Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 9-19
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

[Die Westmächte und die Türkei]

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3988 vom 28. Januar 1854]

<9> London, Dienstag, 10. Januar 1854.

Die Beschuldigung gegen Szemere, er habe den Ort verraten, an dem die ungarische Krone verborgen war, wurde zuerst von dem Wiener "Soldatenfreund", dem anerkannten Organ der österreichischen Polizei, erhoben, und dies allein müßte genügen, um die Falschheit der Anklage zu beweisen. Es ist bei der Polizei nicht üblich, die eigenen Komplizen freiwillig anzuzeigen; vielmehr gehört es zu ihren gewohnten Winkelzügen, den Verdacht auf die Unschuldigen zu lenken, um die wirklich Schuldigen zu decken. Ein Mann von dem Ansehen und dem Einfluß Szemeres wäre wohl der letzte, den die österreichische Polizei aus freien Stücken geopfert hätte, wenn es ihr gelungen wäre, sich seine Mitarbeit zu sichern. Falls - was keineswegs unwahrscheinlich ist - das Geheimnis nicht durch die Indiskretion eines der Parteigänger Kossuths verraten wurde, so kann ich nur den Grafen K. Batthyány, der jetzt in Paris lebt, des Verrats verdächtigen. Er war einer der sehr wenigen, die um das Versteck wußten, in dem die königlichen Insignien verborgen waren, und er ist der einzige unter ihnen, der den Wiener Hof um Amnestie ersucht hat. Letzteres, so vermute ich mit gutem Grund, wird er nicht leugnen.

Lord Hardinge, der britische Oberbefehlshaber, ist bewogen worden, sein Abschiedsgesuch zurückzuziehen. Über den Herzog von Norfolk hat sich, wie uns der Korrespondent der "Dublin Evening Mail" unterrichtet,

"einiger Hofklatsch verbreitet. Ein gewisser edler Herzog, der am Hofe ein Amt und die höchste erbliche Feudalwürde im Staate innehat, machte, wie es heißt, etwas zu freien Gebrauch von dem Champagner an der königlichen Tafel. wonach er im Speisesaal sein höchst edles Gleichgewicht verlor und Ihre Majestät selbst in die Katastrophe verwickelte. Dieses störende contretemps <Ärgernis> führte zum Rücktritt des edlen Herzogs und zur Ernennung von Earl Spencer zum königlichen Oberhofmeister."

<10> Herr Sadleir, der Makler der Irischen Brigade, hat erneut um Rücktritt von seinem Ministerposten ersucht, der diesmal von Lord Aberdeen angenommen wurde. Seine Position war unhaltbar geworden nach den öffentlichen Enthüllungen vor einem irischen Gerichtshof über die skandalösen Mittel, mit denen er es fertiggebracht hatte, ins Parlament zu gelangen. Der Einfluß des Kabinetts aller Talente über die Irische Brigade wird durch diesen peinlichen Vorfall nicht gerade verstärkt.

Die Brotunruhen am Freitag und Sonnabend in Crediton, Devonshire, waren gleichsam eine Antwort des Volkes auf die enthusiastischen Schilderungen des Wohlstands, mit denen die ministeriellen und Freihandelsblätter ihre Leser zum Ausgang des Jahres 1853 unterhalten zu können geglaubt hatten.

Die "Patrie" berichtet aus Trapezunt, das Volk sei, als der russische Geschäftsträger in Teheran die Entlassung von zwei der populärsten Minister des Schahs von Persien verlangt habe, in Erregung geraten, und der Befehlshaber der Garde habe erklärt, er könne nicht für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe einstehen, falls man dieser Forderung nachgäbe. Diesem Bericht zufolge veranlaßte die Furcht vor einem Ausbruch des Volkszorns gegen Rußland den Schah, seine Beziehungen zum Geschäftsträger Englands wiederaufzunehmen.

