur Erreichung des einen oder des anderen Zweckes ist nichts geschehen und wird nichts geschehen, sollte Frieden auf der Grundlage der sogenannten vier Punkte geschlossen werden. Wenn hier von irgendeinem Triumphe die Rede sein kann, so nur von einem Triumphe, den Rußland davongetragen hat."
<614> "Das Ministerium aller Unfähigkeiten", sagt der "Leader", "kann nicht über die vier Punkte hinauskommen; es verdient auf die Nachwelt zu kommen mit dem Titel: Das Ministerium der vier Punkte. Nichts mehr von dieser langweiligen Komödie eines Krieges ohne Zweck! Frieden, auf der Grundlage der vier Punkte, kann nur geschlossen werden aus Furcht, daß im Tumulte des Krieges die Völker selbst zu wichtig werden; vielleicht auch, um die Engländer zu verhindern, die Rechte wiederzugewinnen, die Cromwell für sie erobert hatte. Dies allein könnte das Motiv sein, die alte Verschwörung mit Rußland wieder zurechtzuflicken und ihm die Erlaubnis zurückzugeben, unter dem Schutze der Friedensflagge seine Übergriffe in Europa zu erneuern."
Der "Examiner", der unter den Wochenblättern der Mittelklasse unstreitig den ersten Rang behauptet, bringt einen ausführlichen Artikel über die "Grundlage" der Friedensverhandlungen, von dem wir das Wesentliche kurz zusammenfassen.
"Wenn solche Konzessionen", heißt es unter anderem, "wie sie selbst aus der härtesten und strengsten Auslegung der vier Punkte abgeleitet werden können, als Äquivalente betrachtet werden für die Schätze, die England in diesem Kampfe vergeudet, und das Blut, das es geopfert hat, so war der Kaiser von Rußland ein großer Staatsmann, als er den Krieg begann. Rußland soll nicht einmal Buße zahlen für die großen Summen, die es jährlich von uns erpreßt hat durch Nichtbeobachtung des Wiener Vertrages. Die Mündung der Donau, die es, gemäß der neulich veröffentlichten offiziellen Korrespondenz, durch jedes Mittel dem englischen Handel zu verschließen strebte, soll in seiner Hand bleiben. Der Punkt wegen der freien Donauschiffahrt läuft praktisch auf den Status quo hinaus, denn Rußland hat nie geleugnet, daß die auf die Flußschiffahrt bezüglichen Stipulationen des Wiener Vertrags auch für die Donau maßgebend sind. Die Abschaffung der Verträge von Kainardschi und Adrianopel hat wenig auf sich, da man von allen Seiten übereinkommt, daß diese Verträge Rußland nicht zu den Forderungen berechtigten, die es an die Türkei stellt. Wenn wir auf der anderen Seite betrachten, daß Rußland eine der 5 Mächte sein soll, die ein gemeinschaftliches Protektorat über die Donaufürstentümer und die christlichen Untertanen des Sultans ausüben, so glauben wir, daß die Vorteile, die von dieser Änderung erwartet werden, durchaus illusorisch sind, weil sie unbestreitbar den ungeheuren Nachteil nach sich zieht, den Machinationen Rußlands für die Teilung der Türkei einen legalen Charakter zu geben. Man wird uns natürlich erinnern, daß die vier Punkte unter anderen Stipulationen eine Revision des Vertrags von 1841 einschließen, und zwar eine Revision im Interesse des Gleichgewichts der Mächte. Der Ausdruck ist unbestimmt und geheimnisvoll genug, und nach allem, was seit kurzem verlautet hat, sind wir keineswegs überzeugt, daß die beabsichtigte Neuerung nicht ungleich drohender für die Unabhängigkeit unseres Alliierten (der Türkei) als für die Oberherrschaft unseres Feindes ist ... Wir würden jede Möglichkeit solcher 'Grundlage', wie sie in diesem Augenblicke in Wien debattiert zu werden scheint, als durchaus unglaublich verworfen haben, hätte nicht Lord John Russell, in Antwort auf Cobdens Rede, feierlich im <615> Parlamente erklärt, daß die Regierung durchaus nicht wünsche, Rußland irgendeines seiner Territorien zu berauben."
Der letzte Punkt ist allerdings durchaus entscheidend, da z.B. selbst die Freiheit der Donauschiffahrt nur gesichert werden könnte, wenn Rußland das "Territorium" in den Donaumündungen verlöre, dessen es sich bemächtigt hat, zum Teil durch den Vertrag von Adrianopel mit Verletzung des Londoner Vertrages von 1827 und zum Teil durch einen Ukas vom Februar 1836 mit Verletzung des Vertrages von Adrianopel. Der Punkt, den der "Examiner" versäumt hervorzuheben, bezieht sich auf den Dardanellenvertrag von 1841. Dieser Vertrag unterscheidet sich von dem 1840 von Lord Palmerston geschlossenen Vertrage nur durch den Umstand, daß Frankreich als kontrahierender Teil zutrat. Der Inhalt ist derselbe. Noch vor wenigen Monaten erklärte Lord Palmerston den Vertrag von 1840, also auch den Dardanellenvertrag von 1841, für einen Sieg Englands über Rußland und sich für den Urheber des Vertrags. Wie soll plötzlich die Aufhebung eines Vertrags, der ein Sieg Englands über Rußland war, eine Niederlage Rußlands vor England sein? Oder, wenn England damals von seinen eignen Ministern getäuscht wurde und gegen Rußland zu handeln glaubte, während es für dasselbe handelte, warum nicht jetzt? Während der letzten außerordentlichen Parlamentssitzung rief Disraeli: "Keine vier Punkte." Aus den obigen Auszügen sieht man, daß er ein Echo in der liberalen Presse gefunden, die Verwunderung, daß Rußland mit oder ohne Vorbehalt die vier Punkte angenommen, fängt an, der Verwunderung Platz zu machen, daß England sie vorgeschlagen.