Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 31-36
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

[Die Kriegshandlungen im Orient -
Die österreichischen und französischen Finanzen -
Die Befestigung Konstantinopels]

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3997 vom 8. Februar 1854]

<31> London, Freitag, 20. Januar 1854.

Die letzte Post hat uns einige ergänzende Nachrichten über die jüngsten militärischen Ereignisse in Asien gebracht. Anscheinend sind die Türken gezwungen worden, den russischen Teil Armeniens gänzlich zu räumen, doch ist der genaue Ausgang der Gefechte, die ihren Rückzug veranlaßt haben, nicht bekannt. Die Türken waren auf direktem Wege von Ardagan nach Achalzych vorgedrungen, während eine andere Abteilung den südlicheren Weg von Kars über Alexandropol (auf georgisch Gumry) nach Tiflis eingeschlagen hatte. Beide Gruppen scheinen auf die Russen gestoßen zu sein. Nach russischen Berichten wurden die Türken auf beiden Vormarschwegen geschlagen und verloren ungefähr 40 Kanonen. Offizielle türkische Berichte besitzen wir nicht; doch in Privatkorrespondenzen wird der Rückzug mit der Notwendigkeit begründet, Winterquartiere zu beziehen.

Fest steht jedenfalls nur, daß die Türken das russische Territorium bis auf das Fort St. Nikolaja geräumt haben, daß die Russen sie verfolgten und daß sich ihre Vorhut sogar bis auf eine Meile vor Kars wagte, wo sie zurückgeschlagen wurde. Wir wissen außerdem, daß die türkische Armee Anatoliens, die sich aus den asiatischen Provinzen, dem Bollwerk der altmuselmanischen Barbarei, rekrutiert und in ihren Reihen eine große Anzahl irregulärer Truppen hat, unzuverlässige, wenngleich im allgemeinen tapfere Gelegenheitssoldaten, Abenteurer und Freibeuter -, daß diese Armee Anatoliens nicht mit der festen, disziplinierten und ausgebildeten Armee Rumeliens zu vergleichen ist, deren Befehlshaber weiß, wie viele und welche Leute er Tag für Tag unter seinem Kommando hat, und wo dem Drang nach Abenteuern auf eigene Faust und eigenmächtigem Plündern durch Kriegsartikel und <32> Kriegsgerichte Einhalt geboten wird. Wir wissen, daß die Russen, denen es zu Beginn des asiatischen Feldzuges sehr an Truppen mangelte, durch 16.000 Mann unter Generalleutnant Obrutschew II und eine Abteilung Donkosaken verstärkt wurden; wir wissen, daß es ihnen gelang, die Bergbewohner in Schranken zu halten und ihre Kommunikationen sowohl über den Kaukasus durch Wladikawkas als auch auf dem Seewege nach Odessa und Sewastopol aufrechtzuerhalten.

Wenn wir diese Umstände bedenken und berücksichtigen, daß der türkische Befehlshaber Abdi Pascha entweder ein Verräter oder ein Dummkopf war (er ist inzwischen abberufen und bei Kars in Arrest gebracht worden; seiner Stelle wurde Achmed Pascha ernannt) brauchen wir uns überhaupt nicht zu wundern, wenn die Türken geschlagen worden sind, obgleich kein Zweifel daran bestehen kann, daß die russischen Tagesberichte gewöhnlich übertreiben. Wir lesen in der "Augsburger Zeitung", daß

"Schamyl gegen Ende November einen verzweifelten Versuch unternahm, sich einen Weg nach dem Süden zu erzwingen, um eine direkte Verbindung mit den Türken herzustellen. Die Stärke seiner Truppen wurde auf 10.000 bis 16.000 Mann geschätzt, und es wird bestätigt, daß die Muriden, die Blüte seiner Truppen, in Stücke gehauen wurden."

Das bedarf jedoch noch der Bestätigung.

