Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 527-530
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Der Schwindel von Sewastopol -
Allgemeine Nachrichten

Geschrieben am 5./6. Oktober 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4215 vom 21. Oktober 1854]

<527> London, Freitag, 6. Oktober 1854.

Es ist unmöglich, die Aufregung und Zweifel der Engländer in dieser Woche zu beschreiben. Vergangenen Sonnabend wurde vor der Börse bei Fanfarenklang die Nachricht über den Sieg an der Alma vom Lord Mayor <Oberbürgermeister> verkündet; die unbestätigten Meldungen über den Fall Sewastopols jedoch verbreiteten sich im ganzen Land. Die ganze Welt hat sich anführen lassen. Napoleon verkündete es seiner Armee in Boulogne, die englischen und französischen Zeitungen brachten Leitartikel über das glückliche Ereignis, der Kaiser von Österreich gratulierte dem Kaiser und der Königin zu ihrem Sieg, erwähnte jedoch Sewastopol vorsichtshalber nicht; Freudenfeuer wurden angezündet, und die Kanonen donnerten. Bald erhielten wir die Depesche, die diese ganze Freude und Erregung verursacht hatte; tatsächlich stellte sich heraus, daß sie aus einer sehr verdächtigen Quelle stammt. Ein Tatar - das heißt, ein türkischer Kurier - war in Bukarest mit Nachrichten für Omer Pascha aus Konstantinopel eingetroffen, die, da der General abwesend war, diesem ungeöffnet nachgesandt werden mußten - deshalb kennen wir ihren Inhalt nicht. Doch der Kurier erzählte, daß bei seiner Abreise aus Konstantinopel die Stadt illuminiert war und daß Anweisung gegeben worden sei, die Stadt weitere zehn Tage zu illuminieren. Daraus schloß er dann, daß Sewastopol genommen wurde, und gab Einzelheiten wieder, wie sie genauso ein türkischer oder Londoner Postbote in einer Kneipe geben würde. Er erwähnte 18.000 getötete Russen, doch nur 200 eroberte Geschütze, obgleich die Forts über mehr als 500 Geschütze verfügen; natürlich wurden 22.000 Russen gefangengenommen, da bekannt war, daß die Garnison <528> ungefähr 40.000 Mann stark war. Zuerst wurde die Flotte erobert, dann wieder wurde ein Teil von ihr zerstört, und Fürst Menschikow war im Begriff, sich mit dem Rest in die Luft zu sprengen etc. etc. Es mutete jedoch sehr eigenartig an, daß dem Konsul in Bukarest ein solch wichtiges Ereignis nicht durch Lord Redcliffe mitgeteilt worden war und daß die französische Regierung keine Nachricht erhalten hatte. Doch die Nachricht war zu gut, um nicht geglaubt zu werden, und deshalb wurde sie geglaubt. Es stimmt, daß am nächsten Tag ein Bericht aus St. Petersburg eintraf, der eine Depesche von Fürst Menschikow vom 26. erwähnte, aus der hervorging, daß er sich nach der Schlacht an der Alma nach Simferopol zurückzog. Doch die Zeitungen, anstatt die angenehme Täuschung vom Fall Sewastopols auf den ersten Anhieb aufzugeben, nahmen lieber an, dies sei ein Druckfehler, und das richtige Datum des Berichts sei der 20. Der heutige Tag hat die englische Öffentlichkeit jedoch zur Vernunft gebracht; die wunderbare Eroberung einer großen Festung ohne eine Belagerung erweist sich als grober Schwindel, der die Zeitungen in Zukunft vorsichtiger machen wird.

In Spanien fanden Unruhen statt, nicht nur in Malaga, wo, wie ich in meinem letzten Brief bemerkte, die republikanische Partei sehr stark ist, sondern auch in Logroño, wo Espartero viele Jahre lebte, und in Jaén, fügt der Telegraph hinzu, wurde eine republikanische Verschwörung aufgedeckt, und der Infant Don Enrique, der Bruder des idiotischen Ehemanns der Königin, wurde auf die Balearen verbannt. Die Erregung über Sewastopol ist jedoch noch so groß, daß niemand Spanien Aufmerksamkeit schenkt.

