Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 483-488
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Friedrich Engels

Der weitere Verlauf des türkischen Krieges

Geschrieben etwa 18. November 1853.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3944 vom 7. Dezember 1853, Leitartikel]

<483> Die mit dem Dampfer "Humboldt" eingetroffenen Nachrichten vom Kriegsschauplatz bestätigen den kürzlich durch die "Europa" erhaltenen Bericht, daß die Türken, nachdem sie immer wieder gegen eine große Übermacht und nach schweren Kämpfen ihre Stellung bei Oltenitza behauptet hatten, sich schließlich ungefähr am 14. vorigen Monats hinter den Fluß zurückzogen und ihre Stellung in ihren früheren Verschanzungen bei Turtukai bezogen haben. Wie wir annehmen, werden die von uns erwarteten Briefe und Zeitungen eine Erklärung dafür enthalten, aber im Augenblick können wir keineswegs den Grund für die Bewegung verstehen. In der Depesche wird gesagt, daß sie ohne Behinderung durchgeführt wurde, was die Annahme ausschließt, daß sie das Resultat einer von Fürst Gortschakow erreichten entschiedenen Überlegenheit war; es sei denn, wir müssen tatsächlich annehmen, daß es dem russischen Befehlshaber gelungen ist, für seinen zweiten Angriff auf Oltenitza eine doppelt so starke Streitmacht zusammenzubringen wie die, die er beim ersten Angriff auf diesen Ort aufstellen konnte. Aber in Wahrheit sieht es so aus, daß er kein derartiges Korps von 45.000 Mann für einen solchen Zweck zur Verfügung hatte, wie aus einer sorgfältigen Betrachtung aller Tatsachen, die uns bekannt sind, hervorgehen wird. Es wird auch berichtet, daß sich die Türken nach Turtukai zurückziehen, um sich nicht der Gefahr eines Überfalls bei Oltenitza im Winter auszusetzen, wenn der Rückzug über den Fluß schwierig sein wurde; aber diese Meldung steht im Widerspruch zu der Tatsache, daß sie sich, ohne bisher aufgehalten worden zu sein und mit einem unbestreitbaren Übergewicht an Kräften in der Offensive befinden. Außerdem konnte ihr linker Flügel bei Widdin, an der walachischen Seite der Donau, nicht nur gehalten, sondern sogar verstärkt werden. Eine Tatsache, die auf <484> alles andere als auf eine allgemeine rückläufige Bewegung seitens der Türken hindeutet. Und wenn wir annehmen, daß sie die Absicht haben, die Donau bei Braila oder Galatz zu überqueren - eine Annahme, die wahrscheinlich den Tatsachen entspricht -, so können wir nicht verstehen, warum Omer Pascha seine Truppen von der starken Stellung bei Oltenitza zurückziehen sollte, bloß weil er im Begriffe war, mit andern Truppen einen entscheidenden Vorstoß gegen die russische linke Flanke durchzuführen. Aber die Kompliziertheit der Situation wird besser verstanden werden, wenn man die Ereignisse seit Beginn des Feldzuges betrachtet.

Vor allen Dingen steht außer Zweifel, daß den Türken gestattet wurde, den Fluß sowohl bei Widdin als auch bei Turtukai zu überqueren, ohne ihnen ernsthaften Widerstand zu leisten. Darin lag nichts Überraschendes, da die militärischen Erfahrungen bestätigt haben, daß es unmöglich ist, eine aktive feindliche Armee am Überqueren eines Flusses zu hindern, wie breit er auch sein mag. Ebenso lehren die Erfahrungen, daß es immer höchst vorteilhaft ist, den Feind erst dann anzugreifen, wenn er schon einen Teil seiner Truppen hinübergebracht hat - um so mit überlegenen Kräften über diese herzufallen und zwar zu einem Zeitpunkt, da sie nur eine und dazu behinderte Rückzugslinie haben. Aber daß die Türken sich am linken Ufer der Donau festsetzen würden, daß sie aus jeder Schlacht siegreich hervorgehen, daß sie zehn Tage lang Oltenitza, nicht mehr als vierzig Meilen von Bukarest entfernt, in Besitz behalten, ohne daß die Russen in der Lage sein würden, sie von jener wichtigen Position zu vertreiben und daß sie sich schließlich unbehindert und aus freien Stücken von ihr zurückziehen würden - all dies zeigt, daß das Kräfteverhältnis der sich an jener Stelle gegenüberstehenden türkischen und russischen Truppen völlig falsch eingeschätzt worden ist.

