Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 140-151
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Die Dokumente über die Teilung der Türkei

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4045 vom 5. April 1854]

<140> London, Dienstag, 21. März 1854.

Ein sehr wichtiges Ereignis ist die erzwungene Veröffentlichung der geheimen Korrespondenz der Minister, die sie während der ersten drei Monate ihrer Amtszeit mit dem Kaiser von Rußland führten, wie auch des Memorandums über die Unterredung zwischen dem Zaren und Lord Aberdeen im Jahre 1844, die letzterer als Antwort auf eine Herausforderung des "Journal de Saint-Pétersbourg" veröffentlichte.

Ich beginne mit einer Analyse des "Memorandums" des Grafen Nesselrode an die britische Regierung, gegründet auf Mitteilungen des Kaisers von Rußland nach dessen Besuch in England im Juni 1844. Der gegenwärtige Status quo des Ottomanischen Reiches "verträgt sich am besten mit dem allgemeinen Interesse der Erhaltung des Friedens". England und Rußland sind in bezug auf dieses Prinzip der gleichen Meinung und vereinigen daher ihre Anstrengungen, diesen Status quo zu erhalten.

"Zu diesem Behuf ist es wesentlich, die Pforte in Frieden leben zu lassen, ohne sie durch diplomatische Plackereien nutzlos aufzuregen, und sich ohne absolute Notwendigkeit nicht in ihre inneren Angelegenheiten zu mischen."

Wie soll nun dieses "System der Schonung" erfolgreich ausgeübt werden? Erstens soll Großbritannien sich der Auslegung nicht widersetzen, die Rußland für geeignet findet, seinen Verträgen mit der Pforte zu geben, sondern soll die letztere im Gegenteil zwingen, in Übereinstimmung mit jenen Verträgen so zu handeln, wie Rußland sie auslegt; zweitens soll es Rußland gestattet sein, sich "unablässig" in die Angelegenheiten zwischen dem Sultan und seinen christlichen Untertanen einzumischen. Mit einem Wort, das System der Schonung gegenüber der Pforte bedeutet ein System des Einverständnisses <141> mit Rußland. Man hütet sich natürlich, diesen seltsamen Vorschlag in nackten Worten auszudrücken.

Das Memorandum tut so, als ob es von "allen Großmächten" spräche, gibt aber gleichzeitig deutlich zu verstehen, daß außer Rußland und England keine Großmächte existieren. Von Frankreich heißt es, daß es "sich wird in die Notwendigkeit finden müssen, sich dem zwischen St. Petersburg und London verabredeten Verfahren anzubequemen". Österreich wird als bloßes Anhängsel Rußlands dargestellt, das kein selbständiges Leben, keine eigene Politik hat, sondern "durch das Prinzip der vollkommenen Solidarität" mit der Rußlands "eng verbunden ist". Preußen wird als Null behandelt, die keiner Beachtung wert ist, und wird als solche gar nicht erst erwähnt. "Alle Großmächte" ist also lediglich eine rhetorische Floskel für die Kabinette von St. Petersburg und London, und die Verhaltungsmaßregeln, auf die sich alle Großmächte einigen sollen, sind nichts anderes als das, was St. Petersburg vorschreibt und London befolgen soll. Das Memorandum sagt:

"Die Pforte hat ein beständiges Streben, sich von den Verbindlichkeiten loszumachen, welche ihr die mit den anderen Mächten geschlossenen Verträge auferlegen. Sie hofft es ungestraft zu tun, weil sie auf die gegenseitige Eifersucht der Kabinette zählt. Sie glaubt, wenn sie ihren Verbindlichkeiten gegen eines derselben nicht nachkommt, daß die anderen für ihre Zänkerei Partei nehmen und sie gegen jede Verantwortlichkeit decken werden.

Es ist wesentlich, die Pforte nicht in dieser Täuschung zu bestärken. Sooft sie ihren Verbindlichkeiten gegen eine der Großmächte nicht nachkommt, ist es im Interesse aller anderen, sie ihren Irrtum fühlen zulassen und sie ernstlich zu ermahnen, dem Kabinett, das eine gerechte Genugtuung verlangt, sein Recht angedeihen zu lassen.

Sowie die Pforte sich nicht durch die anderen Kabinette unterstützt sieht, wird sie nachgeben, und die entstandenen Zwistigkeiten werden sich auf dem Wege der Versöhnung ausgleichen, ohne daß ein Zusammenstoß daraus entspringt."

Das ist die Formel, mit der man sich an England wendet, damit es Rußland in seiner Politik beistehe, der Türkei auf Grund seiner alten Verträge neue Konzessionen zu entreißen.