Zu der Unmenge veröffentlichter diplomatischer Schriftstücke kommen jetzt noch eine Note der vier Mächte vom 12. Dezember hinzu, die von den jeweiligen Gesandten in Konstantinopel gemeinsam an die Pforte gerichtet ist, sowie ein neues Zirkular von Drouyn de Lhuys an die französischen diplomatischen Vertreter vom 30. Dezember aus Paris. Bei sorgsamer Durchsicht der Note der vier Mächte verstehen wir, weshalb in Konstantinopel eine solch außergewöhnliche Erregung herrschte, als die Annahme der Note durch die Pforte bekannt wurde, weshalb die Aufstandsbewegung vom 21. entstand und weshalb das türkische Ministerium feierlich verkünden mußte, daß die Kriegsoperationen durch die erneuten Friedensverhandlungen weder unterbrochen noch beeinträchtigt würden. Genau neun Tage nachdem die Nachricht von dem verräterischen und feigen Gemetzel in Sinope Konstantinopel erreicht und im ganzen Ottomanischen Reich einen einzigen furchtbaren Racheschrei ausgelöst hatte, fordern die vier Mächte die Pforte kaltblütig auf - und die Gesandten Großbritanniens und Frankreichs zwingen sie sogar -, Verhandlungen mit dem Zaren auf der Grundlage aufzunehmen, daß alle alten Verträge erneuert werden sollen; daß die Fermane über die geistlichen Privilegien, die der Sultan seinen christlichen Untertanen gewährt hatte, von neuen Zusicherungen begleitet sein sollen, die jeder <11> dieser Mächte, folglich auch dem Zaren, gegeben werden; daß die Pforte einen Bevollmächtigten ernennen soll, um einen Waffenstillstand abzuschließen; daß sie Rußland erlauben soll, eine Kirche und ein Hospital in Jerusalem zu errichten, und daß sie sich gegenüber den Mächten, folglich auch dem Zaren, verpflichten soll, ihr inneres Verwaltungssystem zu verbessern. Die Pforte soll nicht nur keine Entschädigung für die schweren Verluste erhalten, die sie durch die Piratenstreiche des Moskowiters erlitten hat; all die Ketten, an denen Rußland die Türkei ein Vierteljahrhundert lang hat tanzen lassen, sollen nicht nur neu geschmiedet, sondern der Gefangene soll auch noch strenger als bisher gehalten werden; die Pforte soll sich in die Gewalt des Autokraten begeben, indem sie ihm demütig die Fermane über die geistlichen Privilegien ihrer christlichen Untertanen garantiert und sich ihm gegenüber hinsichtlich ihres inneren Verwaltungssystems verpflichtet. Damit würde sie dem Zaren gleichzeitig das religiöse Protektorat wie auch die Kontrolle über ihre Zivilverwaltung ausliefern. Als Entschädigung für eine derartige Kapitulation wird der Pforte die "so schleunig als möglich stattfindende Räumung der Donaufürstentümer", deren Besetzung Lord Clanricarde als "Piratenstück" bezeichnete, versprochen und zugesichert, daß die Präambel des Vertrags vom 13. Juli 1841, die sich als ein so zuverlässiger Schutz gegen Rußland erwiesen hat, förmlich bekräftigt werden soll.

Obgleich die abgrundtiefe Niedertracht dieser jämmerlichen "Mächte" ihren Höhepunkt erreichte, als sie die Pforte einige Tage nach Sinope zwangen, Verhandlungen auf solcher Grundlage zu führen, werden sie auf diese hinterhältige Art nicht aus ihrer heiklen Situation herauskommen. Der Zar ist schon zu weit gegangen, um auch nur den Anschein zuzulassen, daß das von ihm beanspruchte alleinige Protektorat über die christlichen Untertanen der Türkei durch ein europäisches ersetzt wird, und wir sind bereits durch den Wiener Korrespondenten der "Times" unterrichtet, daß

"Österreich angefragt hat, ob der russische Hof Einwände gegen ein europäisches Protektorat über die Christen in der Türkei erheben würde. Die in entschiedenstem Ton gehaltene Antwort besagte, daß Rußland keiner anderen Macht gestatten werde, sich in Fragen der griechisch-orthodoxen Kirche einzumischen. Rußland habe Verträge mit der Pforte und werde diese Frage mit ihr allein regeln."

Auch im "Standard" lesen wir, daß

"Nikolaus nicht gewillt ist, einen Vorschlag anzunehmen, der nicht direkt vom türkischen Herrscher kommt; damit lehnt er jegliches Recht der europäischen Mächte auf Vermittlung oder Einmischung ab und fügt jenen Mächten eine Beleidigung zu, die niemand als unverdient betrachten kann."

<12> Die einzige wichtige Stelle im Zirkular des Herrn Drouyn de Lhuys ist die Bekanntgabe, daß die vereinigten Flotten ins Schwarze Meer auslaufen und beabsichtigen,

"ihre Bewegungen in einer Weise zu kombinieren, welche verhindern soll, daß das Territorium oder die Flagge der Türkei neuerdings den Angriffen der russischen Streitkräfte zur See ausgesetzt sei".

Non bis in idem. <Man richtet nicht zweimal über dasselbe Vergehen.> La moutarde après la viande. <Da kommt der Mostrich nach dem Essen.> Der gestrige "Morning Chronicle" veröffentlichte eine Depesche seines Korrespondenten in Konstantinopel vom 30. Dezember, in der mitgeteilt wird, daß die vereinigten Flotten ins Schwarze Meer eingelaufen seien.

