Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 428-432
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Karl Marx

[Das türkische Manifest -
Die wirtschaftliche Lage Frankreichs]

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3912 vom 31. Oktober 1853]

<428> London, Dienstag, 18. Oktober 1853

Das türkische Manifest, das am 1. Oktober den vier Großmächten zur Rechtfertigung der Kriegserklärung des Sultans an den Zaren zugestellt wurde, ist in jeder Hinsicht dem ungeheuren Haufen von amtlichen Noten weit überlegen, mit denen Europa seit dem Mai 1853 überschwemmt wurde.

In ihm heißt es, daß der Sultan keinen Anlaß zu Streitigkeiten gegeben habe. Nicht einmal ein Vorwand dazu sei geblieben, nachdem die Frage der Heiligen Stätten beigelegt worden sei. Rußland war es, das seinerseits alle Verträge verletzte, die Türkei ihrerseits hatte alle Mittel zur Versöhnung erschöpft. Die Mächte selbst waren darin einig, daß der Sultan der Note des Fürsten Menschikow nicht zustimmen sollte. Wie konnte man dann annehmen, daß er die Wiener Note akzeptiert, die sich im ganzen kaum von der Menschikows unterschied? Die erklärende Epistel der Wiener Konferenz konnte an dem Stand der Dinge nichts ändern. Wenn Rußland schon die klaren und deutlichen Paragraphen des Vertrags von Kainardschi falsch ausgelegt hatte, kann man es da riskieren, ihm "vage und unklare Paragraphen in die Hand zu geben, die ihm einen geeigneten Vorwand für seine Ansprüche auf ein religiöses Protektorat bieten"? Überdies wurden die vom Sultan vorgeschlagenen Abänderungen durch die später von Nesselrode veröffentlichten Erklärungen völlig gerechtfertigt. Die Besetzung der Donaufürstentümer schuf von vornherein einen Casus belli, und die Pforte hat sich nun entschlossen, sie als Casus belli zu proklamieren. Fürst Gortschakow wurde daher aufgefordert, die Donauprovinzen zu räumen. Sollte er fünfzehn Tage nach dieser Mitteilung ablehnend antworten, so wird Omer Pascha die Feindseligkeiten eröffnen, haben die russischen Geschäftsträger die ottomanischen Staaten zu verlassen und werden die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern abge- <429> brochen. Über die russischen Handelsschiffe jedoch soll kein Embargo verhängt werden; sie werden aber Order bekommen, die türkischen Häfen zu verlassen. Die Meerengen werden für die Handelsschiffe der befreundeten Mächte offen bleiben.

Das ist der wesentliche Inhalt des Manifestes des Sultans. Das türkische Ultimatum wurde dem Fürsten Gortschakow am 9. Oktober mitgeteilt. Die Frist zur Räumung der Fürstentümer läuft also am 25. Oktober ab. Die Drohung mit der Eröffnung der Feindseligkeiten ist jedoch nicht so wörtlich zu nehmen, da Omer Pascha natürlich seine starken Stellungen nicht verlassen wird, um die Russen anzugreifen.

Im "Morning Herald" von gestern wird man meine Bemerkungen über die Bewegung der russischen Armee nach Westen und über das geheime Einverständnis mit Österreich bestätigt finden, auf das diese Bewegung hindeutet.

Getreu dem alten asiatischen System der Täuschung und kleinlichen Ränke, nutzt Rußland auch jetzt wieder die Leichtgläubigkeit der westlichen Welt aus und verbreitet das Gerücht, daß der Zar "eben in aller Eile einen Kurier mit der Erklärung nach Wien gesandt hätte, daß er gern und vollständig sämtliche von den vermittelnden Mächten vorgeschlagenen Bedingungen akzeptiere", als er unglücklicherweise "von der Kriegserklärung seitens der Pforte erfuhr". Da natürlich zog der russische Herrgott sämtliche Konzessionen, die er je gemacht hatte, zurück und rief aus, "jetzt bleibe nichts übrig als Krieg, Krieg bis aufs Messer" (guerre à l'outrance). Es kommt also heraus, daß der Zar durch den Sultan zum Krieg gezwungen wurde.