"Bei der gegenwärtigen Lage der Stimmung in Europa können die Kabinette nicht mit Gleichgültigkeit zusehen, daß die christlichen Völkerschaften in der Türkei auffallenden Handlungen der Plackerei und religiöser Unduldsamkeit ausgesetzt werden. Diese Wahrheit muß man die ottomanischen Minister unablässig fühlen lassen und sie überzeugen, daß sie auf die Freundschaft und den Beistand der Großmächte zählen können nur unter der Bedingung, daß sie die christlichen Untertanen der Pforte mit Duldsamkeit und Milde behandeln.

Geleitet durch diese Prinzipien müssen die fremden Vertreter in einem vollkommenen Geist der Eintracht untereinander handeln. Wenn sie bei der Pforte <142> Vorstellungen erheben, so muß ihnen das Gepräge eines echten Charakters von Einmütigkeit aufgedrückt sein, ohne das einer exklusiven Übermacht an sich zu tragen."

In dieser milden Form wird England gelehrt, wie es Rußlands Ansprüche auf ein religiöses Protektorat über die Christen in der Türkei zu unterstützen habe.

Nachdem es so die Prämissen für seine "Politik der Schonung" entwickelt hat, kann Rußland seinem Vertrauten nicht verhehlen, daß gerade diese Schonung sich als verhängnisvoller erweisen könnte als jede Angriffspolitik und schrecklich dazu beitragen könnte, alle "Elemente der Zersetzung" zu entwickeln, die das Ottomanische Reich enthält; so daß eines schönen Morgens

"unvorhergesehene Umstände seinen Sturz beschleunigen können, ohne daß es in der Macht der befreundeten Kabinette steht, ihn zu verhindern".

Dann wird die Frage aufgeworfen, was getan werden müßte, falls solche unvorhergesehenen Umstände eine endgültige Katastrophe in der Türkei herbeiführten.

Da heißt es nun, falls der Zusammenbruch der Türkei unmittelbar bevorstände, sei das einzig Erforderliche, daß England und Rußland "sich vorher verständigen, ehe sie zu Taten schreiten". "Diese Idee", so versichert uns das Memorandum, "wurde während des letzten Aufenthalts des Kaisers in London im Prinzip vereinbart" (in den langen Besprechungen des Autokraten mit dem Herzog von Wellington, Sir Robert Peel und dem Earl of Aberdeen). Das Resultat war

"die eventuelle Verbindlichkeit, daß, wenn etwas Unvorhergesehenes in der Türkei sich ereignete, Rußland und England voraus Abrede träfen, was sie in Gemeinschaft tun wollten".

Was bedeutet nun diese eventuelle Verbindlichkeit? Erstens, daß Rußland und England schon im vorhinein über die Teilung der Türkei zu einer gemeinsamen Verständigung gelangen sollen, und zweitens, daß in einem solchen Fall England sich verpflichten soll, eine Heilige Allianz mit Rußland und Österreich - das als das alter ego <das andere Ich> Rußlands dargestellt wird - gegen Frankreich einzugehen, das "genötigt", d.h. gezwungen wäre, ihren Zielen gemäß zu handeln. Das natürliche Ergebnis einer solchen gemeinsamen Verständigung wäre die Verwicklung Englands in einen mörderischen Krieg mit Frankreich, so daß Rußland vollkommen freie Hand hätte, seine eigene Politik in der Türkei zu verfolgen.

<143> Immer und immer wieder wird großer Nachdruck auf die "unvorhergesehenen Umstände" gelegt, die den Zusammenbruch der Türkei beschleunigen können. Am Ende des Memorandums verschwindet jedoch diese mysteriöse Phrase, um einer deutlicheren Wendung Platz zu machen: "Wenn wir voraussehen, daß das Ottomanische Reich zusammenstürzen muß, so müssen England und Rußland sich voraus verabreden" etc. Der einzige unvorhergesehene Umstand war also die unvorhergesehene Erklärung Rußlands, daß das Ottomanische Reich jetzt zusammenbrechen müsse. Die Hauptsache, die durch diese eventuelle Verpflichtung erreicht wird, ist die Rußland gewährte Freiheit, im gegebenen Moment den plötzlichen Zusammenbruch der Türkei vorauszusehen und England zum Eintritt in Verhandlungen über die gemeinsame Verständigung darüber zu zwingen, daß eine solche Katastrophe unmittelbar bevorsteht.

Demgemäß wird jetzt, etwa zehn Jahre nach der Abfassung des Memorandums, England gebührend davon in Kenntnis gesetzt, daß die Lebensfähigkeit des Ottomanischen Reiches dahin ist, und daß es sich nunmehr des früher gegebenen Einverständnisses zur Ausschließung Frankreichs zu erinnern habe, d.h. daß es hinter dem Rücken der Türkei und Frankreichs konspirieren soll. Mit dieser Eröffnung beginnt die Reihe der zwischen St. Petersburg und dem Koalitionskabinett ausgetauschten geheimen und vertraulichen Dokumente.

