Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 388-390
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Der Angriff auf die russischen Festungen

Geschrieben am 7. August 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4162 vom 21. August 1854, Leitartikel]

<388> Es scheint, daß die alliierten Franzosen und Engländer endlich einen wirklichen Angriff auf Rußland unternehmen wollen. Die am weitesten vorgeschobenen Befestigungen des Reiches auf den Alandsinseln und in Sewastopol am Schwarzen Meer sollen nacheinander, wenn nicht gleichzeitig, angegriffen werden. Allerdings wird in Westeuropa gemunkelt, daß der erstgenannte Punkt nach einem kurzen Bombardement bereits genommen worden sei, doch die Nachricht bedarf der Bestätigung und ist wahrscheinlich verfrüht. Was den Angriff auf Sewastopol betrifft, so haben wir keine offizielle Mitteilung darüber, daß er stattfinden soll, doch wird es von der "London Times" entschieden behauptet und in dieser Stadt allgemein geglaubt. Bis jetzt sind nur ein paar Divisionen französischer und englischer Truppen in Varna eingeschifft worden, und obgleich angenommen wird, daß sie zu den Expeditionstruppen nach der Krim gehören, ist es andrerseits möglich, daß sie für die Belagerung der russischen Festung Anapa in Asien bestimmt sind, In dieser Hinsicht werden wahrscheinlich mit dem Eintreffen des nächsten Dampfers alle Zweifel behoben werden.

Der Angriff auf Bomarsund wird ein Ereignis von großem militärischen Interesse sein. Erstmalig werden Montalemberts kasemattierte Stadtbefestigungen erprobt werden. Nach den Ansichten und Plänen des Platzes zu urteilen, werden die dortigen Forts, obgleich in weit geringerem Maße als die von Helsingfors, Kronstadt oder Sewastopol, ebenso gegen einen Landangriff geschützt wie gegen ein Bombardement von Schiffen aus und sind ausschließlich nach Montalemberts Grundsätzen erbaut. Ein langes, bombensicheres Fort mit ungefähr hundert Geschützen, durch provisorische Erdwerke flankiert, bildet die Hauptverteidigung gegen Schiffe; im Rücken wird <389> es von großen Türmen beherrscht und geschützt, von denen einer mit dreißig und der andere mit zehn Geschützen bestückt ist. Während gegen das Hauptfort hauptsächlich die Schiffe eingesetzt würden, würde der Angriff auf die Türme von den Landstreitkräften durchgeführt werden. Unseren letzten Berichten zufolge ist die Garnison viel schwächer als wir angenommen haben; sie besteht aus nur wenig mehr als dreitausend Mann. Aus den zur Verfügung stehenden Informationen geht nicht ganz klar hervor, inwiefern der Angriff von der See aus und der Angriff vom Land nicht nur zeitlich zusammenfallen, sondern tatsächlich zusammen durchgeführt werden und sich gegenseitig unterstützen können, denn ein Angriff von der See aus ist zwangsläufig ein Angriff de vive force <im Sturm>, der in sehr kurzer Zeit entschieden sein muß, während jeder Landangriff gegen Mauerwerk Vorbereitungsarbeiten voraussetzt, mit wenigstens einer Parallele und Batterien, und deshalb eine gewisse Zeit erfordert. Solche Fragen können jedoch nur an Ort und Stelle entschieden werden. Auf jeden Fall wird die Einnahme Bomarsunds vom militärischen Standpunkt aus weit interessanter sein als selbst die Einnahme Sewastopols, da sie zur Lösung einer vieldiskutierten Frage beiträgt, während letztere Tat nur die erfolgreiche Durchführung alter militärischer Regeln bedeuten würde.

Der vorgesehene Angriff auf Sewastopol muß hauptsächlich durch Landstreitkräfte ausgeführt werden, während sich die Aktionen der Flotte fast gänzlich auf die vollständige Blockade des Hafens beschränken müssen. Damit läuft er auf eine Land- und Seeblockade eines auf der Landseite unvollständig befestigten Seehafens hinaus. Wir können nicht wissen, welche Befestigungen von den Russen im Süden der Stadt und der Bucht errichtet worden sind; doch daß sie Redouten und Linien errichtet haben, die eine förmliche Belagerung erfordern, wenn man nicht große Opfer in Kauf nehmen will, steht außer Frage. Auf jeden Fall wissen wir, daß ein ständiges und allem Anschein nach gut konstruiertes Fort - ein großes Quadrat mit ausreichender Grabenverteidigung auf allen Seiten und Mörserbatterien auf allen vorspringenden Winkeln - den Hügel im Norden der Bucht, genau gegenüber der Stadt, krönt. Dieser Hügel ist die einzige Stellung in der Nähe der Stadt, die anscheinend nicht in Reichweite der Geschütze von anderen Höhen beherrscht wird und die selbst die Bucht und ihre gegenüberliegenden Hänge beherrscht. Hier wird also auf jeden Fall der Hauptwiderstand geleistet werden; doch es kann bezweifelt werden, ob die Stadt und der Hafen gehalten werden können, selbst wenn alle Forts an der Südküste genommen <390> worden sind, solange dieses Fort nicht bezwungen ist. Dort werden zumindest einige reguläre Belagerungsarbeiten notwendig sein. Nun beträgt die Ausdehnung der Bucht vom Kap Konstantin bis zu ihrem östlichen Ende ungefähr acht Meilen, und wenn man für die Stadt und die Forts eine beschränkte Ausdehnung annimmt, müßten sich die alliierten Truppen in einem Halbkreis von zweiundzwanzig oder vierundzwanzig Meilen im Umkreis ausbreiten, um die Blockade vom Lande aus zu sichern. Sie müssen an allen Punkten stark genug sein, um Ausfällen der Garnison und den Angriffen beliebiger Truppen Widerstand zu leisten, die in ihrem Rücken zusammengezogen werden könnten. Obwohl wir keine Möglichkeit haben, zu erfahren, welche Streitkräfte die Russen direkt oder indirekt zur Verteidigung ihrer Schwarzmeer-Feste einsetzen können, zeigen doch diese Einzelheiten, daß zu ihrer Einnahme beträchtliche Truppen erforderlich sind. Außerdem muß einem gefährlichen Feind Widerstand geleistet werden, dem tödlichen Klima der südlichen Krim. Da die Strandbatterien bei diesem Angriff den Russen kaum Nutzen bringen können, muß der Angriff ein gut Teil an militärischem Interesse einbüßen, weil er sich auf eine Belagerung in sehr großem, jedoch keinesfalls beispiellosem Maßstab beschränkt. Die für diese Bewegung vorgesehene Streitmacht wird nirgends mit mehr als 100.000 Mann angegeben, einschließlich eines Detachements Türken. Wenn man alle Umstände berücksichtigt, scheint diese Armee zur Erreichung dieses Zieles nicht auszureichen.