Nun ist die Wahrheit über die Affäre von Sinope endlich heraus! Einer der besten Dreidecker der russischen Flotte, die "Rostislaw"" ein Schiff mit 120 Kanonen, wurde dort von den Türken versenkt. Dieser Verlust, der bislang unter dem passenden Vorwand verschwiegen wurde, die "Rostislaw" sei nicht während des Kampfes, sondern unmittelbar danach gesunken, wird jetzt von den Russen zugegeben und bildet einen guten Ausgleich für die Verluste der türkischen Flotte. Wenn tatsächlich ein Dreidecker versenkt wurde, so dürfen wir annehmen, daß auch die anderen russischen Schiffe wirklich sehr ernsthafte Beschädigungen während des Kampfes erlitten haben, so daß im Grunde genommen der Sieg bei Sinope die russische Flotte mehr geschwächt haben dürfte als die türkische. Insgesamt scheinen die Türken auch auf dem Wasser wie Türken zu kämpfen. Die ägyptische Dampffregatte "Pervas-Bahri", die von der weit größeren russischen Dampffregatte "Wladimir" außer Gefecht gesetzt und nach nahezu fünfstündigem Kampf genommen wurde, war von Einschlagen derart durchlöchert, daß sie nur mit Mühe nach Sewastopol gebracht werden konnte, wo sie sofort sank. Soweit ist also die Beute der Russen gleich Null, und tatsächlich zeugt es von dem hartnäckigen Widerstand der Türken wie auch von dem kümmer- <33> lichen Zustand der russischen Flotte nach dem Kampf, wenn es den Russen nicht gelang, auch nur eine einzige Trophäe zu erbeuten. Einem Bericht zufolge bringen die vereinigten französischen und englischen Flotten zusammen mit der ersten Division der türkischen Flotte 17.000 Türken nach Batum. Wenn das stimmt, so ist dies geradesogut eine Kriegshandlung, als ob sie einen direkten Angriff auf Sewastopol unternähmen, und der Zar kann nicht umhin, sofort den Krieg zu erklären. Unmittelbar vor dem Einlaufen der vereinigten Flotten in das Schwarze Meer soll der Zar den Befehl gegeben haben, alle seine Kriegsschiffe aus den Gewässern des Schwarzen Meeres nach Sewastopol abzuziehen. Ein Brief aus Odessa vom 24. Dezember berichtet, daß

"der Kommandeur der russischen Flottille im Asowschen Meer einen seiner Adjutanten nach Sewastopol mit der Meldung geschickt hatte, wie kritisch seine Lage wäre. Zwei Korps von je 12.000 Mann sollten gerade nach Sewastopol eingeschifft werden, als plötzlich diese Kriegsoperation durch die Nachricht von dem bevorstehenden Einlaufen der vereinigten Flotten in das Schwarze Meer unwirksam gemacht wurde."

Aus den letzten telegraphischen Nachrichten geht hervor, daß die Russen beabsichtigten, am 13. d.M., dem russischen Neujahrstag, eine Generalattacke auf die türkischen Linien bei Kalafat zu unternehmen. Sie waren bereits mit ungefähr 10.000 Mann vorgestoßen, die sich bei Cetate, einem neun englische Meilen nördlich von Kalafat gelegenen Dorf, verschanzten, wurden jedoch an der Konzentrierung all ihrer verfügbaren Kräfte durch den türkischen General gehindert, der ihnen zuvorkam, die Verschanzungen des Gegners mit 15.000 bis 18.000 Mann stürmte, in einer Reihe höchst mörderischer Zusammenstöße am 6., 7., 8., 9. und 10. d.M. siegreich blieb und schließlich die Russen zwang, sich in Richtung Krajowa zurückzuziehen. Die Russen selbst geben einen Verlust von 1.000 Toten und 4.000 Verwundeten zu. Wie telegraphisch mitgeteilt wird, wurde General Anrep, "der die Russen befehligte, ebenso wie General Tuinant schwer verwundet". Am 10., so wird berichtet, haben sich die Türken unter der Führung Selim Paschas (des Polen Zedlinsky) wieder nach Kalafat zurückgezogen. Soweit die telegraphischen Nachrichten, bis jetzt die einzige Informationsquelle über diese höchst bedeutsamen Ereignisse. Der Bericht, der mit dem Rückzug der Russen auf Krajowa einerseits und der Türken nach Kalafat andrerseits schließt, erweckt den Verdacht, daß von beiden Seiten wieder große strategische Fehler begangen worden sind. Es ist eine Nachricht in Umlauf, wonach auf Omer Paschas Geheiß ein ganzes Korps die Donau zwischen der Aluta und dem Schyl passierte und so die Kommunikationen des russischen Korps in Krajowa bedrohte. Aber wie konnten die Türken die Donau, die voller schwimmender Eismassen ist, an einem anderen Punkt als bei Kalafat <34> überqueren, dem einzigen Punkt, wo sie für einen derartigen Fall Vorbereitungen getroffen hatten?