Sir G. H. Seymour, der britische Gesandte in St. Petersburg, sendet am 11. Januar 1853 seine erste geheime und vertrauliche Depesche an Lord J. Russell, den damaligen Minister des Auswärtigen. Am Abend des 9. Januar hatte er die "Ehre", den Kaiser im Palast der Großfürstin Jelena zu sehen, die geruht hatte, Lady Seymour und ihn einzuladen, damit er mit der kaiserlichen Familie zusammenträfe. Der Kaiser trat huldvollst auf ihn zu und drückte seine große Freude über die Nachricht von der Bildung des Koalitionskabinetts aus, dem er ein langes Leben wünsche; er bat den Gesandten, dem alten Aberdeen seine Gratulation zu übermitteln und Lord John Russell einzuschärfen,

"es sei sehr wesentlich, daß die zwei Regierungen - die englische Regierung und ich, und ich und die englische Regierung - im besten Vernehmen sind, und nie sei die Notwendigkeit größer gewesen als in diesem Augenblick".

Man bedenke, diese Worte wurden im Januar 1853 gesprochen, geradezu der Zeit, als Österreich, "zwischen dem und Rußland" gemäß dem Memorandum "in bezug auf die Angelegenheiten der Türkei eine vollkommene Gleichmäßigkeit der Prinzipien vorhanden ist", offenkundig in Montenegro Unruhe zu stiften suchte.

<144> "Wenn wir einig sind", sagte der Zar, "so ist es von wenig Wichtigkeit, was die anderen denken oder tun ... Die Türkei", fuhr er in heuchlerisch-teilnahmsvoller Weise fort, "ist in einem sehr kritischen Zustand und kann uns allen noch sehr viel zu schaffen geben."

Nachdem der Zar das gesagt hatte, schüttelte er Sir Hamilton Seymour sehr gnädig die Hand, als ob er Abschied nehmen wollte. Aber Sir Hamilton, "dem sogleich der Gedanke kam, daß die Unterredung unvollständig sei", nahm sich "die große Freiheit", den Autokraten untertänigst zu bitten, "sich etwas bestimmter wegen der Angelegenheiten der Türkei zu äußern".

"Die Worte und die Gebärde des Kaisers, obgleich immer sehr gnädig", bemerkt der Beobachter, "bezeugten, daß Seine Majestät keine Absicht habe, mit mir von der Demonstration zu sprechen, welche im Süden zu machen er im Begriff steht."

Es sei erwähnt, daß Sir Hamilton schon in seiner Depesche vom 7. Januar 1853 die britische Regierung davon verständigt hatte, daß

"dem 5. corps d'armée <Armeekorps> Order gegeben sei, an die Grenze der Donauprovinzen vorzurücken, und daß das 4. Korps Befehl erhalten werde, für den Bedarfsfall sich marschbereit zu halten".

Und in einer vom 8. Januar 1853 datierten Depesche teilte er mit, daß Nesselrode ihm gegenüber seine Meinung ausgesprochen habe über "die Notwendigkeit, daß die Diplomatie Rußlands durch eine Demonstration der bewaffneten Macht unterstützt würde".

Sir Hamilton fährt dann in seiner Depesche fort:

"Der Kaiser sagte zunächst mit einigem Zaudern, dann aber in einem offenen und unbedenklichen Tone: 'Die Angelegenheiten der Türkei sind in einem Zustand großer Zerrüttung. Das Land droht eine Ruine zu werden (menace ruine). Der Einsturz wird ein großes Unglück sein, und es ist sehr wichtig, daß England und Rußland zu einem vollkommenen Einverständnis in diesen Angelegenheiten kommen und daß keiner ohne Vorwissen des anderen einen entscheidenden Schritt tue.'

'Sehen Sie', rief er aus, 'wir haben einen kranken Mann auf unseren Armen, einen schwerkranken Mann. Es wäre, ich sage es Ihnen frei heraus, ein großes Unglück, wenn er uns eines Tages entfallen sollte, zumal ehe alle notwendigen Vorkehrungen genommen wären. Doch ist es jetzt nicht an der Zeit, über diese Sache mit Ihnen zu sprechen.'"

Dieser Bär hält den Patienten für so schwach, daß er ihn auffressen muß. Sir Hamilton, etwas erschrocken über diese "unerwartete" Diagnose des <145> moskowitischen Arztes, antwortet in einem wahren Ausbruch von Höflichlichkeit:

"Eure Majestät sind so gnädig, daß Sie mir erlauben werden, noch eine Bemerkung zu machen. Eure Majestät sagen, daß der Mann ein Kranker ist; das ist sehr wahr. Aber Eure Majestät werden geruhen, mich zu entschuldigen, wenn ich Ihnen bemerklich mache, daß es Sache des großmütigen und starken Menschen ist, den kranken und schwachen zu schonen."