Wir wissen ziemlich genau, welche Kräfte die Türken zur Verfügung hatten aber bezüglich der Kräfte der Russen waren wir immer gezwungen, im Dunkeln zu tappen. Es wurde erklärt, daß zwei Armeekorps den Pruth überquert hätten und daß ein Teil eines dritten ihnen bald darauf gefolgt sei. Wenn wir dies als korrekt annehmen, dann würden die Russen nicht weniger als 150.000 Mann in den Donaufürstentümern haben. Nachdem nun jedoch die Ereignisse gezeigt haben, daß keine solche russische Streitmacht in der Walachei steht, erhalten wir jetzt endlich auf dem Wege über Wien einen authentischen Bericht darüber, was sie wirklich dort haben. Ihre Kräfte setzen sich folgendermaßen zusammen:

1.

Das 4. Armeekorps unter General Dannenberg, bestehend aus den folgenden 3 Infanteriedivisionen:

<485> a) Die 10. Division (General Soimonow)

16.000 Mann

b) Die 11. Division (General Pawlow)

16.000 Mann

c) Die 12. Division (General Liprandi)

16.000 Mann

d) Ein Schützenbataillon

1.000 Mann

2.

Eine Brigade der 14. Division, dem 5. Armeekorps angehörend und unter dem Kommando von General Engelhardt

8.000 Mann

Infanterie insgesamt

57.000 Mann

3.

Zwei Divisionen leichte Kavallerie, unter dem Kommando von General Nirod und General Fischbach, zusammen

8.000 Mann

und 10 Kosakenregimenter von

6.000 Mann

ergeben zusammen

14.000 Mann

4.

Eine Division Artillerie mit ungefähr einer Batterie (12 Geschütze) auf jedes Infanterieregiment oder insgesamt mit

170 bis 180 Geschützen.

Es zeigt sich auch, daß das 5. Armeekorps, unter Führung von General Lüders, noch nicht einmal bei Odessa konzentriert ist, sondern ein Teil seiner Truppen bei Sewastopol und ein anderer Teil im Kaukasus steht; daß das 3. Armeekorps unter General Osten-Sacken sich noch in Wolhynien befindet oder höchstens gerade erst den Pruth überquert hat und nicht früher als in drei oder vier Wochen zum Kriegsschauplatz herangebracht werden kann und daß die russische Reservekavallerie - hauptsächlich schwere Kavallerie - hinter dem Dnepr steht und fünf oder sechs Wochen benötigen wird, um zu der Stelle zu gelangen, wo sie gebraucht wird. Ohne Zweifel ist diese Information einwandfrei, und wenn sie uns vor sechs Wochen vorgelegen hätte, so würden wir gesagt haben, daß Omer Pascha die Donau überqueren sollte, gleichviel wo oder wie, aber je eher, desto besser.

Es gibt in der Tat nichts, was vernunftgemäß die Tollkühnheit der Russen erklären kann. Mit etwa 80.000 Mann in eine Sackgasse wie die Walachei zu marschieren, sich dort einige Monate aufzuhalten, ungefähr 15.000 Mann, wie die Russen selbst zugeben, krank im Lazarett zu haben und sich auf den Glückszufall zu verlassen, ohne weitere Verstärkungen zu erhalten - das ist eine Sache, die es nie zuvor gegeben hat und die niemand Anlaß hatte, von einem Volk, wie den Russen, zu erwarten, die im allgemeinen so überaus vorsichtig sind und sich immer bemühen, sicher zu gehen. In der Tat, diese ganze verfügbare Armee in der Walachei würde nach Abzügen für Detachements nur auf etwa 46.000 Mann kommen, die außerdem an verschiedenen Punkten benötigt werden könnten!

<486> Aber das ist nun einmal eine Tatsache, und wir können sie nur mit einem absoluten Vertrauen seitens der Russen in die diplomatischen Intrigen ihrer Freunde in der britischen Regierung erklären, durch eine ungerechtfertigte Verachtung für ihre Gegner und mit den Schwierigkeiten, die es den Russen bereiten muß, große Truppenkörper und große Mengen Vorräte zu konzentrieren.

