Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 537-541
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Die Militärmacht Rußlands

Geschrieben am 16. Oktober 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4223 vom 31 Oktober 1854, Leitartikel]

<537> Wir können John Bull und Jacques Bonhomme ruhig eine Weile ihrer Freude über den "glorreichen Sieg" an der Alma und ihrer Vorfreude über den Fall von Sewastopol überlassen. Der Krieg an der Donau und auf der Krim, was für eine Bedeutung er auch für die Alliierten und den vereinten bürgerlichen Liberalismus Europas haben mag, fällt, soweit er Rußland betrifft, sehr wenig ins Gewicht. Das innere Gleichgewicht dieses Landes wird von dem möglichen Ausgang dieses Kriegs in keiner Weise beeinflußt, während eine Niederlage auf der Krim und ein erzwungener Rückzug der Alliierten deren Landoperationen für beträchtliche Zeit lahmlegen und ihnen einen moralischen Schock versetzen würde, von dem sie sich nur mit äußerster Anstrengung erholen könnten.

In letzter Zeit sind uns einige authentische Berichte über die Verteilung und die letzten Bewegungen der russischen Streitkräfte zugekommen, und ihre Zusammenstellung wird gut sein, um zu zeigen, was für ein relativ geringer Teil der russischen Streitkräfte bis jetzt im Kampf eingesetzt und was von dem übrigen Teil zu erwarten ist. Wie bekannt, besteht die russische Armee, soweit hier dargelegt werden kann, aus folgenden Einheiten:

I. Die große aktive Armee:

2 Elitekorps, Garden und Grenadiere, zusammengesetzt aus 76 Bataillonen, 92 Eskadronen, 228 Geschützen.
6 Linienkorps - 300 Bataillone, 192 Eskadronen, 672 Geschütze.
3 Kavalleriekorps - 176 Eskadronen, 96 Geschütze.

Insgesamt: 376 Bataillone, 460 Eskadronen, 996 Geschütze.

<538> II. Sonderkorps:

Finnländisches Korps - 12 Bataillone.
Orenburger Korps - 10 Bataillone.
Sibirisches Korps - 15 Bataillone.
Kaukasisches Korps - 55 Bataillone, 10 Eskadronen, 180 Geschütze.
Kaukasisches Reservekorps - 36 Bataillone, 2 Eskadronen, -- Geschütze.
Kaukasische Linie - 47 Bataillone, -- Eskadronen, -- Geschütze.

Insgesamt: 175 Bataillone, 12 Eskadronen, 180 Geschütze.

III. Kosaken und andere Irreguläre:

Ungefähr 700 Eskadronen, 32 Bataillone, 224 Geschütze.

IV. Reserven:

1. Ungefähr 50 Bataillone der inneren Wache, außerdem Invaliden, Strafkompanien - 77.
2. Reserve der großen Armee oder die 4., 5. und 6. Bataillone der Garden und der Grenadiere, die 5. und 6. Bataillone der Linie, nämlich: drei Bataillone bei 24 Regimentern und je zwei Bataillone bei 72 Regimentern oder insgesamt 216 Bataillone.

Da alle diese Reserven eingezogen und vollständig aufgestellt sind, so daß mit der Formierung des 7. und 8. Bataillons eines jeden Regiments aus der letzten Aushebung von 300.000 Mann begonnen worden ist, können die erwähnten 216 Bataillone in die Gesamtstärke einbezogen werden, die 726 Bataillone, 472 Eskadronen regulärer, 700 Eskadronen irregulärer Kavallerie und weit mehr als tausend Geschütze beträgt. Weil über die Organisation der Reserven für die Kavallerie und Artillerie außerhalb Rußlands wenig bekannt ist, sind sie in den obenerwähnten Zahlen nicht einbegriffen.

