Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 442-446
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960
Geschrieben etwa 27. Oktober 1853.
Aus dem Englischen.
["New-York Daily Tribune" Nr. 3925 vom 15. November 1853, Leitartikel]
<442> Nun hat endlich der Krieg an der Donau begonnen - ein Krieg des religiösen Fanatismus auf beiden Seiten, ein Krieg traditioneller Bestrebungen bei den Russen, ein Krieg auf Leben und Tod bei den Türken. Wie erwartet, war es Omer Pascha, der die Kampfhandlungen eröffnete; pflichtgemäß mußte er wenigstens so tun, als ob er die Eindringlinge mit Waffengewalt von ottomanischem Gebiet vertriebe. Keineswegs aber ist es sicher, daß er 30.000 bis 50.000 Mann über die Donau geworfen hat, wie von Wien das Gerücht ausgeht; und wenn er es doch getan hat, so muß man mit Recht befürchten, daß er einen verhängnisvollen Fehler begangen hat. Das Ufer, das er verläßt, bietet ihm genügend Verteidigungsmöglichkeiten und eine gute Position; das Ufer, dem er zustrebt, gewährt nur geringe Angriffsmöglichkeit, und im Falle des Mißlingens kann er sich nicht zurückziehen. Man muß daher die Nachricht von seinem Übergang in solchen Massen so lange bezweifeln, bis wir Genaueres erfahren.
Während der Krieg in Europa für die Türkei unter ungünstigen Umständen begonnen hat, liegt der Fall in Asien anders. Dort teilen sich, vom militärischen Standpunkt aus betrachtet, die Grenzbezirke zwischen Rußland und der Türkei in zwei voneinander scharf getrennte Operationsgebiete. Es ist der hohe Gebirgskamm oder eigentlich der Gebirgszug, der den Kaukasus mit der Hochebene von Zentralarmenien verbindet und die Wasserscheide bildet zwischen den Zuflüssen des Schwarzen Meeres und den Gewässern, die der Araxes nach dem Kaspischen Meer oder der Euphrat nach dem Persischen Golf führt. Dieser Kamm, der früher Armenien vom Pontus trennte, bildet jetzt die Scheidelinie zwischen den beiden verschiedenen Gebieten, in denen sich der Krieg abspielen wird. Über diese Kette von steil abfallenden <443> und fast kahlen Felsen führen nur sehr wenige Straßen, von denen die beiden wichtigsten die von Trapezunt und Batum nach Erzerum sind. Für alle militärischen Zwecke können also diese Berge als nahezu unpassierbar gelten, und sie zwingen beide Parteien, auf jeder Seite getrennte Truppenkörper zu haben, die mehr oder weniger selbständig operieren.
Das Land am Ufer des Schwarzen Meeres ist von einer Anzahl von Flüssen und Bergströmen durchschnitten, die ebenso viele militärische Verteidigungspositionen bilden. Sowohl die Russen als auch die Türken haben an wichtigen Punkten befestigte Stellungen. In diesem ziemlich durchschnittenen Gebiet (nur das Flußtal des Rion bildet eine Art Ebene) könnte ein Defensivkrieg gegen eine überlegene Armee mit großem Erfolg geführt werden (da der Berge wegen sehr wenige Positionen von der Landseite her bezwungen werden können), wenn nicht die betreffenden Flotten eingreifen. Durch Heranführung und, wenn nötig, Landung von Truppen in der Flanke des Feindes, während ihn die Landarmee an die Front bindet, könnte eine Flotte alle diese starken Positionen eine nach der anderen bezwingen und jene Befestigungen militärisch ausschalten, wenn nicht gar zerstören, die weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Grenze sehr bedeutend sind. Deshalb fällt der Besitz der Schwarzmeerküste demjenigen zu, der das Meer beherrscht; oder mit anderen Worten, wenn die verbündeten Flotten nicht aktiv zugunsten der Türken eingreifen, so wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach den Russen gehören.
Das Land im Innern, auf der landeinwärts gerichteten Seite der Gebirge, umfaßt das Gebiet, in dem der Euphrat, der Araxes und die Kura (Cyrus) entspringen; auf der einen Seite der Grenze liegt die türkische Provinz Armenien, auf der anderen die russische Provinz Georgien.
