Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 294-298
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Der russische Rückzug

Geschrieben zwischen dem 19. und 23. Juni 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4126 vom 10. Juli 1854, Leitartikel]

<294> Die Rückzugsbewegung der Russen in der Türkei ist weit vollständiger, als wir es erwartet hatten, und vollständiger, als es selbst im schlimmsten Falle jetzt vom militärischen Standpunkt aus notwendig erscheint. Offenbar beinhalten die Zusicherung des Zaren an den Kaiser von Österreich und die Befehl, an seine Generale auch die völlige Räumung der Moldau und der Walachei, wobei keine russischen Soldaten auf türkischem Boden verbleiben, hingegen eine starke österreichische Streitmacht deren Stelle sofort einnehmen und die vor kurzem noch einander bekämpfenden Gegner trennen wird. Es wäre jedoch ein Irrtum, anzunehmen, daß sich die Russen wegen ihrer Niederlage vor Silistria zurückziehen, oder die prahlerischen Behauptungen der englischen Zeitungen für bare Münze zu nehmen, die diese Niederlage als Flucht hinstellen und die Welt gern glauben machen möchten, daß 15.000 oder höchstens 17.000 aus einer Festung ausfallende Soldaten 100.000 oder wenigstens 90.000 Soldaten in die Flucht jagen könnten. Zweifellos wurden die Russen wieder und wieder blutig und entscheidend zurückgeschlagen, wie sie es auch verdienten durch ihre überstürzten, schlecht durchdachten, aller Kriegswissenschaft widersprechenden, verworrenen Angriffe, so tapfer sie auch durchgeführt wurden; die Türken kämpften mit heroischem, unübertroffenem Mut und bewiesen ein solches Maß an militärischem Können, daß diese Belagerung für immer in die Geschichte eingehen wird; doch wir sehen in alledem noch keinen Grund zu glauben, daß sie den Feind gezwungen hätten, die Belagerung aufzuheben. Tatsächlich wurden, wie unsere glaubwürdigste Information lautet, die russischen Batterien am linken Ufer immer noch gehalten und gegen die Festung eingesetzt, auch nach jenem letzten mörderischen Ausfall, bei dem einigen übertriebenen Meldungen zufolge diese Batterien von der Besatzung <295> angeblich erobert wurden. Die Wahrheit ist offensichtlich, daß die Russen sich vor Silistria letztlich einfach deshalb zurückzogen, weil der Zar mit Österreich übereingekommen war, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sämtliche Truppen aus den Fürstentümern abzuziehen. Er hatte seinen Truppen befohlen, zuvor Silistria zu nehmen, um die Türkei mit dem Prestige wenigstens eines Sieges zu verlassen; das gelang ihnen nicht, und sie mußten abziehen, beladen mit der Schande eines Mißerfolges; doch ihr Marsch war keine Flucht vor einem ihnen auf den Fersen folgenden Feind. Sie konnten Silistria nicht einnehmen und hätten dies vermutlich auch mit einer förmlichen Belagerung nicht vermocht; wahrscheinlich hätten sie in diesem Feldzug nichts gewinnen können und sich in diesem Falle nach dem Sereth zurückziehen müssen; dennoch waren sie stärker als die Alliierten - die Türken und die anderen -, zumindest aber waren sie in der Verteidigung weit stärker. Außerdem waren sie noch nicht auf die Alliierten getroffen, und noch hatte keine entscheidende Schlacht stattgefunden. Es steht deshalb außer Zweifel, daß dieser Rückzug zum Pruth von diplomatischen Erwägungen und nicht von einer militärischen Notwendigkeit diktiert wird, als Folge der Übermacht oder überlegenen Strategie Omer Paschas und seiner Alliierten in der Türkei.