Der britische Gesandte tröstet sich mit dem Gedanken, daß seine Übereinstimmung mit der Ansicht des Zaren über die Türkei und die Krankheit und sein Appell um Nachsicht mit dem kranken Mann den Kaiser "wenigstens nicht verletzt habe". So endet Sir H. Seymours Bericht über seine erste vertrauliche Unterredung mit dem Zaren; obgleich er sich ihm gegenüber als vollendeter Höfling zeigt, ist er doch vernünftig genug, sein Kabinett zu warnen und ihm folgendes zu sagen:

"Jede derartige Eröffnung zielt nur dahin ab, ein Dilemma zu stellen. Das Dilemma scheint mir dieses zu sein: Wenn die Regierung Ihrer Majestät sich mit Rußland nicht über das verständigt, was in der Voraussetzung der plötzlichen Auflösung der Türkei geschehen soll, so wird sie um so weniger Ursache haben, sich zu beklagen, im Fall die Folgen für England unangenehm wären. Wenn dagegen die Regierung Ihrer Majestät auf die Prüfung dieser Eventualitäten einginge, so würde sie bis auf einen gewissen Grad zustimmender Teil sein zu einer Katastrophe, die so lange als möglich zu entfernen von großer Wichtigkeit ist."

Sir Hamilton schließt seine Depesche mit folgendem epigrammatischem Ausspruch:

"Das Ganze läßt sich vermutlich in diesen Worten zusammenfassen: England muß ein inniges Einverständnis mit Rußland wünschen zum Zweck, den Sturz der Türkei zu verhindern, während es Rußland lieber wäre, daß dieses Einverständnis Ereignissen gälte, von welchen der Sturz der Türkei die Folge wäre."

Wie Sir G. H. Seymour in seiner vom 22. Januar 1853 datierten Depesche an Lord J. Russell mitteilt, hatte er am 14. Januar eine weitere vertrauliche Unterredung mit dem Zaren, den "er allein fand". Der Autokrat geruhte, dem englischen Gesandten eine Lektion in orientalischen Angelegenheiten zu erteilen. Die Träume und Pläne der Kaiserin Katharina II. wären bekannt, aber er teile sie nicht. Seiner Meinung nach gäbe es im Gegenteil vielleicht nur eine Gefahr für Rußland, nämlich die einer weiteren Ausdehnung seiner bereits zu großen Besitzungen. (Ihre Leser werden sich erinnern, daß ich darauf anspielte, als ich einen Auszug aus den Depeschen des Grafen Pozzo di Borgo gab.) Der Status quo der Türkei sei den russischen Interessen am <146> besten angepaßt. Einerseits hätten die Türken ihren militärischen Unternehmungsgeist verloren, andrerseits aber

"sei dies Land noch stark genug oder war bis jetzt stark genug, seine Unabhängigkeit zu bewahren und sich eine achtungsvolle Behandlung von anderen Ländern zu sichern".

In diesem Reich aber befänden sich zufällig mehrere Millionen Christen, deren er sich annehmen müsse, so hart und "unbequem" diese Aufgabe auch sei. Dazu verpflichte ihn gleichzeitig sein Recht, seine Pflicht und sein Religion. Dann kam der Zar ganz plötzlich auf seine Parabel von dem kranke Mann, dem sehr kranken Mann zurück, dem sie keinesfalls gestatten dürften, "plötzlich in ihren Armen zu sterben" (de leur échapper <ihnen zu entwischen>). "Chaos, Verwirrung und die Gewißheit eines europäischen Kriegs müssen die Katastrophe begleiten, wenn sie unerwartet kommt und bevor ein weiterer Plan entworfen ist."

Nachdem er somit abermals das drohende Ableben des Ottomanischen Reiches angekündigt hat, folgt die Aufforderung an England, gemäß der "eventuellen Verabredung" die Erbschaft gemeinsam mit Rußland zu berechnen. Er vermied jedoch, seinen eigenen "weiteren Plan" zu entwerfen, und begnügte sich, in parlamentarischen Wendungen den Hauptpunkt hervorzuheben, der im Falle einer Teilung im Auge behalten werden müßte:

