Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 522-526
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Der Schwindel von Sewastopol

Geschrieben am 5./6. Oktober 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4215 vom 21. Oktober 1854, Leitartikel]

<522> "Catch a Tartar", lautet eine englische Redewendung. Es erweist sich, daß nicht nur die Engländer, sondern auch die Franzosen und Österreicher auf einen Tataren hereingefallen sind. Man mag uns vielleicht verzeihen, wenn wir eine gewisse Genugtuung darüber zum Ausdruck bringen, daß die "Tribune" und der Teil ihrer Leser, der den Verlauf des gegenwärtigen Feldzuges auf der Krim aufmerksam verfolgt, nicht wie die anderen hereingefallen sind.

Als wir erstmalig die unwahrscheinliche Kunde vom Fall Sewastopols erhielten, bemühten wir uns, durch eine Überprüfung der angeblichen Nachrichtenquellen wie an Hand kritischer militärischer Erwägungen zu zeigen, daß dem Sieg an der Alma, von welch entscheidender Bedeutung er auch gewesen sein mag, schwerlich so schnell die Kapitulation der Festung, das Ziel des ganzen Feldzuges, gefolgt sein konnte. Doch wir glauben, gleichzeitig die Tatsache festgestellt zu haben, daß die Alliierten absolut keinen entscheidenden Sieg errungen hatten, da die Russen sich mit all ihren Geschützen in völliger Ordnung zurückgezogen hatten. Schließlich bemühten wir uns, besonders darauf hinzuweisen, daß die ganze Nachricht, soweit sie über den Rahmen des offiziellen Berichtes von der Schlacht an der Alma hinausging, ausschließlich auf dem mündlichen Bericht eines Tataren beruhte, der mit versiegelten Depeschen zu Omer Pascha geschickt worden war. Deshalb waren wir völlig darauf vorbereitet, die Nachricht entgegenzunehmen, daß der ungeheuerliche "Fall Sewastopols" nichts als eine imaginäre Übertreibung des Sieges an der Alma war, die von einem zum Scherzen <523> aufgelegten Tataren in Bukarest berichtet, von dem melodramatischen Louis Napoleon in Boulogne verkündet und von jenem hervorragenden Exemplar dir Menschengattung, dem englischen Krämer, blindlings geglaubt worden war. Im allgemeinen hat sich die englische Presse als ein würdiger Vertreter dieser Klasse erwiesen, und es könnte so scheinen, als ob in England schon die bloße Erwähnung Sewastopols genügt, um jedermann in ein Schlaraffenland zu versetzen. Vielleicht werden sich unsere Leser daran erinnern, daß am Ende der letzten Session des Parlamentes Lord John Russell bekanntgab, die englische Regierung plane die Zerstörung Sewastopols, eine Bekanntgabe, die, obwohl sie in der gleichen Sitzung regelrecht widerrufen wurde, die ehrenwerten Mitglieder fünf Stunden lang in ein Schlaraffenland versetzte - um die bei jener Gelegenheit von Herrn Disraeli geäußerten Worte zu gebrauchen. Die "London Times" hat bisher nicht weniger als neun Leitartikel geschrieben, die alle bona fide oder mala fide <guten Glaubens oder schlechten Glaubens> von dieser gleichen Vorstellung getragen werden; alle, wie es scheinen mag, nur mit der Absicht, Sir Charles Napier zu einem unbesonnenen Angriff auf Kronstadt oder Sweaborg zu verleiten. Als ob sie trunken von Ruhm und berauscht von Erfolgen sei, ging jene Zeitung sogar soweit, die preußischen Küsten an der Ostsee sowie König Bomba <Ferdinand II.> in Neapel und den Großherzog von Toskana in Livorno zu bombardieren - selbstverständlich nur in der Einbildung. Sie war tatsächlich bereit, mit aller Welt Krieg zu führen und davon natürlich "den Rest der Menschheit" nicht auszunehmen.