Wenn es auch falsch wäre anzunehmen, daß die Russen vor Silistria tatsächlich vertrieben wurden, so wäre es doch ebenso falsch, nicht zu begreifen, daß die Umstände des Krieges überhaupt gegen sie sind und daß ihnen die österreichische Intervention die beste Möglichkeit bietet, ihr Los zu verbessern. Wir sprechen hier nicht von ihren aufeinanderfolgenden Rückschlägen bei Oltenitza, Cetate, Karakal oder Silistria, verhältnismäßig kleinen Treffen, wo die Türken sie schlugen und denen sie nirgends ähnlich glanzvolle Erfolge entgegensetzen konnten. Insgesamt brachten all diese Kämpfe keine entscheidenden oder umwälzenden Ergebnisse; doch in Asien haben sie ihr Spiel stets verloren, und jetzt droht der endgültige Verlust. Von ihren zahlreichen Festungen am Schwarzen Meer verbleiben nur zwei; im Innern des Landes aber haben Schamyl und seine Bergvölker nicht nur die nächstliegenden Berge und Täler von dem verhaßten Moskowiter befreit, sondern auch Fürst Woronzow von Rußland abgeschnitten, und marschieren, wobei sie im Süden mit den Türken zusammenwirken, in einer solchen Stärke auf Tiflis zu, die Fürst Woronzow möglicherweise zwingen könnte, sich zu ergeben mit den so schwer eroberten und mühevoll gehaltenen transkaukasischen Besitzungen Rußlands. Diese Provinzen, die so viel Blut und Geld gekostet haben, zu verlieren, wäre für den Zaren wohl eine größere Schande als die Niederlage in einer entscheidenden Schlacht in der Türkei; <296> und es unterliegt keinem Zweifel, daß er, sobald seine Armeen über den Pruth zurück sind, sofort alle Kräfte, die er von der Verteidigung der Krim und Sewastopols abziehen kann, einsetzen wird, um die Pässe des Kaukasus zurückzuerobern und Woronzow zu unterstützen. Der Erfolg Schamyls hat aller Wahrscheinlichkeit nach viel dazu beigetragen, daß die Russen der österreichischen Sommation, die Fürstentümer zu räumen, nachgekommen sind.

In diesem wichtigen Übereinkommen, das die Aussichten des Krieges so verändert und kompliziert, nimmt Österreich eine sehr wichtige und vorteilhafte Stellung ein. Das ist ein großer Sieg seiner Diplomatie und zeugt von dem Respekt, den alle kämpfenden Parteien vor seinen militärischen Ressourcen hegen. Es mischt sich als Freund beider Seiten ein; die Russen ziehen ruhig ab, um ihm Platz zu machen; die Pforte aber folgt nur dem Rat Frankreichs und Englands, wenn sie den Vertrag unterzeichnet, der Österreich die Besetzung der Fürstentümer gestattet. Es ist folglich bewaffneter Vermittler zwischen den Kämpfenden mit deren beiderseitigem Einverständnis, weil jeder die Einmischung als vorteilhaft für sich selber betrachtet. Die Westmächte erklären offen, daß damit Österreich zu ihren Gunsten handelt - doch die Übereinkunft, die, wie die Tatsachen beweisen, zwischen St. Petersburg und Wien in dieser Hinsicht bestanden hat, noch ehe der Welt bekannt war, daß eine solche Einmischung überhaupt stattfinden wird, und noch ehe die Armee unter Paskewitsch bei Silistria zurückgeschlagen worden war, läßt uns nicht daran zweifeln, daß auch Rußland der Auffassung ist, Österreich handle zu seinen Gunsten. Wer also ist dann der Betrogene, und welche Seite wird von Österreich verraten werden?

Natürlich verfolgt Österreich wie jede andere Macht ausschließlich seine eigenen Interessen. Diese Interessen erfordern einerseits, daß Rußland die Fürstentümer nicht besetzt halte und die Zugänge zur Donau und zum Schwarzen Meer nicht kontrolliere, da ein großer und zunehmender Teil des österreichischen Handels in diese Richtung geht. Außerdem könnte eine Annexion der Türkei oder eines Teiles von ihr durch Rußland zu Unruhen unter den slawischen Stämmen des österreichischen Reiches führen, unter denen der Panslawismus oder die Idee einer Vereinigung mit Rußland bereits zahlreiche Anhänger besitzt. Es ist deshalb klar, daß Österreich niemals der Einverleibung der Türkei durch Rußland zustimmen kann, wenn es nicht gleichzeitig an anderer Stelle einen gleichwertigen Land- und Machtzuwachs erhält, was unmöglich ist. Doch andrerseits bekundet die österreichische Politik dem Zaren ihre ganze Sympathie, während sie Frankreich und England ablehnend gegenübersteht; es wird in Wahrheit immer gegen die West- <297> mächte eingestellt sein. Daß Rußland zur Strafe für den Beginn eines nutzlosen Krieges gedemütigt worden ist, kann in Wien kein Grund zur Trauer sein; doch Österreich wird es niemals dulden, daß Rußland ernsthaft geschwächt wird, da die Habsburger in diesem Falle ohne einen Freund wären, der ihnen aus dem nächsten revolutionären Strudel heraushelfen könnte. Diese kurze Darlegung scheint uns die Motive zu enthalten, von denen sich das Wiener Kabinett während der gesamten weiteren Entwicklung des Krieges leiten lassen muß. Es wird eine oder beide der kriegführenden Seiten verraten, und dies gerade so weit, wie es die Interessen Österreichs und der kaiserlichen Dynastie erheischen, nicht mehr.