"Ich wünsche mit Ihnen als Freund und Gentleman zu sprechen. Wenn es gelingt, daß wir, England und ich, uns über diese Sache verständigen, so ist mir an dem übrigen wenig gelegen. Es ist mir gleichgültig, was die anderen tun oder davon denken. Indem ich also freimütig bin, sage ich Ihnen bestimmt, daß, wenn England beabsichtigt, sich eines Tages in Konstantinopel festzusetzen, ich es nicht erlauben werde. Ich schreibe Ihnen diese Absicht nicht zu, aber es ist besser, bei diesen Gelegenheiten deutlich zu sprechen. Meinerseits bin ich gleichfalls geneigt, die Verbindlichkeit zu übernehmen, mich nicht daselbst festzusetzen, als Eigentümer, wohlverstanden; denn als Depositar würde ich es nicht ablehnen. Es könnte geschehen, daß die Umstände mich in den Fall brächten, Konstantinopel zu besetzen, wenn nichts vorgesehen ist, wenn man alles nach dem Zufall gehen läßt."

England also wird es verboten, sich in Konstantinopel festzusetzen. Der Zar wird es tun, wenn nicht als Eigentümer, so doch wenigstens in der Eigenschaft eines zeitweiligen Depositars. Der britische Gesandte dankte Seiner Majestät für die Freimut seiner Erklärung. Nikolaus spielte dann auf seine früheren Unterredungen mit dem Herzog von Wellington an, die in dem Memorandum von 1844 wiedergegeben oder eigentlich resümiert sind. Zu der Tagesfrage - zu seinen Ansprüchen auf die Heiligen Stätten - übergehend, äußerte der britische Gesandte die folgenden Befürchtungen:

<147> "Zwei Folgen seien aus dem Erscheinen eines russischen Heeres voraus zu entnehmen: die eine - eine Gegendemonstration, die von seiten Frankreichs hervorgerufen werden könnte; die andere, noch ernstere, von seiten der christlichen Bevölkerung eine Erhebung gegen das bereits durch Empörungen und schwere Finanzkrisen so sehr geschwächte Ansehen des Sultans. Der Kaiser versicherte mich, es habe noch keine Bewegung seiner Streitkräfte stattgefunden (n'ont pas bougé), und drückte die Hoffnung aus, daß das Vorrücken nicht erforderlich sein dürfte. In bezug auf eine französische Expedition nach des Sultans Staaten gab Seine Majestät zu verstehen, ein solcher Schritt würde die Sachen zu einer unmittelbaren Krisis bringen; ein Gefühl der Ehre würde ihn antreiben, ohne Verweilen und Zögern seine Streitkräfte in die Türkei zu senden; und wenn das Resultat eines solchen Vorgehens der Sturz des Großtürken (le Grand Turc) wäre, so würde er das Ereignis bedauern, aber fühlen, daß er nicht anders gehandelt habe, als wie er gezwungen war zu handeln."

Der Zar hat jetzt England die Aufgabe gestellt, die es nun zu lösen hat, nämlich einen "weiteren Plan" zu entwerfen zur Abschaffung des Ottomanischen Reichs und "sich voraus zu verabreden über alles, was die Errichtung einer neuen Ordnung der Dinge betrifft, die bestimmt ist, die heute bestehende zu ersetzen". Er ermutigt seinen Zögling, indem er ihm den Preis vor Augen hält, der durch eine erfolgreiche Lösung dieses Problems zu gewinnen wäre, und entläßt ihn mit dem väterlichen Rat:

"Die Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts würde einen edlen Triumph erlangen, wenn die durch das Erlöschen der mohammedanischen Herrschaft in Europa gelassene Lücke ausgefüllt werden könnte ohne eine Unterbrechung des allgemeinen Friedens infolge der Vorsichtsmaßregeln, welche die bei den Geschicken der Türkei am meisten beteiligten zwei Hauptregierungen getroffen hätten."

Nachdem England in dieser Weise aufgerufen ist, erscheint Lord John Russell auf dem Plan und sendet seine Antwort in einer geheimen und vertraulichen Depesche vom 9. Februar 1853. Hätte Lord John den heimtückischen Plan des Zaren vollständig begriffen, England schon allein dadurch in eine hinterhältige Position zu drängen, daß es mit ihm in geheime Verhandlungen zum Zwecke der künftigen Aufteilung eines alliierten Staates eintritt, so hätte er ebenso gehandelt wie der Zar und sich auf eine mündliche Antwort an Baron Brunnow beschränkt, statt ein offizielles Staatsdokument nach St. Petersburg zu senden. Ehe die geheimen Dokumente dem Hause vorgelegt wurden, hatte die "Times" Lord Johns Depesche eine überaus kraftvolle und "empörte Zurückweisung" der Vorschläge des Zaren genannt. In ihrer gestrigen Nummer zieht sie ihre Lobsprüche auf Lord John zurück und erklärt, daß "das Dokument nicht das Lob verdiene, das ihm infolge ungenügender Information gespendet worden sei". Lord John hat sich den <148> Zorn der "Times" durch seine in der Freitagssitzung des Unterhauses abgegebene Erklärung zugezogen, daß er gewiß nicht die Gewohnheit habe, diesem Blatte Mitteilungen zu machen, und daß er den Artikel, der auf seine Antwort an Sir G. H. Seymour anspielt, sogar erst drei Tage nach dessen Erscheinen gelesen habe.