"Vermutlich laufen die Flotten ins Schwarze Meer nur ein", schreibt die "Daily News, "um das zu tun, was sie im Bosporus getan haben - nämlich nichts."

Der "Press" zufolge

"sind bereits Befehle an jeweils ein Schiff der englischen und der französischen Flotte ergangen, ins Schwarze Meer einzulaufen und sich unter der weißen Flagge nach Sewastopol zu begeben. Dort sollen sie dann dem russischen Admiral bekanntgeben, daß man sofort das Feuer gegen ihn eröffnen werde, falls er den Hafen von Sewastopol verlasse."

Obwohl die russische Flotte in dieser nicht gerade sehr günstigen Jahreszeit und nach ihrer ruhmreichen Heldentat von Sinope absolut keinen Grund hat, sich in das Schwarze Meer zu begeben, wird der Zar es England und Frankreich nicht erlauben, ihn, und sei es auch nur zeitweilig, aus den Gewässern zu drängen, von denen er sie seit 1833 stets fernzuhalten vermochte. Sein Prestige wäre dahin, würde er diese Nachricht nicht mit einer Kriegserklärung beantworten.

"Eine russische Kriegserklärung an Frankreich und England", heißt es in der "Neuen Preußischen Zeitung", "ist wahrscheinlicher als ein baldiger Frieden zwischen Rußland und der Türkei."

In Newry (Ulster) wurde ein großes Meeting über den durch nichts herausgeforderten Überfall Rußlands auf die Türkei abgehalten. Ich bin erfreut, durch Herrn Urquharts freundliche Übersendung des Berichts aus Newry Ihren Lesern die bemerkenswertesten Stellen aus der Rede dieses Herrn übermitteln zu können. Da ich schon verschiedentlich meine eigenen Ansichten zur orientalischen Frage dargelegt habe, brauche ich nicht mehr <13> jene Punkte hervorzuheben, in denen ich mich nicht mit Herrn Urquhart einverstanden erklären kann. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, daß die folgende Nachricht seine Ansichten bestätigt:

"Die Bauern der Kleinen Walachei haben sich mit Unterstützung des walachischen Militärs gegen die Russen erhoben. Das ganze Land in der Umgegend von Kalafat und entlang des linken Donauufers ist in Bewegung. Die russischen Beamten haben Turmal verlassen.

Nach einigen einleitenden Bemerkungen führte Urquhart aus:

