Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 588-593
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Rückblicke


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 1 vom 2. Januar 1855]

<588> London, 29. Dezember.

"Die Zusammenkunft des Grafen Buol, des Herrn von Bourqueney und des Prinzen Gortschakow im Hause des Grafen v. Westmoreland, des englischen Gesandten zu Wien, bezweckte nur, dem Kaiser von Rußland die gewünschte Auskunft über den Sinn der Tripleallianz vom 2. Dezember und über die Voraussetzungen zu geben, worunter die 3 Großmächte bereit sind, Friedensverhandlungen auf der Basis der vier Punkte zu eröffnen. Prinz Gortschakow hat sofort über die erhaltenen Mitteilungen nach Petersburg berichtet. Annahme oder Verwerfung der Präliminarbedingungen von seiten des Zar muß in wenigen Tagen erfolgen. Ein entscheidender Wendepunkt wird den Beginn des neuen Jahrs bezeichnen."

So die "Morning Post", der Privatmoniteur des Lord Palmerston.

"Die Wiener Verhandlungen", sagt die torystische "Press", "sollen Österreich einen neuen Vorwand geben, seine definitive Erklärung an die Westmächte über den im Vertrag vom 2. Dezember festgestellten Termin hinauszuschieben."

Entscheidend ist vielleicht die Tatsache, daß, während die Politiker der Tages- und Wochenpresse die neue Wiener Konferenz in ihren Leitartikeln mit breiter Staatsweisheit erörtern, die Geschäftsmänner in den Börsenartikeln derselben Journale sie gradezu für eine "Farce" erklären. So z.B. der Geschäftsmann im moneyarticle <Artikel über den Geldmarkt> der heutigen "Morning Post". In der Tat erschien das Wiener Ereignis der Londoner Börse so gleichgültig, daß sein Bekanntwerden weder den "Bären", noch den "Bulldoggen", weder den Pessimisten, noch den Optimisten des stock-exchange <der Börse> auch nur zu den unbedeutendsten Operationen Anlaß gab. Die geringen Schwankungen, die seit 3 Tagen in der Quotierung der Staatspapiere stattfanden, hingen nicht mit der Wiener Diplomatie, sondern mit dem Pariser Budget zusammen. Man vermutet, daß englische Kapitalisten sich an der neuen Pariser Anleihe von 500 Millionen frs. beteiligen und so eine Zusammenziehung des Geld- <589> markts bewirken werden, der ohnehin infolge der Rückwirkung der nordamerikanischen Krisis (bedeutender in ihren Dimensionen als die von 1837), der letzten ungünstigen Geschäftsnachrichten von Ostindien, der steigenden Getreidepreise und einiger unerwartet großer Bankerutte in London und Liverpool eine mehr und mehr bedenkliche Physiognomie annimmt. Wenn nicht auf Seite des Kaisers von Rußland, herrschen Friedensillusionen jedenfalls auf Seite des englischen Ministeriums. In den großen Krieg mit Frankreich, der im vorigen Jahrhundert begann, wurde das englische Volk durch seine Oligarchie geführt. In den jetzigen Krieg mit Rußland ist die englische Oligarchie durch das Volk gezwängt worden. Aus allen ihren diplomatischen, militärischen und finanziellen Operationen leuchtet der Widerwille, den ihr aufgenötigten Krieg zu führen. Selbst die letzte Maßregel des Ministeriums - das Gesetz wegen Anwerbung einer Fremdenlegion - bezweckte vor allem, den Engländern den Krieg zu "verleiden". Von Erschöpfung der Rekrutierkraft könnte in einem Lande nicht die Rede sein, von wo jährlich über 100.000 rüstige Männer auswandern, ohne daß diese Auswanderung mehr als vorübergehende Wirkung auf die Höhe des Arbeitslohns hervorgebracht hätte. Von einer außerordentlichen, plötzlichen Zufuhr von Hilfstruppen war ebensowenig die Rede, da die ministerielle Maßregel weder darauf berechnet ist, plötzlich noch ausnahmsweise zu helfen. Durch die im Mai passierte Milizbill war das Ministerium befähigt, in England, in Wales allein, 80.000 Militären zusammenzuberufen, und der Erfolg hat gezeigt, daß von allen im Frühling einberufenen Regimentern ein volles Viertel Freiwillige zum aktiven Dienst überging, aber bis zu Anfang dieses Monats hatte die Regierung nur 18 Milizregimenter (ungefähr 13.500 Mann) einregimentiert. Es ist bekannt, daß die Engländer stets - zur Zeit Karls I., unter Wilhelm III., unter den ersten Georgs, endlich während des großen Aritijakobinerkrieges - gegen die Einführung fremder Werbesoldaten nach Großbritannien protestierten. Aber es ist neu und unerhört in der englischen Geschichte, daß die Anwendung fremder Söldner außerhalb des englischen Grund und Bodens einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Grade diese Tatsache beweist den ganz verschiedenen Charakter des jetzigen von allen früheren englischen Kriegen, soweit sie der modernen Zeit angehören. Die regierende Aristokratie schwört daher absichtlich das Gespenst der Vergangenheit wieder herauf, die Routine ihrer alten Geschäftsträger, worin die Soldaten auf dem wohlfeilsten Markt gekauft würden. Sie tut es, ohne - wie Sidney Herbert im Unterhause gestand - irgendwie vom Erfolge der vorgeschlagenen Maßregel überzeugt zu sein. Sie tut es also, nicht um den Krieg zu führen, sondern um den Frieden vorzubereiten. Um eine hinreichende <590> englische Armee zu bilden, wäre die Regierung heutzutage gezwungen, den Sold zu erhöhen, die Prügelstrafe abzuschaffen, das Avancement von der Pike auf in Aussicht zu stellen, kurz, die Armee zu demokratisieren und aus ihrem Eigentum in das der Nation zu verwandeln.

