Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 583-587
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Die Militärmacht Österreichs

Geschrieben am 21. Dezember 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4281 vom 8. Januar 1855, Leitartikel]

<583> Es ist merkwürdig, daß uns die englische Presse, die sich während der letzten sechs Monate mit nichts anderem als der Stellung Österreichs beschäftigt hat, nicht ein einziges Mal irgendeine zuverlässige Information über die tatsächliche militärische Stärke gegeben hat, welche Österreich in dem Augenblick, da es ihm beliebt, die Linie seiner Politik zu bestimmen, in die Waagschale werfen kann. Die Londoner Tageszeitungen sind geteilter Meinung darüber, ob eine Allianz mit Österreich oder ein offener Bruch mit ihm vorzuziehen sei. Aber diese Journale, die die öffentliche Meinung einer Nation repräsentieren, welche sich damit brüstet, die praktischste Nation der Welt zu sein, haben sich kein einziges Mal dazu herabgelassen, in jene Einzelheiten und statistischen Angaben vorzudringen, die nicht nur im Handel und in der Politischen Ökonomie, sondern auch in der nationalen Politik die Grundlage jeder vernünftig vorgenommenen Maßnahme bilden. Die britische Presse scheint wahrhaftig von Herren geleitet zu werden, die auf ihrem Gebiet ebenso unwissend sind wie jene britischen Offiziere, die schon glauben, ihre ganze Pflicht zu tun, wenn sie ein Offizierspatent kaufen. In der einen Zeitung heißt es, die Allianz mit Österreich müsse auf alle Fälle und unter allen Umständen zustande kommen, weil Österreich eine riesige Militärmacht darstelle. In einer anderen wird erklärt, eine Allianz mit Österreich sei völlig unnütz, da es alle Kraft benötige, um Ungarn, Polen und Italien im Zaum zu halten. Wie aber die tatsächliche militärische Stärke Österreichs aussieht, hat weder die eine noch die andere je gekümmert.

Die österreichische Armee, die bis dahin nach einem schwerfälligen und veralteten System organisiert war, wurde 1849 völlig umgeformt. Die Niederlagen in Ungarn trugen dazu ebensoviel bei wie die Siege in Italien. Die <584> Verwaltung wurde von alten traditionellen Hindernissen befreit. Die Armee dieses Landes, in dessen Hauptstadt eine Revolution und in dessen Provinzen ein Bürgerkrieg gerade unterdrückt worden waren, wurde auf regulären Kriegsstand gebracht. Die Aufteilung der Armee in ständige Brigaden, Divisionen und Korps, wie sie unter Napoleon bestand und gegenwärtig in der russischen aktiven Armee besteht, wurde mit Erfolg eingeführt. Die 77 Infanterieregimenter außer den Schützen, und 40 Kavallerieregimenter, die während des italienischen und ungarischen Feldzuges so zersplittert worden waren, daß nicht nur Bataillone desselben Regiments, sondern auch Kompanien desselben Bataillons zur gleichen Zeit teils in Ungarn, teils in Italien standen, wurden nun wieder vereinigt und so formiert, daß eine ähnliche Unordnung verhindert und der reguläre Verlauf der Regimentsverwaltung gesichert wurde. Nach diesem neuen Plan ist das österreichische Heer in vier Armeen aufgeteilt, die sich aus zwölf corps d'armée <Armeekorps> und zwei Kavalleriekorps zusammensetzen. Jede Armee besitzt nicht nur alle drei Truppengattungen, sondern verfügt auch über einen völlig selbständigen Verwaltungsstab und das Material, um ihre sofortige Handlungsbereitschaft zu sichern. Die erste Armee - das 1., 2. und 9. Armeekorps - steht gewöhnlich in den deutschen Provinzen des Reiches; die zweite Armee - das 5., 6., 7. und 8. Armeekorps und 2. Kavalleriekorps - und die dritte Armee - das 10., 11. und 12. Armeekorps und 1. Kavalleriekorps - stehen gewöhnlich in den ungarischen und slawischen Provinzen; während die vierte Armee, die nur aus dem 4. Armeekorps besteht, in Italien steht.