"In den Fragen, die unsere ernstesten Belange gegenüber anderen Staaten und unsere Beziehungen zu ihnen berühren, gibt es weder eine gesetzliche Beschränkung noch eine systematische Lenkung, gibt es keine Verantwortlichkeit gegenüber der Nation, keine Strafen für die Unterlassung einer Pflicht oder für das Begehen eines Verbrechens; ihr seid jeder Möglichkeit konstitutioneller Einwirkung vollständig beraubt, weil ihr entweder in Unwissenheit gehalten oder falsch informiert werdet. Dieses System ist also dazu bestimmt, die Nation irrezuführen die Regierung zu korrumpieren und den Staat zu gefährden. Indessen seid ihr gegen eine Regierung, die äußerst raffiniert und mit Methode vorgeht, die äußerst feindselig auftritt und gewissenlos ist und die sich ihren Weg zu jener die Welt bedrohenden Vormachtstellung mit Hilfe gerade der Regierungen gebahnt hat, auf deren Sturz sie jetzt hinarbeitet - und hierin liegt die Besonderheit unserer Lage, wie dies ehedem auch in Athen gewesen -, daß nämlich Rußland die Hauptmittel seiner Größe im Herzen jenes Staates gefunden oder geschaffen hat, dessen öffentliche Organe sich seiner Politik am meisten widersetzten. Das ist ein wesentlicher Grund, weshalb England in derartigen Dingen ein Schandmal der Unwissenheit darstellt. Die Vereinigten Staaten haben einen Präsidenten, der die der Krone eigenen Hoheitsrechte ausübt, einen Senat, der die Exekutivgewalt kontrolliert und von vornherein über ihre Handlungen informiert ist." ("Hört, hört!" Beifall.) "In Frankreich hat es zur Untersuchung der Staatsgeschäfte wiederholt Parlamentskommissionen gegeben, die sich Dokumente vorlegen ließen und den Minister des Auswärtigen zur Befragung vor luden. Auch ist dort die Nation, wenigstens ihrer Information entsprechend, wachsam und ebenso die Regierung; denn an solchen Dingen hängt die Existenz von Ministerien und Dynastien. In Österreich gibt es wenigstens einen Monarchen, der vom Vorgehen seiner Untergebenen unterrichtet ist. In der Türkei und in Rußland seht ihr, wie in dem einen Land die Meinung des Volkes die Regierung drängt und in dem anderen die Regierung den Willen der Nation verkörpert. So bleibt allein England mit einer Krone ohne Autorität, einer Regierung ohne System, einem Parlament ohne Kontrolle und einer Nation in Unwissenheit." ("Hört, hört!") "Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nun wieder der gegenwärtigen Lage, den vor uns liegenden Tatsachen zuwenden, so muß ich zunächst darauf hinweisen - und das ist der springende Punkt -, daß Rußland nicht die Macht hat, seine Drohungen zu verwirklichen, und daß es lediglich mit der Möglichkeit gerechnet hat, euch in unbegründetem Schrecken zu halten, daß es absolut nicht die Absicht hatte, <14> gegen die Türkei Krieg zu führen, daß es garnicht die Mittel hierfür hat, daß es auf ein derartiges Unternehmen nicht einmal vorbereitet ist, daß es damit gerechnet hat, ihr würdet die Türkei in Schach halten, damit es ihre Provinzen besetzen kann, und daß es weiter hofft, ihr würdet diesen Staat zwingen, Rußlands anmaßenden Forderungen, die den Zerfall des Ottomanischen Reiches herbeiführen sollen, nachzugeben." ("Hört, hört!") "Mit Hilfe eures Gesandten in Konstantinopel und eures Geschwaders im Bosporus ist Rußland dabei, seine Ziele zu verwirklichen. Und hier muß ich auf eine Behauptung meines tapferen Freundes, des Obersten Chesney, hinweisen und gleichzeitig etwas ergänzen, was er ausgelassen hat. Er erklärte, daß die Türkei - wie die Dinge vor dem Überschreiten des Pruth standen - Rußland mehr als nur gewachsen war; aber er erwähnte nichts von der hohen Achtung, die er den militärischen Fähigkeiten der Türken zollt und auch schon zum Ausdruck gebracht hat. Er sagte, selbst im gegenwärtigen Zeitpunkt und trotz all der großen Vorteile, die Rußland durch euch erzielen konnte, frage er sich noch immer, ob die Türkei Rußland nicht doch gewachsen sei. In diesem Punkte hege ich nicht den geringsten Zweifel, zwei Bedingungen vorausgesetzt - erstens, daß euer Gesandter und euer Geschwader zurückgezogen werden, und zweitens, daß die Türkei aufhört, sich durch ihr Vertrauen auf Ausländer zu schwächen. Doch danach folgte eine weitere, allerdings nicht von Bedenken freie Behauptung, die jedoch auf Grund seiner hohen Autorität - und es gibt auf diesem Gebiet keine höhere Autorität - eine unangemessene Bedeutung erlangen oder zu einer nicht zu rechtfertigenden Auslegung führen kann. Er erklärte, der gegenwärtige Augenblick könnte günstig sein für Rußland, weil die Donau gefroren sei und es mit seinen Truppen über die Donau nach Bulgarien vorstoßen könnte. Aber welche Truppen kann es denn nach Bulgarien verlegen? Europa hat seit vielen Monaten übertriebenen Nachrichten gelauscht; man hat uns emsig über die riesigen Ansammlungen einsatzbereiter russischer Truppen informiert. Sie wurden allgemein auf 150.000 Mann geschätzt, und das Volk mochte wohl glauben, daß 150.000 Mann genügten, um die Türkei zu erobern. Ich erhielt vor einiger Zeit einen amtlichen Bericht, in dem die Gesamtzahl der Truppen, die den Pruth überquert hatten, auf 80.000 Mann herabgesetzt war, wovon bereits 20.000 bis 30.000 durch Krankheit umgekommen oder ins Lazarett gebracht worden waren. Ich schickte diesen Bericht an eine Zeitung; er wurde aber nicht veröffentlicht, da man ihn für nicht glaubwürdig hielt. Rußland hat jetzt selbst Angaben veröffentlicht, worin die Gesamtzahl auf 70.000 Mann reduziert ist." (Beifall.) "Läßt man nun das Verhältnis der Stärke beider Reiche, wenn alle ihre Kräfte mobilisiert sind, außer Betracht, so sollte klar sein, daß Rußland nicht die Absicht hatte, mit einer solchen Truppenstärke Krieg zu führen. Aber welche Streitmacht konnte nun eigentlich die Türkei dem entgegenstellen? Zu dem betreffenden Zeitpunkt befanden sich zwischen Balkan und Donau nicht weniger als 180.000 Mann, die jetzt auf 200.000 Mann in starken, befestigten Stellungen angewachsen sind, bei einem russischen Heer, das auf mindestens 50.000 Mann zusammengeschmolzen und zudem durch Niederlagen demoralisiert und durch Desertion zersetzt ist. Was die Fähigkeiten der türkischen Truppen und ihre Überlegenheit über die Russen anbelangt, so habt ihr das Zeugnis des Generals Bem gehört; ihr habt