Auch dieses Land ist außerordentlich gebirgig und für Armeen im allgemeinen unpassierbar. Erzerum auf türkischer Seite, Tiflis auf russischer, können als die beiden unmittelbaren Operationsbasen angesehen werden, mit deren Verlust unweigerlich das gesamte benachbarte Gebiet verlorenginge. So hat die Erstürmung von Erzerum durch die Russen den asiatischen Feldzug von 1829 entschieden.
Was jedoch für eine Partei direkte Operationsbasis, ist für die andere direktes Operationsobjekt. Die Straßen, die Tiflis und Erzerum verbinden, werden daher die Operationslinien für beide sein. Drei Wege gibt es: Der eine führt längs der oberen Kura über Achalzych, der andere längs des oberen Araxes über Eriwan, der dritte führt in der Mitte zwischen beiden über Kars quer durch die Berge. Alle diese Straßen sind auf jeder Seite durch befestigte Städte und Punkte gesichert, und es ließe sich schwer entscheiden, <444> welche Straße für die Türken oder für die Russen die günstigste wäre. Es genügt zu erwähnen, daß eine türkische Armee auf dem Weg über Achalzych am schnellsten in die aufrührerischen Gebiete des Kaukasus einmarschieren könnte, daß aber ein russisches Korps, das von Batum her durch das Tal des Tschorok über Olty auf Erzerum vorrückt, eben diesen Vormarsch der Türken bedrohen könnte. Der Weg von Batum vereinigt sich mit dem von Tiflis nur etwa 15 Meilen vor Erzerum, so daß ein russisches Korps, das in der angegebenen Richtung vorrückt, in der Lage wäre, die Verbindungen der Türken abzuschneiden. Es könnte, wenn es stark genug wäre, sich sogar Erzerums bemächtigen, dessen Befestigungen nur nach asiatischer Manier angelegt und keines ernstlichen Widerstandes fähig sind.
Der Schlüssel zum Kriegsschauplatz in Asien und zu beiden Seiten der Berge ist also Batum, und wenn man dies und seine Bedeutung für den Handel bedenkt, so braucht man sich nicht zu wundern, wie sehr sich der Zar stets bemühte, es zu erobern. Und Batum ist deshalb der Schlüssel zum Kriegsschauplatz oder vielmehr zur gesamten asiatischen Türkei, weil es die einzige passierbare Straße von der Küste ins Innere beherrscht, eine Straße, welche alle türkischen Positionen vor Erzerum umgeht. Und diejenige der beiden Flotten im Schwarzen Meer, die die andere in ihre Häfen zurücktreibt, wird Batum beherrschen.
Die Russen sind sich der Bedeutung dieses Punktes völlig bewußt. Zu Wasser und zu Lande haben sie Verstärkungen nach der transkaukasischen Küste geschickt. Noch vor kurzem konnte man annehmen, daß sich die Türken, wenn sie schon in Europa die Schwächeren waren, in Asien doch einer entschiedenen Überlegenheit erfreuten. Abdi Pascha, der Befehlshaber der asiatischen Armee, sollte 60.000 oder 80.000, wenn nicht gar 120.000 Mann gesammelt haben, und täglich würden Schwärme von Beduinen, Kurden und anderen irregulären Truppen zu seiner Fahne strömen. Für die kaukasischen Insurgenten gäbe es Waffen und Munition in Hülle und Fülle, und sobald der Krieg erklärt wäre, sollte mitten in jene Zentren des Widerstandes gegen Rußland vorgestoßen werden. Man tut gut daran zu bedenken, daß Abdi Pascha kaum mehr als 30.000 Mann reguläre Truppen haben kann und daß er, ehe er den Kaukasus erreicht, mit diesen ganz allein dem hartnäckigen Widerstand der russischen Bataillone zu begegnen haben wird. Seine berittenen Beduinen und Kurden mögen sich vorzüglich zum Kriegführen in den Bergen eignen, indem sie die Russen zwingen, große Detachements abzusondern und dadurch ihre Hauptmacht zu schwächen; sie mögen auch den Dörfern der Georgier und der Kolonisten auf russischem Gebiet viel Schaden