Die von den Russen bei Kalafat erlittenen Niederlagen wiegen in politischer Hinsicht vielleicht noch schwerer als in militärischer. Sie schlossen in Verbindung mit dem Einlaufen der vereinigten Flotten ins Schwarze Meer auch den letzten Rest von Wahrscheinlichkeit aus, daß der Zar der demütigen Bitte um Frieden nachgeben werde, die ein Kurier der Wiener Konferenz nach St. Petersburg überbracht hatte. Andrerseits müssen diese Niederlagen im benachbarten Serbien unmittelbar die nationale Partei stärken und die russische Partei, die in letzter Zeit mit erstaunlicher Unverfrorenheit ihr Haupt in Belgrad erhoben hat, einschüchtern. Fürst Alexander und die Masse des serbischen Volkes allerdings konnten nicht dazu bewogen werden, die Bande zwischen ihrem Land und dem Sultan zu zerreißen, obwohl zur gleichen Zeit Serbien von einer Unmenge russischer Agenten überschwemmt wird, die ihre Intrigen in verschiedenen Richtungen betreiben; sie erkunden Orte und forschen nach Personen, von denen früher bekannt gewesen, daß sie der verbannten Dynastie der Obrenovic ergeben waren, sprechen mit den einen über den jungen Fürsten Michael - mit den anderen über seinen alten Vater Milos, nähren bald die Hoffnung in ihnen auf Ausdehnung der Grenzen Serbiens unter dem Schutz Rußlands, auf die Bildung eines neuen Königreichs Illyrien, das alle serbisch sprechenden Menschen vereinigen würde, die sich gegenwärtig unter der Herrschaft der Türkei und Österreichs befinden - bald drohen sie ihnen mit unzähligen Armeen und völliger Unterjochung, falls sie sich widersetzten. Sie wissen, daß der in Wien residierende Fürst Milos ein alter Protege Metternichs ist, während Michael, sein Sohn, eine bloße Kreatur Rußlands ist, durch dessen Flucht aus Serbien im Jahre 1842 das Fürstentum vakant wurde. Die russische Niederlage bei Kalafat wird außerdem Österreich von der Furcht befreien, daß eine russische Armee vor Belgrad erscheint und unter den Untertanen Österreichs, die ihr in Abstammung und Glauben gleich, das Bewußtsein der eigenen Kraft erweckt und der Erniedrigung, die sie unter der Herrschaft der Deutschen erleiden.

Über Österreich kann ich en passant <übrigens> berichten, daß es endlich die lang gehegte Hoffnung aufgegeben hat, eine neue Anleihe aufzunehmen. Auf die Lage seines Schatzamtes kann man aus dem Ausweg schließen, zu dem seine Regierung kürzlich gegriffen hat, nämlich eine Abwertung ihres eigenen Papiergeldes um 15 Prozent anzuordnen - ein Finanzmanöver, nur mit den <35> gaunerhaften Einfällen der französischen rois faux monoyeurs <Falschmünzer-Könige> vergleichbar, die den Kurs der Münze heraufsetzten, wenn sie zahlen mußten, und herabsetzten, wenn sie Geld zu empfangen hatten. Den deutschen Zeitungen zufolge wird das österreichische Budget für 1854 ein Defizit von 45.000.000 Gulden im ordentlichen Haushalt und von 50.000.000 Gulden im außerordentlichen Haushalt aufweisen. Jedesmal, wenn in Wien Nachrichten eintreffen, die nach Krieg riechen, strömen die Menschen zu den Bankhäusern, um Papiergeld gegen Silbermünzen einzutauschen.