den lebenden Beweis des Obersten <15> Chesney, der durch die Ereignisse, die Europa in Erstaunen und Bewunderung versetzten, bestätigt wurde. Bedenkt, daß uns jetzt nicht das Verhältnis der Stärke der beiden Reiche interessiert, sondern das Vorhaben und die Handlungsweise des einen von ihnen - nämlich Rußlands. Ich hin der Ansicht, daß es nicht beabsichtigte, Krieg zu führen, denn einmal hatte es nicht die erforderlichen Kräfte zur Stelle und zum anderen konnte es sich auf das englische Kabinett verlassen. Rußland hatte nicht die Absicht, Krieg zu führen - es hat diese auch jetzt nicht. Ich sagte schon vor dem Krieg; in die Donaufürstentümer einfallen und diese besetzen werde es mit Hilfe Englands. Wie war es mir möglich, das vorauszusagen? Gewiß nicht, weil ich die russischen Pläne kannte, die Tausende genausogut oder besser als ich kennen, sondern weil ich Englands Charakter kannte. Aber wollen wir die Frage von neuem überdenken - sie ist zu wichtig, um übergangen zu werden. Oberst Chesney meinte, das ganze Problem wäre die Reserve, die Rußland hinter dem Pruth hatte. Von dieser Reserve hat er kürzlich eine ganze Menge gehört. Osten-Sacken zog mit seinen 50.000 Mann in voller Marschordnung auf die Donau zu, um die Katastrophe von Oltenitza wieder wettzumachen. Die 50.000 Mann schmolzen auf 18.000 zusammen, und das Beste daran ist, daß nicht einmal diese angekommen sind." (Gelächter und Beifallsrufe.) "Nimmt man Oberst Chesneys Zahl von 75.000, die durch Todesfälle und Erkrankungen auf 50.000 zurückgegangen ist, und schlägt man die überall verstreute Reserve von 18.000 Mann noch dazu, so haben wir im Grunde doch nur 70.000 Mann, die gegen 200.000 in starken Verschanzungen vorgehen sollen, überdies in bergigem Gelände und zu einer Jahreszeit, zu der sich die Russen bisher beständig zurückgezogen haben. Erlaubt mir, euch jetzt die Ereignisse des letzten Krieges von 1828/29 ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Türkei machte damals politische Erschütterungen durch. Die Muselmanen richteten das Schwert gegeneinander; die Provinzen waren in Aufruhr, Griechenland im Aufstand, die alte militärische Macht vernichtet, die neuen Rekruten, ohnehin nur 33.000 Mann an der Zahl, kaum ausgebildet. Die mit voller Wucht auf den Hafen von Navarino abgefeuerten britischen Breitseiten entrissen der Türkei die Herrschaft über das Schwarze Meer; und dann überfiel Rußland, von England und Frankreich unterstützt, die Türkei und drang bis in das Zentrum ihrer Provinzen vor, ehe sie überhaupt merkte, daß ihr Krieg erklärt worden war. Aber was glaubt ihr, wieviel Mann sie dann einzuberufen für richtig hielt? Zweihundertundasechzehntausend!" (Beifall.) "Und doch wurde sie nur durch Täuschung und den Einfluß des englischen Gesandten, der unglücklicherweise zurückgekehrt war, dazu gebracht, den Vertrag von Adrianopel zu unterzeichnen, der ihr durch den plötzlichen Überfall aufgezwungen wurde." ("Hört, hört!") "Werft einen Blick auf die jetzige Türkei, einig in Herz und Hirn, mit einem von Vaterlandsliebe und Abscheu vor Gewalttaten gleichermaßen beflügelten Heroismus, mit geeinter Staatsmacht, unermeßlichen Hilfsquellen; in der Lage, über 300.000 Freiwillige zu verfügen, voller Kriegsmut, wie man ihn auf der Erde nicht wiederfindet, und über 250.000 ausgebildete, in Asien siegreiche Soldaten; mit der Herrschaft über das Schwarze Meer, einem wohlgemerkt nicht verlorenen Sinope, wie ich gleich zeigen werde, und im Besitz von Dampfschiffen, um ihre Truppen ohne Menschen- und Zeitverluste von den entlegensten Provinzen des Reiches auf den Kriegsschauplatz zu <16> werfen; von den schneebedeckten Gipfeln des Kaukasus bis zu den unfruchtbaren Wüsten Arabiens, von den weiten Einöden Afrikas bis zum Persischen Golf überall herrscht ein Geist der Entrüstung, ist ein Geist der Tapferkeit erwacht." ("Hört!" Beifall.) "Aber wie im vorigen Krieg ein Navarino die Kosaken über den Balkan brachte, so können jetzt die Schiffsschrauben Britanniens, selbst ohne Krieg, die alten russischen Schiffe in die Dardanellen bringen. Doch ich spreche von russischen Absichten; das ist der springende Punkt. Dieser Sieg muß in der Downing Street errungen werden und nicht im Osten. Bleibt ihr indessen ungeschoren? Gibt es hier einen unter euch, der nicht im Grunde genommen leidet, einen, dessen Brotpreis nicht steigt, für den die Möglichkeit, zu arbeiten oder sein Kapital anzulegen, nicht eingeschränkt wird?" ("Hört, hört!") "Wessen Steuern werden nicht erhöht? Wird die Change alley etwa nicht erschüttert? Haben wir nicht gesehen, wie durch diese Bewegung der russischen Truppen eine Zerrüttung des Geldmarktes hervorgerufen worden ist, die zu zwei Dritteln der von 1847 gleicht - und doch hat Rußland niemals Krieg gewollt. Haben wir nicht gesehen, wie die Regierungen Europas erniedrigt wurden und wie man den Boden für Aufstände und Erschütterungen bereitete - und doch hat Rußland niemals Krieg gewollt. Haben wir nicht gesehen, wie sich das Ottomanische Reich durch ein riesiges Heer von einer halben Million Mann erschöpfte, weil Rußland 70.000 Mann verlegte, um sie auf Kosten der Türkei und auf Kosten der Arbeiter Großbritanniens zu verpflegen? Und das alles, weil ihr leichtgläubige Leute geglaubt habt, Rußland sei so stark, daß man ihm nicht Widerstand leisten, und die Türkei so schwach, daß man sie nicht unterstützen könne. Wir leben wirklich in einem Zeitalter der Träume und Fabeln; wir sind imstande, nicht nur das zu glauben, sondern auch, daß Rußland mächtiger als alle anderen Mächte der Welt ist, die gegen Rußland verbündet sind. Die 'Times' äußert sich geringschätzig über die muselmanische Armee wie auch über die Armeen Frankreichs und die Seestreitkräfte Englands und erklärt allen Ernstes, daß ganz Europa und die Türkei noch dazu ebensogut versuchen könnten, die Russen von Konstantinopel fernzuhalten, wie sie die Nordwinde davon abhalten könnten, über die Sarmatischen Ebenen zu wehen. Und was für Europa zutrifft, gilt in gleichem Maße für die Türkei; doch wenn ihr ausharrt, wird die Türkei fallen. Rußland hat 70.000 Mann verlegt, und folglich ist die Türkei voller Schrecken und Entrüstung, England ist von Furcht und Panik gepackt, und auch Rußland bebt - vor Lachen." (Gelächter