Die Tatsache, daß Rußland sich zurückzieht und seine Übergriffe einstellt und die geräumten Provinzen an Österreich übergeben werden, verpflichten letzteres gleichzeitig, jede weitere Schädigung Rußlands zu verhindern. Österreich mag dem Namen nach weiterhin Freundschaft mit den Alliierten halten, doch es liegt in seinem Interesse, daß diesen jeder weitere Angriff auf den Zaren mißlinge, und wir dürfen sicher sein, daß es, bis auf eine tatsächliche Kriegserklärung, auf die es in keinem Fall zurückzugreifen wagt, alles zum Mißlingen solcher Angriffe tun wird. Es muß also die Westmächte verraten; sie sind in dem Vertrag, der einer österreichischen Armee die Besetzung der türkischen Provinzen gestattet, die Betrogenen; und das wird ihnen im Verlauf des Krieges zur gegebenen Zeit offenbar werden.

Offensichtlich sollte nach dem Plan des englischen Premierministers Lord Aberdeen der Krieg nicht fortgeführt werden, sondern der Streit nun dem Wunsche Österreichs entsprechend auf der Grundlage des Status quo beigelegt werden, wobei das Protektorat über die Fürstentümer möglichst von Rußland auf das Haus Habsburg übertragen werden soll. Diesen Plan können wir jedoch wegen der eigenen Bloßstellung Lord Aberdeens in seiner berüchtigten Rede und der darauffolgenden Parlamentsdebatte, von der wir in dieser Zeitung einen vollständigen Bericht geben, als gescheitert betrachten. Das britische Volk, durch diese Enthüllungen erregt, wird zumindest gegenwärtig nicht damit einverstanden sein, Frieden zu schließen, ohne daß für die enormen Summen, die ihm der Krieg kostet, bestimmte Ergebnisse erzielt werde, die mehr als nur die Wiederherstellung der früheren Lage bedeuten. Das britische Volk hält es für unerläßlich, Rußland kampfunfähig zu machen, damit es so bald nicht wieder die Welt derart beunruhigen kann; es erwartet ungeduldig einige glänzende Waffentaten, wie etwa die Eroberung Kronstadts oder Sewastopols. Ohne solch einen greifbaren Lohn für seine Teil- <298> nahme am Krieg wird es jetzt nicht damit einverstanden sein, Frieden zu schließen. Diese Stimmung des Volkes wird wahrscheinlich sehr bald zu einem Wechsel im Ministerium und zu einer Verlängerung des Krieg führen. Doch das bedeutet keineswegs, daß Rußland durch die Verlängerung des Krieges härtere Schläge erhalten wird, als es bereits erlitten hat - es sei denn, daß die Türken und Tscherkessen seine transkaukasischen Provinzen ohne jede westliche Hilfe erobern. Und wenn wir die Männer, die, nachdem sich Lord Aberdeen ins Privatleben zurückgezogen hat, wahrscheinlich in London an der Macht bleiben, nach ihren Taten seit Beginn des Krieges beurteilen, so bestünde kein Grund zur Überraschung, wenn wir eines schönen Tages erlebten, daß sie einen Friedensvertrag auf der Grundlage unterzeichnen, für deren Unterstützung Lord Aberdeen jetzt aus dem Amt getrieben wird. Bis jetzt ist die österreichische Diplomatie erfolgreich gewesen; es ist sehr wahrscheinlich, daß sie auch den endgültigen Sieg davontragen wird.