Jedes Armeekorps besteht aus zwei bis drei Infanteriedivisionen, ein oder zwei Kavalleriebrigaden, vier Reservebatterien Artillerie und den nötigen Detachements an Pontonieren, dem Trainkommissariat und dem Sanitätspersonal. Ein Kavalleriekorps besteht aus zwei Divisionen, gleich vier Brigaden oder acht Kavallerieregimentern, mit einer entsprechenden Zahl leichter Batterien. Eine Infanteriedivision besteht aus zwei Brigaden zu fünf Bataillonen mit je einer Batterie Fußartillerie und zwei bis vier Kavallerieeskadronen.

Das ganze Heer besteht also, wie wir oben ausgeführt haben, aus siebenundsiebzig Infanterieregimentern außer den Schützen, vierzig Kavallerieregimentern und vierzehn Regimentern Feldartillerie außer der Festungsartillerie, den Pionieren, den Sappeuren etc. Die Infanterie besteht aus zweiundsechzig Linienregimentern, vierzehn Regimentern und einem Bataillon Grenzinfanterie sowie einem Regiment und fünfundzwanzig Bataillonen <585> Schützen. Ein Linienregiment setzt sich aus fünf aktiven und einem Ersatzbataillon oder aus achtundzwanzig aktiven und vier Ersatzkompanien zusammen. Die aktive Kompanie ist zweihundertzwanzig Mann stark, die Ersatzkompanie einhundertdreißig. Ein Linienregiment muß folglich mit seinen fünf aktiven Bataillonen 5.964 Mann zählen; das ergibt bei 62 Regimentern einschließlich Reserve 369.800 Mann. Die Grenzinfanterie, die vierzehn Regimenter zählt, hat zwei aktive Bataillone und ein Reservebataillon je Regiment, gleich zwölf aktiven und vier Reservekompanien. Die aktive Kompanie hat eine Stärke von 242 Mann einschließlich 22 Schützen. Ein Grenzregiment zählt demnach 3.850 Mann, und die vierzehn Regimenter insgesamt zählen 55.200 Mann. Die Stärke der Schützen oder Jäger beträgt ein Regiment zu sieben Bataillonen, gleich 32 Kompanien einschließlich Reserve, und 25 Bataillone, gleich 125 Kompanien einschließlich Reserve; da jede Kompanie 202 Mann stark ist, zählen die Schützen insgesamt 32.500 Mann. Die Gesamtstärke beträgt folglich 470.000 Mann.

Die österreichische Kavallerie besteht aus 16 Regimentern schwerer Kavallerie (8 Kürassier- und 8 Dragonerregimentern) und aus 24 Regimentern leichter Kavallerie (12 Husaren- und 12 Ulanenregimentern). Bei der Kavallerie sind die verschiedenen Nationalitäten, aus denen sich Österreich zusammensetzt, in sehr geeigneter Weise ihren spezifischen Fähigkeiten entsprechend eingesetzt. Die Kürassiere und Dragoner sind fast ausschließlich Deutsche und Böhmen; die Husaren sind alles Ungarn und die Ulanen alles Polen. Bei der Infanterie konnte man eine ähnliche Unterteilung schwerlich mit irgendwelchem Nutzen beibehalten. Im allgemeinen bilden die Deutschen und die Ungarn die Elitebataillone der Grenadiere, während die Tiroler (Deutsche und Italiener) und die Steiermärker zumeist Schützen sind; die große Mehrheit der Grenzinfanterie setzt sich aus Kroaten und Serben zusammen, die beide in gleichem Maße für die Aufgaben der leichten Infanterie geeignet sind.

Die schwere Kavallerie zählt sechs aktive Eskadronen und eine Ersatzeskadron je Regiment - die Eskadron zu 194 Mann. Die leichte Kavallerie hat acht aktive und eine Ersatzeskadron je Regiment bei 227 Mann je Eskadron. Die Gesamtstärke der aktiven Kavallerie beträgt 62.500 Mann ohne Reserve und 67.000 Mann mit Reserve.