Der wirkliche Zustand der Landbefestigungen Sewastopols ist zu wenig bekannt, um irgendeine zuverlässige Prognose zuzulassen, wie lange sich diese Festung halten könnte. Der Erfolg an der Alma ist ein fast sicheres Zeichen dafür, daß der Platz genommen wird, da er den Mut und Kampfgeist der alliierten Truppen erhöht haben muß und sich als wirksamer Schutz vor Krankheit erweisen wird - dem gefährlichsten Feind, mit dem sie auf der Krim zu tun haben, der bereits am Werke sein soll. Doch es ist töricht, anzunehmen, daß die Alliierten in Sewastopol einziehen wurden wie in ein Kaffeehaus.

Nach dem großen Schwindel über die Eroberung der Festung mit 30.000 Toten und Verwundeten und 22.000 Gefangenen - ein Schwindel, wie es seinesgleichen in der ganzen Geschichte noch nicht gegeben hat - sollte man natürlich annehmen, daß die wirklichen offiziellen Dokumente wenigstens das Verdienst haben, soweit sie gehen, klare und zuverlässige Informationen zu bieten. Indessen ist der in London am 5. Oktober in einer Extra- <524> nummer der "Gazette" veröffentlichte und in unseren Spalten heute morgen abgedruckte Bericht bei alledem doch nicht frei von zweideutigen Äußerungen. Er bietet in der Tat reichlich Anlaß zu Kritik - ein Umstand, der darauf zurückzuführen ist, daß er von Lord Stratford de Redcliffe ausgeht, einem Vertreter der Palmerstonschen Schule der Diplomatie. Erstens soll diese Depesche am 30. September um 31/2 Uhr nachmittags von Bukarest nach England abgeschickt worden sein, während sie Lord Redcliffe aus Konstantinopel am 30. um 91/2 Uhr abends datiert, so daß die Depesche besagt, sie sei tatsächlich sechs Stunden, bevor sie in Konstantinopel abgeschickt wurde, in Bukarest angekommen. Zweitens wird in der Depesche nichts davon erwähnt, was sich auf der Krim zwischen dem 20. und 28. September zugetragen hat; es heißt,

"die alliierten Armeen hätten ihre Operationsbasis am 28. morgens in Balaklawa errichtet und bereiteten sich darauf vor, unverzüglich nach Sewastopol zu marschieren. Die 'Agamemnon' (mit Admiral Lyons) und andere Kriegsschiffe befinden sich in der Bucht von Balaklawa. Es gäbe dort Möglichkeiten, den Belagerungs-Train auszuschiffen."

In der Annahme, daß diese Depesche richtig ist, hat die englische Presse natürlich die Schlußfolgerung gezogen, daß die alliierten Armeen den Belbek und die Nordseite passiert, die Höhen im Rücken der Bucht von Sewastopol bezwungen hätten und auf direktem Wege zur Bucht von Balaklawa vorgestoßen wären. Wir müssen hier bemerken, daß es vom militärischen Standpunkt aus unbegreiflich ist, daß eine Armee, die im Besitz der Sewastopol beherrschenden Höhen ist, diese auf der anderen Seite stillschweigend wieder herabsteigt, um zu einer elf Meilen entfernten Bucht zu marschieren, nur zu dem Zweck, dort "eine Operationsbasis zu schaffen". Andrerseits ist es durchaus denkbar, daß Admiral Lyons mit einem Teil der Flotte Kap Chersones umgeht, um einen Zufluchtshafen zu sichern, der zugleich dicht bei Sewastopol liegt und für die Landung der Belagerungsartillerie geeignet ist, die - wie wir immer behauptet haben - vorher noch nicht gelandet war. Die Geschütze sollten natürlich nicht ohne einen militärischen Schutz an Land gebracht werden, der entweder von dem Hauptteil der Armee nach ihrer Landung am Alten Fort abgezogen werden oder sich aus einem Teil der Reserve zusammensetzen könnte, die von Konstantinopel und Varna eingetroffen war.