Andererseits sind die Türken bei Kalafat in der Kleinen Walachei 25.000 Mann stark und verstärken jene Kräfte noch. Über die sonstigen Bewegungen dieses Korps ist uns wenig bekannt. Sie scheinen nicht einmal bis nach Krajowa vorgerückt zu sein und wirklich nichts weiter getan zu haben, als die benachbarten Dörfer zu besetzen. Der Grund dafür ist ebenso unklar, und wir können nur vermuten, daß Omer Pascha in mancher Hinsicht durch den Rat in Konstantinopel in seinen Bewegungen kontrolliert wird, der ursprünglich jene 25.000 Mann bei Sofia stationierte. Auf jeden Fall ist dieses Korps, soweit es von dieser Entfernung aus beurteilt werden kann, an seinem jetzigen Standort völlig nutzlos, und seine Anwesenheit an jener Stelle ist ein Fehler, da es selbst für einen mutmaßlichen und unwahrscheinlichen Einsatz gegen die Serben, wie wir bei früherer Gelegenheit gezeigt haben, entweder zu groß oder zu klein ist. Es wäre offensichtlich weit besser gewesen, es weiter donauabwärts zu verlegen; denn es überquerte den Fluß am 28. Oktober und war bis zum 15. November nicht weit vorgerückt, noch hatte es auf irgendeine Weise aktiv eingegriffen. Diese fünfzehn Tage hätten besser darauf verwendet werden können, es 150 Meilen Welt die Donau abwärts zu senden bis nach Sistowa, wo es in unmittelbarem Kontakt mit dem linken Flügel der türkischen Hauptarmee gewesen wäre, und ein paar weitere Märsche hätten es an Rustschuk, das Zentrum der türkischen Linken, herangebracht. Niemand kann daran zweifeln, daß diese 24.000 Mann, vereinigt mit der Hauptmacht, das Doppelte wie bei Kalafat wert gewesen wären, und die Ereignisse bestätigen diese Ansicht, denn wie bereits erwähnt, haben wir noch nicht gehört, daß sie während der neunzehn Tage, die seit ihrem Übergang über die Donau vergangen sind, Omer Pascha irgendeine aktive Unterstützung gegeben haben.

Die Angriffe der Türken bei Nikopolis und Rustschuk waren reine Finten. Sie scheinen gut durchgeführt worden zu sein, mit nicht mehr Truppen als notwendig und doch mit dem Nachdruck, der dazu angetan ist, einen Feind hinsichtlich der weiteren Absichten der angreifenden Partei irrezuführen. Der Hauptangriff war bei Oltenitza. Welche Kräfte sie dort ins Feld führten, ist <487> sogar jetzt noch unbestimmt. Einige Berichte sagen, daß bereits am 11. die Türken 24.000 Mann bei Oltenitza stehen hatten, während die Russen ihnen 35.000 Mann entgegenstellen konnten. Aber dies ist offensichtlich falsch. Wenn die Russen im Verhältnis von drei zu zwei stärker als die Türken waren, würden sie diese sehr bald auf die andere Seite der Donau zurückgeschickt haben, während die Tatsache die ist, daß der 11. eine russische Niederlage sah.