Glücklicherweise sieht diese Bilanz furchterregender aus, als sie in Wirklichkeit ist. Um die Truppenzahl zu erhalten, die tatsächlich für einen europäischen Krieg zur Verfügung steht, müssen wir das Sibirische Korps, die innere Wache und mindestens die Hälfte der Kosaken abrechnen; auf diese Weise bleiben etwa 650 Bataillone, 472 Eskadronen regulärer und 350 Eskadronen irregulärer Kavallerie mit ungefähr 1.200 Geschützen verfügbar. Diese Truppen können bei einer sehr niedrig gegriffenen Zahl auf 520.000 Mann Infanterie, 62.000 Mann Kavallerie und 30.000 Kosaken geschätzt werden oder zusammen auf etwas mehr als 600.000 Mann, die an der langen Grenze vom Kaspischen Meer längs des Schwarzen Meeres und der Ostsee bis zum Weißen Meer verstreut aufgestellt sind.

<539> Seit Beginn des Krieges mit der Türkei sind nacheinander folgende Truppen an der südlichen Grenze des Zarenreiches gegen die Alliierten im Kampf eingesetzt worden:

1. Das 3., 4. und 5. Linienkorps mit einem Teil ihrer Reserven, die sich jedoch zum größten Teil noch auf dem Marsch befinden.

2. Die drei Kaukasischen Korps vollständig.
3. Die beiden Divisionen (zwei Drittel) des ersten Linienkorps ohne Reserven.
4. Ein Teil des dritten Kavalleriekorps (Dragoner) auf der Krim,

Dies ergibt eine Gesamtstärke von ungefähr 240.000 Mann vor Beginn des Feldzuges, die jetzt jedoch reduziert sind auf höchstens 184.000 Mann, von denen 84.000 Mann für die Armee in Bessarabien, 54.000 für die auf der Krim oder auf dem Marsch dorthin und 46.000 für die im Kaukasus gerechnet werden können. An der Ostsee befanden sich bis Ende August:

In Finnland die Reserve des 6. Korps

16.800 Mann

Das Finnländische Korps

12.000 Mann

Die Garden und deren Reserven

66.800 Mann

Vom Grenadierkorps in Reval

10.000 Mann

Insgesamt

105.600 Mann

In Polen oder auf dem Marsch dorthin befanden sich:

Der restliche Teil der Grenadiere und deren Reserven.

55.000 Mann

Das 1. und 2. Korps und deren Reserven

120.000 Mann

Kosaken und Kavallerie verschiedener Korps

30.000 Mann

Verschiedene Reserven

25.000 Mann

Insgesamt

230.000 Mann

Alles zusammengenommen, ergibt das ungefähr 575.000 Mann, die mit dem Orenburger Korps (in Astrachen), dem Reserve-Kavalleriekorps und den Detachements am Weißen Meer und anderen Orten an die oben erwähnte Gesamtstärke herankommen. Von den Truppen in Polen befanden sich ungefähr 30.000 auf dem Marsch, bildeten ungefähr 20.000 die Garnison in Warschau, besetzten ungefähr 100.000 das rechte Ufer der Weichsel im früheren Königreich Polen, und ungefähr 80.000 verblieben als Reserve in Wolhynien und Podolien, am Bug und am Dnestr. Dadurch wurde das Gros der russischen Armee, darunter die Eliteregimenter der Garden und Grenadiere, auf einer Linie von St. Petersburg nach Chotin oder entlang der <540> westlichen Grenze des Zarenreiches konzentriert. Aber diese Stellungen erwiesen sich als nicht wichtig genug. Die Grenadiere verließen Reval, um von einer Gardedivision ersetzt zu werden, und marschierten mit den anderen beiden Gardedivisionen nach Polen, letztere, vier Bataillone oder Regimenter stark, ließen nur die 5. und 6. Bataillone in St. Petersburg zurück. Auf diese Weise wurde die Westarmee auf mehr als 270.000 Mann verstärkt, und der größere Teil der drei Reserve-Kavalleriekorps, die bisher überhaupt noch nicht im Kampf eingesetzt worden sind, wurde in Marsch gesetzt, um sich mit ihr zu vereinigen; dadurch wird die Westarmee eine Stärke von rund 300.000 Mann erhalten.