und anhaltender Beifall.) "Ich sagte, ich käme auf die Affäre von Sinope zurück oder - wie man sie mit Recht genannt hat - auf das kleine Navarino. Ich erinnere an jenen beschämenden Vorfall nicht in Verbindung mit unserem Verhalten - denn wir haben dabei nichts Schmachvolleres begangen als in den übrigen Fällen -, sondern tue dies nur, um das Kräfteverhältnis der beiden Parteien zu beleuchten. So betrachtet, hat die Affäre Rußlands Macht um nichts vergrößert und die der Türkei um nichts vermindert, ganz im Gegenteil: Sie hat die berechtigte Furcht der Russen vor der Tapferkeit der Türken in ein höchst unmißverständliches Licht gerückt. Hier stehen wir vor einer Tatsache, die selbst in unseren Seekriegsannalen nicht ihresgleichen findet - Fregatten. die sich Bord an Bord an Linienschiffe legen, und Kapitäne, die die Fackel in das Pulvermagazin werfen und sich selbst als Brandopfer auf dem Altar des Vaterlandes <17> darbringen. Was kann man nicht alles gegen eine Regierung erreichen, die bei jedem Schritt, und besonders bei diesem, Gegenstand des Abscheus und Entsetzens für jeden Menschen ist. Bedenkt, daß die Seestreitmacht der Türkei unangetastet ist; nicht ein Linienschiff, nicht ein Dampfer ging verloren. Jetzt ist die Herrschaft der Türkei über das Schwarze Meer doppelt gesichert, falls die Diplomaten abberufen werden, und sie, sie allein haben die sogenannte Katastrophe von Sinope heraufbeschworen. Aber diese Katastrophe war mit einem anderen Ziel vorbereitet worden; sie war als Stock und Peitsche gedacht, um die zögernden Lasttiere in Paris und London anzutreiben und sie zu veranlassen, den kriegführenden Mächten die Bedingungen eines Abkommens aufzuzwingen. Ehe ich in diese Versammlung kam, hörte ich, wie ein Herr des Komitees erklärte, es sei für England und Frankreich völlig statthaft gewesen, sich einzumischen, falls sie dadurch hofften, den Frieden zu sichern. Ich weiß, daß diese Auffassung der allgemeine Eindruck im Lande ist, aber nichtsdestoweniger konnte ich ihm nur mit Entsetzen zuhören. Wer hat euch das Recht gegeben, durch die Welt zu ziehen und mit Waffen Frieden zu erzwingen? Einer Aggression Widerstand leisten und eine Aggression verüben, sind zwei verschiedene Dinge." ("Hört, hört!") "Selbst um die Türkei zu retten, könnt ihr euch nicht einmischen, ohne Rußland den Krieg zu erklären. Eure Einmischung jedoch wird Rußland von Vorteil sein, sie geschieht auf sein Geheiß und mit der Absicht, der Türkei Bedingungen aufzuerlegen, die sie zu Fall bringen müssen ... In euren Verhandlungen werdet ihr der Türkei vorschlagen, sich der früheren Verträge mit Rußland zugunsten eines europäischen Abkommens zu entledigen. Das ist tatsächlich schon vorgebracht worden und hat bei einer Nation Beifall gefunden, die jeglicher Verwirrung Beifall zollt. Du lieber Himmel! Ein europäisches Abkommen! Darauf soll sich die Türkei verlassen! Gewiß war auch euer Wiener Vertrag ein europäisches Abkommen, aber mit welchem Ergebnis? Jenes Abkommen war wegen der Schaffung Polens wichtig; und was geschah mit Polen? Was sagte euch euer Minister über jenen Vertrag, als Polen gefallen war? Nun, er sagte, 'daß der Vertrag England das Recht gegeben hat, eine Meinung über die Vorgänge in Polen zu äußern'. Und nachdem er dann behauptete, daß er schon vor dem Vorfall Einwände erhoben habe, sagte er: 'Aber Rußland war hierin anderer Ansicht.' Dasselbe wird auch mit eurem gegenwärtigen Abkommen geschehen; Rußland wird darüber anderer Ansicht sein." (Lauter Beifall.) "Diese Worte fielen im Unterhaus; sie wurden von demselben Minister" (Lord Palmerston) "ausgesprochen, in dessen Händen jetzt das Schicksal der Türkei liegt wie seinerzeit das Polens. Doch jetzt seid ihr gewarnt, damals wart ihr unwissend ... Ich möchte nun auf eine Meldung eingehen, die kürzlich in der 'Times' veröffentlicht wurde. Darin heißt es, zwischen unserem Gesandten in Persien und der Regierung des Schahs habe es Differenzen gegeben. Als der Schah schon nachgehen wollte, mischte sich der russische Gesandte ein und verschlimmerte noch den Streit. Da treibt also Rußland England aus Persien, während England im selben Moment Rußland der Türkei aufdrängt. In der gleichen Meldung wird erwähnt, daß in Teheran eine Gesandtschaft eingetroffen ist, daß die Afghanen außerordentlich erregt sind und daß Dost Muhammad Chan, dieser unversöhnliche Feind Rußlands, von Herzen auf einen Erfolg seiner Gesandtschaft hofft, die Persien dazu bewegen soll, die <18> Türkei zu unterstützen. Ihr werdet euch daran erinnern, daß England vor sechzehn Jahren gegen die Afghanen Krieg führte, um Dost Muhammad Chan zu entthronen, weil er ein Feind Englands und ein fester Verbündeter Rußlands sei. Vielleicht glaubte eure Regierung daran. Wenn ja, dann ist es sehr merkwürdig, weshalb sie nicht gegen Rußland, sondern gegen die Afghanen Krieg führte, was diese doch direkt in die Arme Rußlands treiben mußte. Aber eure Regierung dachte nicht daran, das zu glauben; sie wußte damals sehr genau, daß Dost Muhammad Chan, wie man jetzt sieht, ein unversöhnlicher Feind Rußlands war, und gerade aus diesem Grunde griff sie ihn ja an. Der Sachverhalt ist festgestellt worden, und im Unterhaus wurde bewiesen, daß die Dokumente, die Dost Muhammad Chan als Verbündeten Rußlands hinstellten, gefälscht waren. Der englische Gesandte selbst schickte das Original zur Veröffentlichung nach Hause." ("Pfui!") "Das ist nur das folgerichtige Ergebnis der Heimlichtuerei der Regierung und jener Unwissenheit der Nation, auf die ich bereits hinwies. In dieser Versammlung sehe ich keinen, der nicht durch stillschweigendes Dulden Mitschuldiger an diesem Verbrechen ist und der durch diese Gleichgültigkeit gegenüber den Handlungen und dem Ansehen seines Landes nicht auf den Stand eines Sklaven gesunken ist, obwohl er in dem Wahn lebt, ein freier Bürger zu sein." ("Hört, hört!") "Darf ich euch ein wenig darüber berichten, was Ausländer von euch denken? Ihr habt kürzlich viel von deutschen Einflüssen am Hofe gehört. Vielleicht möchtet ihr etwas über die Ansichten der deutschen Vettern der Königin hören? Nun, so erlaubt mir denn, euch zu erklären, wenn Deutschland russenfreundlich ist, darin hat England es dazu gemacht. Hört also diese Worte:

'Wenn England und Frankreich sich nicht einmischen, wird die Türkei siegen. Wenn dagegen die Westmächte in ihrer törichten Unterwürfigkeit sich des "Vermittelns" oder des Einmischens in die orientalischen Angelegenheiten nicht enthalten können, so ist die Türkei verloren, und die allgemeine Herrschaft der Moskauer Kosaken wird bald die Geschicke dieser Welt lenken! Und wie edel ist bislang die Stellung und Haltung der armen Türkei gewesen - trotz aller diplomatischen Unterschlagungen und obwohl sie eine Bande von Mördern für ihre Freunde hielt. Die Dinge sehen tatsächlich finster aus! Ich habe stündlich erwartet, daß die alliierten Flotten die Hauptstadt der Türkei beschießen, um ihren heroischen Geist zu brechen und sie zu entehrender Unterwerfung zu zwingen. Die Türken können wahrlich sagen: "Longa est injuria, longae ambages, sed summa sequor fastigia rerum!" <" Lang währt das Unrecht, lang die Ungewißheit, doch ich strebe nach den höchsten Gipfeln der Dinge!" (Vergil, "Aeneis", I, Vers 341-342.)> Welch einen Kontrast bildet ihr gegenwärtiges Verhalten zu dem Englands in ähnlichen Situationen! Sie "führen Krieg" - England betreibt Piraterie. Man erinnere sich nur der "Deklaration von Lima", des Einfalls in Afghanistan, der Beschießung Kopenhagens und der Schlacht bei Navarino, und dann bedenke man, in welcher Lage sich die Türkei augenblicklich befindet - gedemütigt und bedroht, sogar überfallen und provoziert von der "zivilisierten Welt"; sie bleibt inmitten all dieser Heimsuchungen ruhig und verständig, fest und entschlossen, dennoch gelassen.'