Die Artillerie besteht aus 12 Feldregimentern, einem Küstenregiment und einem Raketenregiment. Die Österreicher haben keine reitende Artillerie. In ihrer sogenannten Kavallerie-Artillerie wird die Geschützbedienung auf den Fuhrwerken transportiert. Jedes Feldregiment hat vier Kavalleriebatterien (Sechspfünder) und sieben Batterien Fußartillerie (vier Sechs- <586> pfünder und drei Zwölfpfünder) außer den Reservekompanien. Jede Batterie hat acht Geschütze. Das Küstenregiment hat keine ständigen Batterien, sondern ist nur in Bataillone und Kompanien aufgeteilt und wird als Garnison der Küstenbefestigungen eingesetzt. Das Raketenwerferregiment hat 18 Batterien zu je acht Rohren. Die gesamte österreichische Artillerie verfügt demnach über 1.056 Geschütze und 144 Raketenrohre. Die Artillerie hat außerdem acht Bataillone Garnisonsartillerie mit ungefähr 10.400 Mann und mit technischen Detachements von 4.500 Mann. Die Pioniertruppen zählen etwa 16.700 Mann.

Außer diesen aktiven Truppen sowie den Reserve- und Garnisonstruppen besitzt Österreich besondere, für Spezialdienste gebildete Korps, die, obgleich sie nicht als aktive Kombattanten verfügbar sind, doch eine Verringerung der aktiven Stärke durch Detachierungen von Soldaten verhindern, die sehr oft Bataillone auf Kompanien und Kavallerieregimenter auf Eskadronen reduzieren. Es gibt drei Sanitätsbataillone, Traintruppen und für jedes Armeekorps ein Detachement Kavallerie für den Ordonnanzdienst. Letztere Einrichtung ist jetzt auch in der englischen Armee mit der Bildung des berittenen Stabskorps eingeführt worden. Die gesamte österreichische Armee umfaßt insgesamt etwa 476.000 Mann an aktiven Truppen und 1.140 Geschütze; mit Reserve, technischen Truppen, Stab, Garnisons- und Polizeitruppen (Gendarmen) ist sie ungefähr 620.000 Mann stark.

Der österreichische Soldat dient acht Jahre und bleibt zwei weitere Jahre in der Reserve. Durch diese Regelung steht immer eine Reserve zur Verfügung, die im Kriegsfalle mit einer Stärke von etwa 120.000 Mann aufgerufen werden kann. In der Militärgrenze muß jeder Grenzer vom 20. bis 50. Lebensjahr dienen. Dadurch kann die aktive Stärke der Grenzinfanterie von 55.000 Mann bis auf 150.000 oder 200.000 Mann erhöht werden. Im Jahre 1849 standen davon mindestens 150.000 Mann unter Waffen. Aber zu jener Zeit war die Militärgrenze von Truppen so entblößt, daß die ganze Arbeit in der Landwirtschaft von den Frauen verrichtet werden mußte.

Aus diesen Angaben, für deren Richtigkeit wir uns verbürgen können, folgt, daß es Österreich auf Grund seiner militärischen Organisation möglich ist, sofort mit einer Streitmacht von 600.000 Mann ins Feld zu rücken, wovon mindestens 300.000 an jedem beliebigen Punkt zusammengezogen werden können; gleichzeitig kann eine Reserve von ungefähr 200.000 alten Soldaten einberufen werden, ohne jedes Sonderaufgebot und ohne besonderen Nachteil für die Produktivkräfte des Landes.

Die russische Armee ist so organisiert, daß sie ihre Reihen mit noch weit mehr Menschen aufzufüllen vermag. Die Einwohnerzahl Rußlands beträgt <587> 60.000.000, die Österreichs 40.000.000; wir haben jedoch gesehen daß Österreich durch bloße Einberufung der Reserve seine Armee auf mehr als 800.000 Mann vergrößern kann, während Rußland, um die gleiche Zahl zu erreichen, gezwungen war, nicht nur seine Reserve einzuberufen, sondern auch neue Truppen in einer Stärke zu rekrutieren, die einer regulären Einberufung von vier Jahrgängen entspricht.