Nun haben sich die Stellungen geändert. Die 100.000 Mann, die den südöstlichen Teil des Königreichs Polen besetzt hielten, haben die Weichsel überschritten und entlang der österreichischen Grenze Stellung bezogen. Die 80.000 Mann sind von Wolhynien nach Polen hinein vorgerückt und setzen die Linie entlang jener Grenze fort. Garden, Grenadiere - möglicherweise die Kavalleriekorps, wenn sie eintreffen - nehmen eine zentrale Stellung im Rücken ein. Während des Winters können weitere Truppen von der zugefrorenen Ostsee freigestellt werden. Bis Mai werden die neuen Rekruten, die das 7. und 8. Bataillon oder neue Bataillone der verschiedenen Regimenter bilden, insgesamt 192 Bataillone (130.000 bis 140.000 Mann), soweit ausgebildet sein, um sie ersetzen zu können.

Folglich besteht kein Zweifel darüber, daß Nikolaus sich relativ wenig darum kümmert, was dem Süden seines Reichs geschieht, solange er noch mehr als 300.000 Mann in der großartigen strategischen Stellung in Polen konzentrieren kann. Und eine großartige Stellung ist es. Gleich einem Keil zwischen Preußen und Österreich hineingetrieben, umfaßt sie beide in der Flanke und wird dabei durch die besten Widerstandsmöglichkeiten gedeckt, die Kunst und Natur im Verein schaffen können. Napoleon wußte um die militärische Bedeutung des von der Weichsel und ihren Nebenflüssen eingeschlossenen Landes. Er machte es im Feldzug von 1807 zu seiner Operationsbasis, bis er Danzig nahm. Aber er unterließ ständig, es zu befestigen, und das mußte er nach dem Rückzug von 1812 teuer bezahlen. Die Russen haben besonders seit 1831 getan, was ihre Vorgänger zu tun versäumt hatten. Modlin (Nowo-Georgiewsk), Warschau, Iwangorod, Brest-Litowsk bilden ein Fortifikationssystem, das an Stärke der strategischen Kombination in der Welt einzig dasteht. Dieses System bietet einer geschlagenen Armee eine Position, in der sie einem doppelt so starken Feind trotzen kann, solange sie genug zu essen hat; und ein ganzes Land von allen Kommunikationen abzuschneiden ist ein Ding, das noch nicht versucht worden ist. Dieses ganze <541> komplizierte System von Festungen, sagt ein deutscher Militärschriftsteller, der das Land kennt, deutet mehr auf offensiven als auf defensiven Geist. Es ist nicht so sehr gedacht, das Gebiet, auf dem es sich befindet, zu halten, wie als Basis für Offensivoperationen gegen den Westen zu dienen.

Und da gibt es Leute, die glauben, Nikolaus werde um Frieden bitten, wenn Sewastopol genommen ist! Doch Rußland hat bis jetzt noch nicht ein Drittel seiner Trümpfe ausgespielt, und der augenblickliche Verlust Sewastopols und der Flotte wird von dem Riesen kaum empfunden, für den Sewastopol und die Flotte nur ein Spielzeug sind. Rußland weiß sehr wohl, daß seine größte Wirksamkeit nicht an den Meeresküsten oder im Bereich der Landungstruppen liegt, sondern im Gegenteil im weiten Innern des Kontinents, wo man massive Armeen auf einem Fleck konzentriert wirken lassen kann, ohne daß sie ihre Kräfte in einer fruchtlosen Küstenverteidigung gegen einen Feind zersplittern, der jedem Stoß ausweicht. Rußland mag die Krim, den Kaukasus, Finnland, St. Petersburg und alle diese Anhängsel verlieren, solange sein Körper unverletzt bleibt, dessen Herz Moskau und dessen rechter Arm das befestigte Polen ist, braucht es kein Jota nachzugeben.

Die großen Aktionen von 1854 sind, so dürfen wir behaupten, nur die unbedeutenden Präludien der Völkerschlachten, die die Annalen von 1855 verzeichnen werden. Erst wenn die große russische Westarmee und die österreichische Armee auf den Plan treten, gleich, ob gegeneinander oder miteinander, erst dann werden wir richtigen Krieg im großen Stil erleben, etwa wie die großen napoleonischen Kriege. Und vielleicht werden diese Schlachten nur die Präludien zu anderen noch viel heißeren, viel entscheidenderen Schlachten sein - zu den Schlachten der europäischen Völker gegen die jetzt siegreichen und sich sicher fühlenden europäischen Despoten.