Bis jetzt, sagt die heutige "Times", war "die Armee, im Krieg wie im Frieden, nur ein Regierungsorgan für das Avancement der Aristokratie und die Stützung des jedesmaligen Ministeriums".

Und hier kommen wir zum entscheidenden Punkte. Ein Krieg mit Rußland ist für die englische Aristokratie gleichbedeutend mit dem Verlust ihres Regierungsmonopols. Seit 1830 gezwungen, die innere Politik ausschließlich im Interesse der industriellen und kommerziellen Mittelklassen zu leiten, behauptete sich die englische Aristokratie nichtsdestoweniger im Besitze aller Regierungsstellen, weil sie das Monopol der auswärtigen Politik und der Armeen behauptete. - Dies Monopol blieb indes nur so lange gesichert, als kein Volkskrieg - und ein solcher war nur mit Rußland möglich - die auswärtige Politik zur Volkssache machte. Die ganze englische Diplomatie von 1830-1854 reduziert sich daher auf das eine Prinzip: den Krieg mit Rußland um jeden Preis zu vermeiden. Daher die fortwährenden Konzessionen, die Rußland in der Türkei, in Persien, in Afghanistan, in Dänemark, die ihm auf jedem Punkte der Erde seit 24 Jahren gemacht wurden. Daß die Aristokratie richtig gerechnet hatte, beweisen die Tatsachen des Augenblicks. Kaum ist der Krieg mit Rußland ausgebrochen, und schon erklärt selbst die "Times":

"Die Aristokratie ist unfähig, unsere Kriege zu führen. Die oligarchische Staatsmaschinerie steht im grellsten Widerspruch zu unserer Gesellschaftsmaschinerie."

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 5 vom 4. Januar 1855]

London, 1. Januar.

"Alle Departements unserer Militäradministration sind unter der Wucht des jetzigen Krieges zusammengebrochen."

So die heutige "Times". In der Tat, wenn man die Organisation der Militärverwaltung oder irgendeiner andern offiziellen Verwaltung in diesem Lande betrachtet, so scheint es, als habe das sogenannte Prinzip vom konstitutionellen Gleichgewicht der Gewalten zur Anschauung gebracht werden sollen. Die verschiedenen Autoritäten sind so koordiniert, daß sie einander vollständig im Schach halten und so die ganze Maschinerie zum Stillstand verurteilt wird. Daher konnte es geschehen, daß während des jetzigen Krieges die Verwundeten sich in Balaklawa befanden, die Militärärzte zu Konstanti- <691> nopel und die Arzneimittel zu Skutari. Daher die Revolte der Krimarmee gegen das System, das sie opfert; denn müssen wir es nicht eine Revolte nennen, wenn alle Ränge, vom Obersten bis zum Gemeinen herab, die Disziplin durchbrechen, Tausende von Briefen wöchentlich an die Londoner Presse richten und laut von ihren Vorgesetzten an die öffentliche Meinung appellieren? Lord Raglan wird indes mit Unrecht für Zustände verantwortlich gemacht, die durch das System bedingt sind. Verantwortlich ist er für die militärische Führung.