In Dänemark wurde am 2. der Reichstag eröffnet. In der königlichen Thronrede kam Verachtung für die Versammlung zum Ausdruck. Sie wurde mit Zischen und kräftigen Hochrufen auf die Verfassung empfangen. Das "Frankfurter Journal" wiederholt die Erklärung, daß die alliierten Mächte beschlossen haben, den berühmten Vertrag vom 8. Mai 1852, wonach schließlich die Nachfolge des dänischen Thrones an den Kaiser von Rußland übergehen sollte, erneut zu überprüfen. Urquhart hörte nicht auf, dieses unwürdige Stück europäischer Diplomatie immer wieder vor die Öffentlichkeit zu bringen, und seine Bemühungen scheinen jetzt endlich von Erfolg gekrönt zu sein. Das Ziel dieser Bewegung besteht einfach darin, wenn überhaupt etwas an diesem Gerücht sein sollte, durch die Wiederaufnahme dieser Frage, Preußen, das sich diesem Protokoll fernhielt, zu bewegen, sich mit den Westmächten zu verbünden. Es ist bemerkenswert, daß Palmerston das Protokoll wie den Vertrag von 1840 als Maßnahmen gegen Rußland bezeichnete, während deren Aufhebung jetzt als ein Akt der Feindseligkeit gegen Rußland betrachtet werden soll.

<529> Es heißt, daß Österreich eine Note nach St. Petersburg gesandt hat, in der es die vier Bedingungen noch einmal als Friedensgrundlage vorschlägt und erklärt, daß ihre Ablehnung durch den Zaren von Franz Joseph als casus belli <Kriegsfall> betrachtet wird. Das ist eines der Ergebnisse der Siege auf der Krim.

Die folgenden Betrachtungen über einen vor kurzem erschienenen Artikel im "Economist" sind dem Handelszirkular der Herren Smith und Charles entnommen:

"Von allen Bekanntmachungen und Andeutungen, die seit Beginn des Krieges gemacht worden sind, ist die am vergangenen Sonnabend vom 'Economist' gebrachte vom Standpunkt des russischen Handels bei weitem die wichtigste. Man muß berücksichtigen, daß diese Wochenzeitschrift Eigentum eines der Sekretäre des Schatzamtes (Herrn Wilsons) ist, und deshalb können die Bemerkungen, auf die wir die Aufmerksamkeit lenken wollen, als halbamtlich betrachtet werden. Nachdem sie den Wechselkurs in Petersburg erläutert und aufgezeigt hat, daß als Folge unseres Handels mit Preußen dieses Land Rußland notwendigerweise britisches Gold für seine Kriegszwecke zur Verfügung stellen muß; nachdem sie erklärt hat, daß unsere Regierung dies alles vorausgesehen hat, doch einen solchen Stand der Dinge als kleineres Übel betrachtete, fährt der 'Economist' fort, daß nach dem Fall Sewastopols wir in dem ungestörten Besitz des Schwarzen Meeres und seiner Küsten und Herren der Donau sein werden. Doch inzwischen kann Rußland, in der Hoffnung, Englands Geduld auf die Probe zu stellen, eine Stellung beziehen, die wir niemals mit unseren Waffen erreichen können, weil Rußland in einer solchen Stellung nur durch seinen Handel zu greifen ist. Es kann sich die Frage erheben, ob unsere nationalen Interessen nicht über kurz oder lang eine andere Politik diktieren werden, als wir sie bisher verfolgt haben. Wir werden feststellen, daß wir die Häfen vergeblich blockieren, solange unsere Erzeugnisse über Nachbarländer schnellen Absatz finden und solange wir Preußen gestatten, als Vermittler, durch den unsere Blockade der russischen Küsten so einfach umgangen werden kann, soviel zu profitieren, etc. ... Wenn es daher Erwägungen der allgemeinen Politik erforderlich machen sollten, erneut die Frage zu untersuchen, in welchem Ausmaß die Blockade verstärkt und der Handel zu Wasser und zu Lande eingeschränkt werden soll, etc., schließt der 'Economist' mit folgender höchst feierlichen Warnung: 'Es wird für diejenigen, die bereit sind, sich in solche riskanten Unternehmen einzulassen' (die Versorgung der Russen mit Kapital zum Kauf von Waren im Winter, die im nächsten Jahr geliefert werden sollen), 'gut sein, daran zu denken, daß es sich als notwendig erweisen könnte, im zweiten Jahr eines russischen Feldzuges eine ganz andere Politik zu verfolgen als diejenige, die im ersten Jahr die klügste und beste war.'