Die neue Depesche meldet weiter, daß

"Fürst Menschikow an der Spitze von 20.000 Mann auf dem Plan war und auf Verstärkungen wartete".

<525> Hieraus schließen die englischen Blätter, daß die Russen 25.000 bis 30.000 Mann in den Schlachten zwischen dem 20. und 28. September verloren haben müssen, weil sie wie Lord Raglan annehmen, daß die Russen in der Schlacht an der Alma 45.000 bis 50.000 Mann stark waren. Wir haben bereits früher erklärt, daß wir diese Zahlen prima facie <auf dem ersten Blick> nicht glaubten, und haben für Fürst Menschikow nie mehr als ungefähr 25.000 Mann gerechnet, die für Feldoperationen zur Verfügung standen, und es stellt sich jetzt heraus, daß wir den russischen Angaben sehr nahe gekommen waren.

Sodann berichtet die Depesche, daß "der befestigte Platz Anapa von den Russen in Brand gesetzt worden ist. Seine Garnison befände sich auf dem Marsch zum Schlachtfeld." Wir können nicht glauben, daß diese Meldung stimmt. Wenn Fürst Menschikow überhaupt rechtzeitig irgendwelche Verstärkungen erwartet, dann könnten sie weit besser von Perekop als von Anapa kommen, das fast zweihundert Meilen entfernt ist; wenn er aus dem ersten Ort nicht mit Verstärkungen rechnen konnte, dann wäre es höchst töricht gewesen, die Garnison von Anapa jenseits des Schwarzen Meeres herbeizurufen, um neben Sewastopol auch das letzte Bollwerk im Kaukasus zu opfern. Folglich sehen wir, daß wir mit der ganzen "Information" dieser offiziellen Depesche wieder bei der Schlacht an der Alma als dem Hauptereignis anlangen, dessen Glaubwürdigkeit zugegeben werden muß. Doch auch über dieses Ereignis fehlen die Einzelheiten noch, und der Herzog von Newcastle hat jetzt der britischen Öffentlichkeit mitgeteilt, daß sie diese nicht vor Montag, dem 9. Oktober, erwarten dürfe. Alles, was wir außer dem offiziellen telegraphischen Bericht von Lord Raglan erfahren haben, ist folgendes: daß der Held des Londoner Leihhauses, Marschall Saint-Arnaud, am Tage der Schlacht "indisponiert" war (wer hat derartiges je von anderen Helden gehört?), daß Lord Raglan das Oberkommando hatte; daß die englischen Verluste nicht 1.400, sondern 2.000 Mann einschließlich 96 Offiziere betrugen, und daß in Konstantinopel bereits sechs Dampfer mit Verwundeten eingetroffen sind.

Die Bewegungen der Armee Omer Paschas, die sich von Bukarest und der Walachei über Rustschuk, Silistria und Oltenitza auf die Schwarzmeerküste richten, scheinen das Gerücht zu bestätigen, daß die alliierten Befehlshaber auf der Krim Verstärkungen angefordert haben. Doch dieser Rückzug der Türken aus der Walachei kann auch auf den Wunsch Österreichs zurückzuführen sein, sie von allen Straßen nach Bessarabien fernzuhalten, außer der ungangbaren durch die Dobrudscha.

<526> Bei der großen Leichtgläubigkeit, von der uns die englische Öffentlichkeit so zwingende Beweise gegeben hat, ist erwähnenswert, daß die Londoner Börse von der allgemeinen Begeisterung nur sehr wenig angesteckt wurde; die Staatspapiere stiegen niemals mehr als 5/8 Prozent. In Paris dagegen stiegen die Staatsschuldscheine sofort 11/2 Prozent, ein Anstieg, der übrigens im Vergleich zu dem von 10 Prozent nach der Niederlage bei Waterloo unbedeutend ist. So hat der ganze Schwindel, falls er, wie durchaus möglich, für kommerzielle Zwecke erfunden wurde, durchaus nicht die großen Ergebnisse erzielt, mit denen seine Urheber gerechnet haben müssen.