Auch Frankreich unternimmt bekanntlich seit langem Schritte für eine Anleihe von 200.000.000 Francs (8.000.000 Pfund Sterling), doch die Lebensmittelteuerung, der ungenügende Ertrag der Weinernte und Seidengewinnung, die allgemeine Stagnation in Handel und Industrie, die großen Befürchtungen, die wegen der Ende Februar zu leistenden Zahlungen gehegt werden, die fallende Tendenz der Staatspapiere und Eisenbahnaktien - all das ist keinesfalls geeignet gewesen, ein solches Unternehmen zu erleichtern. Bonaparte konnte an der Börse für die neue Anleihe keine Abnehmer finden. Es blieb nur das Mittel, zu dem man am Vorabend des coup d'état gegriffen hatte - Persigny zur Bank von Frankreich zu schicken, um von ihr 50.000.000 Francs (10.000.000 Dollar) zu erpressen und dafür dieselbe Summe Schatzbons als "Sicherheiten" zu hinterlegen. Das wurde tatsächlich am Neujahrstag durchgeführt. Die Antwort auf diesen finanziellen coup d'état war der Sturz der Staatspapiere auf 69 p.c. Wie jetzt offiziell berichtet, wird die Regierung von der Bank von Frankreich eine Anleihe von 200 oder 300 Millionen Francs gegen Schatzbons erhalten. Wer nicht über das am Neujahrstag im Empfangszimmer der Bank von Frankreich Geschehene unterrichtet ist, wird nicht verstehen können, was die Bank veranlaßt hat, eine Anleihe zu gewähren, die von der Börse abgelehnt wurde.

Die Nachrichten über Persien sind nach wie vor widersprechend. Einem Bericht zufolge marschiert die persische Armee auf Erzerum und Bagdad; ein anderer meldet, daß das russische Ränkespiel vereitelt wurde durch den britischen Geschäftsträger, Herrn Thompson, der mit seiner Abreise aus Teheran drohte, sowie durch die Gefahr eines schlagartig ausbrechenden Unwillens des persischen Volkes gegen Rußland und durch das Eintreffen einer afghanischen Gesandtschaft, die mit einem Einfall der Afghanen in persisches Gebiet drohte, falls Persien ein Bündnis mit Rußland einginge.

Wie eine in der "Patrie" veröffentlichte Privatkorrespondenz aus Konstantinopel meldet, hat der Diwan beschlossen, Konstantinopel nach der <36> Landseite zu befestigen. Eine gemischte Kommission aus europäischen und ottomanischen Offizieren soll bereits mit der vorbereitenden Besichtigung der Örtlichkeiten begonnen haben. Die Befestigung Konstantinopels würde den Charakter russisch-türkischer Kriegführung vollständig verändern und wäre der schwerste Schlag, der je den ewigen Träumen des angeblichen Erben der byzantinischen Kaiser versetzt wurde.

Dem Gerücht, daß Österreich ein corps d'armée <Armeekorps> im Banat konzentriert, das dem Kommando des Generals Graf Schlick unterstellt werden soll, wird von der deutschen Presse widersprochen.

Die Berliner "Correspondenz" berichtet, daß den Behörden die allgemeine Anweisung erteilt wurde, sich für den Fall einer Mobilisierung der Landwehr bereit zu halten.

St. Petersburg hat dem Kopenhagener Kabinett den Vorschlag unterbreitet, die Insel Bornholm an Rußland abzutreten.

"Bornholm könnte", wie die "Daily News" mit Recht bemerkt, "ein Malta oder Gibraltar der Ostsee sein. Es liegt eine Tagereise zu Schiff entfernt vom Sund und Kopenhagen und ist von Natur aus direkt am Eingang der Ostsee gelegen."

In einem Schreiben Lord Redcliffes an den Gouverneur von Sewastopol, worin er diesem das Erscheinen der vereinigten Flotten im Schwarzen Meer zur Kenntnis gibt, wird "der Schutz des ottomanischen Territoriums vor jedem Angriff oder jeder feindlichen Handlung" zum einzigen Ziel dieses Manövers erklärt, des Schutzes der ottomanischen Flagge aber keinerlei Erwähnung getan.

Da alle Berichte, die aus Paris, Wien, Berlin, Konstantinopel und St. Petersburg eingetroffen sind, auf die Wahrscheinlichkeit eines Krieges hinweisen, sind die Preise an allen Börsen beiderseits des Kanals allgemein gefallen.

Karl Marx