Wenn wir einen Rückblick auf den Krimfeldzug werfen, finden wir, daß Lord Raglan seinen ersten Fehler in der Schlacht von Alma beging, indem er die russische Armee auf dem linken, an das Meer angelehnten Flügel, statt auf dem rechten umgehen ließ. Durch die letztere Operation wäre ein Teil der Russen ans Meer, der andere auf das Nordfort gedrängt worden, während sie jetzt faktisch auf Simferopol geworfen wurden, d.h. auf die ihnen günstigste Rückzugslinie. Während die Alliierten in der Schlacht an der Alma den Stier nutz- und zwecklos bei den Hörnern faßten, bebten sie vor dem Schritte zurück, als er durch die Umstände geboten war. Der vielberufene "Flankenmarsch nach Balaklawa" war die Resignation auf einen Angriff auf die nördliche Fronte der Festung. Diese Fronte ist aber der kommandierende und daher der entscheidende Punkt; das Nordfort ist der Schlüssel zu Sewastopol. Die Alliierten gaben also die kühnere und darum in der Tat sichere Offensive auf, um sich eine defensivfeste Stellung zu sichern. Derselbe Fehler, den Omer Pascha beging, als er sich bei Kalafat befestigte, statt von Oltenitza auf Bukarest zu marschieren und die langgestreckte Linie des Feindes zu durchbrechen. Dann kam die Belagerung von Sewastopol, die jedenfalls beweist, daß die Kriegskunst infolge eines langen Friedens in demselben Maße abgenommen hat, als das Kriegsmaterial, dank der industriellen Entwicklung, zugenommen hat. In keinem frühern Kriege spielen einfache Erdwerke eine so große Rolle. Zuerst bei Oltenitza nahmen die Russen ihre Zuflucht zu dem alten System, sie einige Stunden zu kanonieren und dann zu stürmen. Jedoch ohne Erfolg. Zu Kalafat hielten Erdwerke die Russen im Schach, die sie nicht anzugreifen wagten. Zu Silistria vereitelte ein halbdemoliertes Erdwerk alle Anstrengungen der russischen Armee, und nun zu Sewastopol ward eine Linie von Erdwerken beehrt mit ausgedehntern Sturmbatterien und schwererer Artillerie, als je gegen die regelmäßigste Festung verwandt worden. Bevor man jedoch den Belagerungstrain aufgepflanzt, war die offene Stadt schon in ein verschanztes Lager ersten Ranges verwandelt. Es ist bekannt, daß am 25. Oktober in der Schlacht von Balaklawa die englische Kavallerie nutz- und zwecklos und gegen alle hergebrachten Regeln <592> aufgeopfert wurde. Wir langen endlich bei der Schlacht von Inkerman an, dem bedeutendsten militärischen Ereignis dieses Feldzugs. Wie die Preußen bei Jena, waren die britischen Truppen vor Inkerman auf einer Reihe von Anhöhen aufgestellt, die in der Fronte nur durch einige wenige Defilees zugänglich waren. Wie die Preußen, hatten die Briten vernachlässigt, eine Anhöhe auf ihrem äußersten linken Flügel zu besetzen, wohin bei Jena Napoleon, bei Inkerman Menschikow einen Teil seiner Armee warf und sich so vor Tagesanbruch in der Flanke des Feindes festsetzte. Die Russen, überhaupt keine Freunde des Originellen, entlehnten Napoleons Operationsplan, aber sobald die strategische Bewegung vollendet war und die taktische Leistung beginnen sollte, wird die Maske der westlichen Zivilisation abgeworfen, und der Tartar kömmt zum Vorschein. Diese glänzende russische Armee mit ihren alten Truppen - viele darunter 25 Jahre unter den Waffen -, diese Muster von Paradedienst, zeigt sich so unbeholfen, so schwerfällig, so unfähig zum Tiraillieren und Kämpfen in kleinen Haufen, daß ihre Offiziere nichts anders mit ihr anzufangen wissen, als ihre schwere Masse mit einem Male auf den Feind zu werfen. Der rein brutale Druck dieser Masse sollte die dünnen Reihen der Briten brechen, während einerseits diese tiefen Fleischkolonnen die sichere und verheerende Wirkung der englischen Rifles und Artillerie sicherten, andererseits, wo die Russen in überwiegender Anzahl Bajonettangriffe machten, die Briten sie mit derselben Überlegenheit empfingen wie Napoleons Karrees die Mamelucken in der Pyramidenschlacht. 14.000 Alliierte mit dem Verlust von einem Dritteil ihrer Gesamtstärke schlugen 30.000 Russen, obgleich es anerkannt ist, daß die Russen individuell tapfer fechten und daß ihr Angriffsplan dem der Alliierten überlegen war. Nie seit der Schlacht von Narwa hat ein solches Unglück die russischen Waffen ereilt. Und wenn wir den außerordentlichen Unterschied erwägen zwischen den Russen von Narwa und den Russen von Inkerman, den halbwilden Horden von 1700 und der wohleinexzerzierten Armee von 1854, so erscheint der Tag von Narwa glänzend, verglichen mit dem von Inkerman. Narwa war der erste große Unfall einer aufsteigenden Nation, die Niederlagen selbst in Mittel des Sieges umzuwandeln wußte. Inkerman erscheint beinahe als sichere Anzeige des Verfalles jener Treibhausentwickelung, die Rußland seit Peter dem Großen genommen hat. Das künstlich beschleunigte Wachstum und die enorme Anstrengung, mit halbbarbarischem Material den Schein einer glänzenden Zivilisation aufrechtzuerhalten, scheint die Nation bereits erschöpft und eine Art von Lungenschwindsucht über sie verhängt zu haben. Die Schlacht von Inkerman ist für die russische Infanterie, was die Schlacht von Rocroi für die spanische war.