Wer den demütigen und unterwürfigen Ton kennt, den jeder englische Minister, nicht einmal Canning ausgenommen, seit 1814 Rußland gegenüber anschlug, der wird zugeben müssen, daß die Depesche Lord Johns als eine heroische Tat dieses kleinen Erdenwurms anzusehen ist.

Da dieses Dokument den Charakter eines wichtigen Beitrags zur Geschichte hat und geeignet ist, die Entwicklung der Verhandlungen zu illustrieren, so werden Ihre Leser nichts dagegen haben, es in extenso <vollständig> kennenzulernen.

"LORD JOHN RUSSELL AN SIR G. H. SEYMOUR.

(Geheim und vertraulich.)

Auswärtiges Amt, 9. Februar 1853.

Mein Herr! Ich habe Ihre geheime und vertrauliche Depesche vom 22. Januar der Königin vorgelegt. Ihre Majestät erkennt mit Vergnügen bei dieser wie bei früheren Gelegenheiten die Mäßigung, den Freimut und die freundliche Gesinnung Seiner Kaiserlichen Majestät an. Ihre Majestät hat mich angewiesen, in demselben Geist gemäßigter, aufrichtiger und freundschaftlicher Erörterung zu antworten. Die von Seiner Kaiserlichen Majestät angeregte Frage ist eine sehr ernste. Die Auflösung des Türkischen Reiches als wahrscheinlich oder sogar nahe bevorstehend annehmend, geht sie dahin: ob es nicht besser sei, im voraus für einen solchen Fall Vorkehrung zu treffen, als das Chaos, die Wirrnis und die Gewißheit eines europäischen Kriegs herankommen zu lassen, welches alles die Katastrophe begleiten müßte, wenn sie unerwartet und ehe ein künftiges System vorgezeichnet wäre, eintreten sollte. 'Dies ist der Punkt', sagte Seine Kaiserliche Majestät, 'auf welchen ich wünsche, daß Sie das Augenmerk Ihrer Regierung lenken.' Bei Betrachtung dieser gewichtigen Frage ist die erste Reflexion, die Ihrer Majestät Regierung beifällt, diese: daß keine wirkliche Krisis sich ereignet hat, welche eine Lösung dieses ungeheuren europäischen Problems notwendig macht. Streitigkeiten haben sich erhoben über die Heiligen Stätten; aber diese liegen außerhalb der Sphäre der inneren Verwaltung der Türkei und berühren mehr Rußland und Frankreich als die Hohe Pforte. Einige Störung der Verhältnisse zwischen Österreich und der Pforte ist verursacht worden durch den türkischen Angriff auf Montenegro; aber auch das betrifft mehr Gefahren, welche die Grenze Österreichs berühren, als die Autorität und Sicherheit des Sultans; so daß kein zureichender Grund vorliegt, dem Sultan zu bedeuten, daß er unvermögend sei, die Ruhe im Innern zu wahren oder freundliche Beziehungen zu seinen Nachbarn aufrechtzuhalten. Es fällt Ihrer Majestät Regierung <149> ferner die Bemerkung bei, daß die jenseits ins Auge gefaßte Eventualität in bezug auf den Zeitpunkt nicht bestimmt festgestellt ist. Als Wilhelm III. und Ludwig XIV. durch Vertrag über die Erbfolge Karls II. von Spanien verfügten, trafen sie Vorsorge für ein Ereignis, das nicht mehr weit entfernt sein konnte. Die Gebrechlichkeiten des Souveräns von Spanien und das gewisse Ende jedes menschlichen Lebens ließen den voraussichtlichen Fall als sicher und nahe erscheinen. Der Tod des spanischen Königs wurde durch den Teilungsvertrag keiner Wege beschleunigt. Das gleiche läßt sich sagen von der im vorigen Jahrhundert vorausgetroffenen Verfügung über Toskana bei dem Tod des letzten Fürsten aus dem Hause Medici. Aber die Eventualität der Auflösung des Ottomanischen Reichs ist anderer Art. Sie mag sich in zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren von jetzt an ereignen. Unter diesen Umständen würde es mit der freundlichen Gesinnung für den Sultan, die den Kaiser von Rußland nicht weniger als die Königin von Großbritannien beseelt, kaum verträglich sein, im voraus über die Provinzen seines Reichs zu verfügen. Außer dieser Erwägung jedoch muß bemerkt werden, daß eine in einem solchen Fall getroffene Übereinkunft sehr sicherlich dahin abzweckt, die Eventualität, gegen welche sie vorsehen soll, zu beschleunigen. Österreich und Frankreich könnten billigerweise nicht in Ungewißheit über die Transaktion erhalten werden, noch wäre eine solche Verheimlichung vereinbar mit dem Zweck, einen europäischen Krieg zu verhüten. In der Tat, eine solche Verheimlichung kann von Seiner Kaiserlichen Majestät nicht beabsichtigt sein. Man darf schließen, daß, sobald Großbritannien und Rußland sich über das einzuschlagende Verfahren geeinigt und ihm Kraft zu geben beschlossen hätten, sie ihre Absichten den übrigen Großmächten Europas mitteilen würden. Eine so getroffene und so mitgeteilte Übereinkunft würde nicht sehr lange ein Geheimnis bleiben; und während sie den Sultan beunruhigen und entfremden müßte, würde