Mehr denn je hat es den Anschein, daß nichts als ungewöhnlich schlechte militärische Führung die Türken daran hindern kann, Gortschakow aus der Walachei zu verjagen. Sicher ist jedoch, daß es einige merkwürdige Probestücke von Feldherrnkunst auf beiden Seiten gegeben hat. Am 2. November überquerten die Türken die Donau bei Oltenitza - wo sich offenbar ihr Hauptübergangspunkt befindet. Am 3., 4. und 5. schlugen sie erfolgreich die Angriffe der Russen zurück und errangen dadurch ihre Überlegenheit auf dem linken Ufer der Donau. Während dieser drei Tage hätten ihre Verstärkungen eintreffen müssen, und sie hätten sofort in der Lage sein müssen, auf Bukarest zu marschieren. Napoleon handelte auf diese Weise, und seitdem weiß jeder General, daß schon allein Schnelligkeit der Bewegung mangelnde Stärke wettmachen kann, weil dadurch der Gegner überfallen wird, bevor er Zeit hat, seine Kräfte zu konzentrieren. So wie die Leute im Handel sagen: Zeit ist Geld! können wir im Kriege sagen: Zeit ist Truppen! Aber hier in der Walachei wird diese Maxime vernachlässigt. Die Türken halten in aller Ruhe neun Tage lang, vom 6. bis zum 15., Oltenitza besetzt, und mit Ausnahme von kleinen Scharmützeln geschieht nichts, so daß die Russen Zeit haben, ihre Kräfte zu konzentrieren, sie so sorgfältig wie möglich aufzustellen und, falls ihre Rückzugslinie bedroht ist, diese wiederherzustellen und zu sichern. Oder sollen wir annehmen, daß Omer Pascha lediglich beabsichtigte, die Russen in der Nähe von Oltenitza zu halten, bis seine Hauptarmee weiter unten übergesetzt und die Rückzugsmöglichkeiten der Russen völlig abgeschnitten hatte? Das ist möglich, obgleich es sich hier um eine Operation handelt, die, mit 24.000 Mann bei Kalafat und 24.000 bei Oltenitza, auf zusätzliche 50.000 weiter unten in Richtung auf Hirsowa schließen läßt. Nun, wenn er eine solche Streitmacht dort stehen hätte, wie es sehr wahrscheinlich der Fall ist, so hatte sie ihre Zeit besser anwenden können, als sich in diesen ganzen künstlichen und spitzfindigen Manövern zu verlieren. Warum nicht in jenem Falle 70.000 oder 80.000 Mann als eine Masse bei Braila über die Donau werfen und die Russen in der Walachei auf einen Schlag von ihren Verbindungslinien abschneiden? Wie wir bereits sagten, ist es wahrscheinlich, daß diese Bewegung jetzt beabsichtigt ist; aber warum es diese lange Verzögerung und diese komplizierten Vorbereitungen gab, ist nicht ersichtlich. Mit einem so <488> großen Übergewicht an Kräften an der Operationslinie bereitstehend, konnte kein besonderer Vorteil dadurch gewonnen werden, daß Fürst Gortschakow getäuscht wurde. Er hätte vielmehr abgeschnitten und auf einen Schlag vernichtet werden sollen.

Was die türkischen Soldaten betrifft, so kann gesagt werden, daß sie bisher aus den wenigen Treffen, in denen sie in Erscheinung traten, in ausgezeichneter Form hervorgingen. Die Artillerie hat überall bewiesen, daß Zar Nikolaus nicht übertrieben hatte, als er sie zu einer der besten in Europa erklärte. Ein nur zehn Wochen vor Beginn der Feindseligkeiten aufgestelltes Schützenbataillon, mit Minié-Gewehren bewaffnet, die gerade aus Frankreich eingetroffen waren, hat während dieser kurzen Zeit eine große Meisterschaft im aufgelösten Kampf erreicht und erstklassige Scharfschützen hervorgebracht, die jene furchtbare Waffe sehr gut zu handhaben wissen. Bei Oltenitza hatten sie Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen, indem sie nahezu alle höheren Offiziere der Russen abschossen. Im allgemeinen muß die Infanterie durchaus in der Lage sein, die herkömmlichen Linien- und Kolonnenbewegungen durchzuführen, und muß außerdem bei Oltenitza mit großem Mut und großer Standhaftigkeit angegriffen haben, da zumindest an zwei von drei Tagen der Angriff der türkischen Infanterie die Schlacht entschied, und das im Nahkampf, und wie allgemein bekannt, ist die russische Infanterie mit dem Bajonett ein nicht zu verachtender Gegner.

Die Nachrichten aus Asien sind sogar noch entschiedener zugunsten der Türken als die aus Europa. Es scheint zuzutreffen, daß es einen allgemeinen und allseitigen Aufstand der Tscherkessenstämme gegen die Russen gegeben hat, daß sie die Zugänge zum Kaukasus halten und daß Fürst Woronzow von seinen Kommunikationen abgeschnitten worden ist, während die türkischen Kräfte ihn in der Front bedrängen. So beginnt der Krieg überall mit Mißgeschick für den Zaren. Wollen wir hoffen, daß er so bis zum Ende verlaufen möge und daß die russische Regierung und das russische Volk durch ihn belehrt werden, ihren Ehrgeiz und ihre Arroganz zu zügeln und sich künftig um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.