zufügen und sogar eine Art geheimer Verbindung mit den kaukasischen Bergbewoh- <445> nern herstellen. Aber wenn Abdi Paschas Truppen nicht in der Lage sind, die Straße von Batum nach Erzerum zu sperren und jeden Kern einer aktiven Armee zu schlagen, den die Russen aufzubringen vermögen, dann wird der Erfolg der Irregulären nur sehr kurzlebig sein. Die Unterstützung durch eine reguläre Armee ist heutzutage unbedingt notwendig für den Fortgang jedes irregulären Krieges oder Insurrektionskriegs gegen eine mächtige reguläre Armee. Die türkische Position an dieser Grenze würde der Wellingtons in Spanien gleichen, und wir werden sehen, ob Abdi Pascha mit seinen Hilfskräften so hauszuhalten versteht, wie es der britische General gegen einen Feind verstand, der ihm in der regulären Kriegführung und den dazu nötigen Mitteln entschieden überlegen war. 1829 betrug die Zahl der russischen Streitkräfte in Asien vor Erzerum nur 18.000 Mann; zieht man nun die Verbesserungen in Betracht, die seitdem in der türkischen Armee Platz gegriffen haben (wenn auch der asiatische Teil am wenigsten davon profitierte), so müßte man sagen, daß die Russen gute Aussicht auf Erfolg hätten, wenn sie heute 30.000 Mann an dieser Stelle vereinigen könnten.
Wer kann im Augenblick entscheiden, ob ihnen das gelingen wird oder nicht, weiß man doch über die russische Armee in Asien sogar noch weniger Bestimmtes und werden über sie noch mehr müßige Gerüchte verbreitet als über ihre europäischen Streitkräfte. Die kaukasische Armee wird bei voller Stärke offiziell auf 200.000 Mann geschätzt; 21.000 Kosaken vom Schwarzen Meer sind gegen die türkische Grenze in Marsch gesetzt worden; mehrere Divisionen sollen von Odessa nach Redut Kale an der südkaukasischen Küste eingeschifft worden sein. Aber jedermann weiß, daß die kaukasische Armee nicht halb so stark ist, wie offiziell angegeben wird, und daß die Verstärkungen, die von jenseits des Kaukasus geschickt wurden, aus naheliegenden Gründen nicht die von den russischen Zeitungen angegebene Zahl haben können. Man ist überhaupt nicht in der Lage, nach den sich widersprechenden Nachrichten, die uns zugehen, die russischen Streitkräfte an der asiatischen Grenze auch nur annähernd zu schätzen. Wir können nur soviel sagen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Kräfte beider Parteien (wenn man von einem allgemeinen Aufstand der Kaukasier absieht) einander ziemlich die Waage halten; daß vielleicht die Türken ein wenig stärker als die Russen sind und daher auf diesem Kriegsschauplatz die volle Berechtigung haben werden, die Offensive zu ergreifen
Für die Türken sind die Aussichten in Asien tatsächlich viel ermutigender als in Europa. Sie haben in Asien nur eine wichtige Position zu wahren, Batum. Und ein Vormarsch gegen den Kaukasus, sei es von Batum oder von Erzerum aus, eröffnet ihnen im Falle des Erfolgs eine direkte Verbindung mit ihren <446> Verbündeten, den Bergbewohnern, und kann mit einem Schlag die russische Armee südlich des Kaukasus von Rußland abschneiden, wenigstens zu Lande. Und das kann zur völligen Vernichtung dieser Armee führen. Werden andererseits die Türken geschlagen, so laufen sie Gefahr, Batum, Trapezunt und Erzerum zu verlieren; doch selbst wenn dies der Fall wäre, würden die Russen dann nicht stark genug sein, weiter vorzudringen. Daher wiegen die Vorteile bei weitem den Verlust auf, den die Türken bei einer Niederlage erleiden würden; und in Erwägung dieser guten und hinlänglichen Gründe scheinen sie sich wohl entschlossen zu haben, in diesen Gebieten einen Offensivkrieg zu führen.