die Kenntnis von ihrer Existenz alle seine Feinde zu vermehrter Gewaltsamkeit und hartnäckigerem Kampfe anstacheln. Sie würden mit der Überzeugung fechten, daß sie am Ende triumphieren müssen, während des Sultans Generale und Truppen fühlen würden, daß kein augenblicklicher Erfolg ihre Sache vor dem schließlichen Untergang retten könnte. So würde eben jene Anarchie, die man jetzt fürchtet, hervorgebracht und verstärkt, und die Vorsicht der Freunde des Patienten würde sich als die Ursache seines Todes erweisen. Ihrer Majestät Regierung braucht sich kaum über die Gefahren zu verbreiten, welche die Ausführung jeder ähnlichen Übereinkunft begleiten würden. Das Beispiel des Erbfolgekriegs genügt, zu zeigen, wie wenig solche Übereinkünfte geachtet werden, wenn eine dringende Lockung zu ihrer Verletzung antreibt. Die Stellung des Kaisers von Rußland als Depositar, aber nicht als Eigentümer von Konstantinopel wäre zahllosen Gefahren ausgesetzt sowohl durch den langgehegten Ehrgeiz seiner eigenen Nation als durch die Eifersucht Europas. Der endliche Eigentümer, wer er auch sein möchte, würde sich mit der untätigen, trägen Haltung der Erben Mechmeds II. kaum begnügen. Ein großer Einfluß des Beherrschers von Konstantinopel, der die Tore des Mittelmeers und des Schwarzen Meers in seiner Gewalt hat, auf die Angelegenheiten Europas liegt, scheint es, in der Natur der Sache. Dieser Einfluß würde vielleicht zugunsten Rußlands gebraucht werden, vielleicht auch zur Kontrollierung und Hemmung seiner Macht. Seine Kaiser- <150> liche Majestät hat richtig und weise gesagt: 'Mein Reich ist so groß, in jeder Hinsicht in einer so glücklichen Lage, daß es unvernünftig von mir wäre, mehr Gebiet oder mehr Macht zu wünschen, als ich schon besitze. Im Gegenteil', bemerkte er weiter, 'unsere große, vielleicht unsere einzige Gefahr läge in einer noch weiteren Ausdehnung eines Reichs, das bereits zu groß ist. Ein kräftiger und ehrgeiziger Staat, der an die Stelle der Hohen Pforte träte, könnte jedoch den Krieg auf Seite Rußlands zu einer Notwendigkeit für den Kaiser oder seine Nachfolger machen.' Also würde der europäische Krieg gerade aus dem Mittel entspringen, womit man ihn zu verhüten gesucht hätte; denn weder England noch Frankreich und wahrscheinlich auch Österreich nicht würden damit zufrieden sein, Konstantinopel auf die Dauer in den Händen Rußlands zu sehen. Was Großbritannien betrifft, so erklärt Ihrer Majestät Regierung ein für allemal, daß sie auf jede Absicht oder jeden Wunsch, Konstantinopel zu besitzen, verzichtet. Seine Kaiserliche Majestät darf über diesen Punkt ganz sicher sein. Wir sind gleicherweise bereit, die Versicherung zu geben, daß wir auf keine Übereinkunft eingehen wollen, für die Eventualität des Falls der Türkei vorzusehen ohne vorherige Kommunikation darüber mit dem Kaiser von Rußland. Im ganzen also ist Ihrer Majestät Regierung überzeugt, daß keine weisere, uneigennützigere, für Europa wohltätigere Politik adoptiert werden kann als die, welche Seine Kaiserliche Majestät bisher befolgt hat und welche seinen Namen glänzender machen wird als den der berühmtesten Fürsten, die durch unveranlaßten Eroberungskrieg und ephemere Glorie die Unsterblichkeit gesucht haben. Zum Erfolg dieser Politik ist es wünschenswert, daß die äußerste Nachsicht gegen die Türkei geübt werde; daß irgendwelche Forderungen, welche die Großmächte Europas an sie zu stellen haben, mehr zum Gegenstand freundlicher Unterhandlung als peremtorischen Auftretens gemacht werden; daß militärische und Marine-Zwangsdemonstrationen gegen den Sultan soviel möglich vermieden werden; daß Differenzen in die Türkei berührenden und innerhalb der Kompetenz der Hohen Pforte liegenden Dingen nach gemeinsamer Vereinbarung unter den großen Mächten entschieden werden und nicht der Schwäche der türkischen Regierung dabei Gewalt geschehe. Diesen Vorsichtsmaßregeln wünscht Ihrer Majestät Regierung hinzuzufügen, daß es nach ihrer Ansieht wesentlich ist, dem Sultan anzuraten, daß er seine christlichen Untertanen im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtsgleichheit und Glaubensfreiheit behandle, die im allgemeinen unter den aufgeklärten Nationen Europas gelten. Je mehr die türkische Regierung die Regeln unparteiischen Gesetzes und gleichheitlicher Verwaltung annimmt, desto weniger wird es der Kaiser von Rußland nötig finden, jenen exzeptionellen Schutz anzuwenden, den Seine Kaiserliche Majestät so lästig und unbequem gefunden hat, wiewohl er ohne Zweifel durch die Pflicht vorgeschrieben und durch Vertrag sanktioniert ist.