<19> Ihr könnt hieraus den Schluß ziehen, daß jene Personen in den höchsten Stellungen vergeblich schmachten mögen nach dem Privileg, das mir eure Nachsicht gewährt und das mir erlaubt, meiner Entrüstung Luft zu machen, und mir Gelegenheit gibt, vor kommenden Ereignissen zu warnen. Gestattet mir denn, euch die Lage zu schildern. in der ihr euch befindet. Britannien zeigt zwei Gesichter - zu Hause ist es ein Schwachsinniger und im Ausland ein Wahnsinniger, ein bewaffneter Wahnsinniger, der sein eigenes Leben und das anderer gefährdet. Ihr seid das nicht einzeln genommen, jedoch in der Gesamtheit. Rüttelt also euren individuellen Verstand wach und unterdrückt den gemeinsamen Wahnsinn, bis ihr das zerrüttete Hirn kurieren könnt - dieses System, das die Ursache des ganzen Übels ist." (Lauter und anhaltender Beifall.)

Ich möchte Herrn Urquharts Rede hinzufügen, daß Lord Palmerstons jüngster coup d'éclat <aufsehenerregender Streich> und die Gunst des Volkes ihn zum Premierminister, wenn nicht dem Namen, so doch der Sache nach, gemacht haben.

Karl Marx