Wir brauchen kaum darauf hinzuweisen, daß die Schlußfolgerung daraus (und wir empfehlen unseren Freunden ernsthaft, den ganzen Artikel sorgfältig zu beachten) ist, daß die alliierten Mächte beschlossen haben - als den einzigen Weg, den Krieg zum <530> Abschluß zu bringen -, nächstes Jahr den Überlandhandel zu verbieten; und um zu verhüten, daß die Kapitalisten in einen Handel einsteigen, der dann verboten seien wird, hat die Regierung wohlbedacht einem der Sekretäre des Schatzamtes erlaubt, ihre Absichten in geeigneter Weise bekanntzugeben, um unseren Kaufleuten die ernsten Folgen zu ersparen, die sich sonst ergeben würden. Am Sonnabend stand der Talgmarkt eine ganze Kleinigkeit unter den Preisen vom Freitag. Es ist wahrscheinlich, daß unsere Preise ohne den von uns erwähnten Artikel im 'Economist' heute als Folge der Nachrichten aus Sewastopol gesunken wären, da die Meinung herrscht, daß der Fall dieser bedeutenden Festung den Kaiser wahrscheinlich zum Nachgeben zwingen wird. Wir sind gerade entgegengesetzter Meinung, daß nämlich die bewußte Katastrophe nur dazu geeignet ist, die Erbitterung des Zaren zu schüren und ihn zu veranlassen, in anderer Richtung Revanche zu suchen. Es ist völlig sicher, daß, solange er nicht gezwungen ist, aus seinen eigenen großen Städten zu fliehen, er sich nicht als völlig geschlagen betrachten wird, und es steht für ihn zuviel auf dem Spiel, als daß er nachgeben würde, ehe er zum alleräußersten getrieben wird. Deshalb betrachten wir diesen Krieg als einen Krieg, der sich viele Jahre hinziehen kann, wenn nicht der Kurs eingeschlagen wird, den die Alliierten nach Meinung des 'Economist' einzuschlagen beabsichtigen."

Der "Moniteur" vom 5. Oktober teilt mit, daß Barbès, seit den letzten drei Jahren ein Gefangener in Belle-Île, auf Befehl Bonapartes bedingungslos in Freiheit gesetzt wurde, auf Grund eines Briefes, in dem er lebhafte Gefühle der Hoffnung auf den Erfolg der dezembristischen Zivilisation über die moskowitische Zivilisation äußerte; erstere ist, nebenbei gesagt, vor kurzem in Athen in Erscheinung getreten, als sie die Junitage 1849 wieder ins Gedächtnis zurückrief - indem die französische Soldateska dort einen "verdächtigen" Herausgeber einer Zeitung ergriff, seine Bücher und Briefe verbrannte und ihn ins Gefängnis warf. Von diesem Augenblick an hat Barbès aufgehört, einer der revolutionären Führer Frankreichs zu sein. Durch seine Sympathieerklärung für die französischen Waffen, gleich, aus welchem Grund und unter welchem Kommando sie auch eingesetzt werden mögen, hat er sich unweigerlich selbst mit den Moskowitern gleichgestellt, indem er deren Gleichgültigkeit gegenüber dem Ziel ihrer Feldzüge teilt. Barbès und Blanqui haben sich lange Zeit den Vorrang um die wirkliche Führung des revolutionären Frankreich streitig gemacht. Barbès hörte im Einvernehmen mit der Regierung niemals auf, Blanqui zu verleumden und zu verdächtigen. Die Tatsache seines Briefes und des Befehls von Bonaparte entscheidet die Frage, wer der Mann der Revolution ist und wer nicht.