Sie mögen diese Depesche dem Grafen Nesselrode vorlesen und, wenn es gewünscht wird, selbst eine Abschrift davon in die Hände des Kaisers übergeben. In diesem Falls werden Sie deren Überreichung mit Versicherungen der Freundschaft und des Vertrauens von seiten Ihrer Majestät unserer Königin begleiten, welche das Verfahren Seiner Kaiserlichen Majestät so gewiß einflößen mußte.

Ich bin etc.

J. Russell"

<151> Ich muß den Abschluß meiner Analyse auf den nächsten Brief verschieben. Bevor ich jedoch schließe, will ich in Ergänzung meiner früheren Mitteilungen über die Haltung und die Pläne Preußens die jüngsten Nachricht mitteilen, die ich hierüber aus einer dem Publikum sonst nicht zugänglichen Quelle erhielt.

Als der Konflikt zwischen Rußland auf der einen und der englisch-französischen Allianz auf der anderen Seite schon einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, sandte Kaiser Nikolaus einen eigenhändigen Brief an seinen Schwager <Friedrich Wilhelm IV.> in Berlin, worin er erklärte, daß er England und Frankreich zu Lande nicht fürchte, wenn sie ihm auch zu Wasser etwas Schaden zufügen könnten, da er Ende April 600.000 Soldaten marschbereit hätte. Von diesen wolle er 200.000 zur Disposition Friedrich Wilhelms stellen, wenn dieser sich verpflichte, auf Paris zu marschieren und Louis-Napoleon zu entthronen. Der schwachsinnige König war so geblendet von diesem Vorschlag, daß Manteuffel drei Tage brauchte, um ihn von der Annahme dieses Anerbietens abzubringen. Soviel über den König.

Was Herrn von Manteuffel selbst anbelangt, auf dessen "großen Charakter" die preußische Bourgeoisie so stolz ist, so sehen wir den ganzen Mann vor uns wie auf dem Präsentierbrett, wenn wir seine Geheiminstruktionen betrachten, die er an Herrn Bunsen, seinen Gesandten in London, zu derselben Zeit schickte, als der obenerwähnte russische Brief einging, und die in meinen Besitz gelangten, wenn auch auf ganz andere Art, als Bunsen sich in den Besitz meiner Privatbriefe setzte. Der Inhalt dieser Instruktionen, die in der unverfrorenen Zweideutigkeit ihres Stils den Schulmeister und den Unteroffizier zugleich verraten, ist ungefähr folgender:

"Passen Sie genau auf, woher der Wind weht. Wenn Sie bemerken, daß England sich ernstlich in Allianz mit Frankreich befindet und entschlossen ist, zum Krieg zu dringen, dann bestehen Sie auf der 'Integrität und Unabhängigkeit' der Türkei. Wenn Sie jedoch bemerken, daß es in seiner Politik schwankend ist und dem Krieg abgeneigt, dann heraus mit Ihrer Lanze, und brechen Sie sie wohlgemut für die Ehre und Würde Ihres Königs, meines und Ihres Herrn!"

Hat denn der Autokrat nicht recht, wenn er Preußen wie eine Null behandelt?

Karl Marx