Der österreichische Internuntius Herr von Bruck soll die Pforte gefragt haben, ob sie an die politischen Flüchtlinge zu appellieren gedenke, damit sie eine Fremdenlegion bilden. Reschid Pascha erwiderte, daß er trotz aller Vorschläge, die der Pforte unaufhörlich gemacht würden, noch zu keiner Entscheidung gelangt sei, daß aber die Türkei, wenn sie von ihren Bundesgenossen im Stiche gelassen würde, sich für vollständig berechtigt hielte, alle Mittel zu ihrer eigenen Verteidigung anzuwenden und die Dienste der in den verschiedenen Ländern Europas verstreuten politischen Flüchtlinge in Anspruch zu nehmen.

Im "Constitutionnel" lesen wir:

"Wir haben Ursache, anzunehmen, daß man heute in Paris und London bereits das offizielle Ansuchen der Hohen Pforte um Beistandleistung durch Frankreich und England erhalten hat."

<430> In den Zeitungen steht, der österreichische Kaiser <Franz Joseph I.> habe seine Armee um etwa 100.000 Mann eingeschränkt. Die Wahrheit ist jedoch, daß eine solche Anzahl Leute auf Urlaub geschickt wurde, die jeden Moment wieder einberufen werden können. Einerseits war es die Finanzklemme und andererseits die Hoffnung, die Geldverleiher dadurch zu gewinnen, die das Wiener Kabinett zu diesem Schritt veranlaßt haben.

Der folgende Auszug aus einem Londoner Handelszirkular, das sich mit dem Getreidehandel Frankreichs beschäftigt, wird, wie ich annehme, für den Leser von Interesse sein:

"Einer sehr umfangreichen Korrespondenz, die mit jeder nur erdenklichen Mühe geführt wurde, um den wirklichen Sachverhalt festzustellen, entnehmen wir, daß die Weizenernte in Frankreich um ein volles Drittel zurückgeblieben ist, dabei variierend entsprechend den Bezirken und mit dem größten Ausfall im Süden. Allerdings haben sich unter dem Einfluß der Regierung stehende Journale bemüht, die Öffentlichkeit zu beschwichtigen, daß das nicht der Fall sei, aber gerade die von der Regierung durchgeführten Maßnahmen sind eine ausreichende Widerlegung solcher Versicherungen. Als erstes lockerte sie die Schiffahrtsgesetze im Interesse Englands, um sie dann ganz und gar aufzuheben. Als nächstes zog sie die Herabsetzung der Zölle in Erwägung, was die gleitende Skala von selbst reguliert hätte, legte Minimalzollsätze fest (ohne die Aufteilung in Distrikte mit verschiedenen Zollsätzen zu berücksichtigen, wie es in Frankreich der Fall ist) und öffnete die Häfen den ausländischen Schiffen für den freien Handel ohne Tonnagegebühren. Sie hat seitdem alle Flüsse und Kanäle zur freien Benutzung für Getreideschiffe geöffnet und die Eisenbahnen dazu aufgefordert, die Lebensmittel zu gesenkten Frachtsätzen zu befördern. Sie hat Algerien geöffnet und den algerischen Schiffen zugestanden, Frankreich mit jeder Tonnage gebührenfrei anzulaufen; sie hat die Ausfuhr von Kartoffeln und Gemüse verboten und hat nicht gezögert, auf vielen Märkten willkürlich auf das Verhältnis zwischen Käufern und Verkäufern einzuwirken. Sicherlich bestätigt all das eine schwache Ernte, oder es handelt sich um sehr überflüssige Vorsichtsmaßnahmen. Der Handel in Frankreich ist jedoch seit einiger Zeit in einem Zustand der Spannung; nicht daß die Kaufleute im ganzen Kaiserreich irgendwelche Zweifel hinsichtlich des Ergebnisses der Ernte haben, aber der falsche Schritt, den die Regierung bezüglich der Festsetzung des Brotpreises eingeschlagen hat, hat sie so verwirrt, daß sie fürchten, Geschäfte abzuschließen. Es ist allgemein bekannt, daß sofort nach Erlaß des entsprechenden Dekrets Telegramme nach allen Richtungen gesandt wurden, um die für Getreide gegebenen Aufträge zu annullieren, und es ist unmöglich abzuschätzen, welche Auswirkungen diese Regierungsmaßnahme auf die Preise im Endergebnis haben wird. Die durchschnittliche Weizenproduktion in Frankreich wird auf 80 Millionen Hektoliter (ungefähr 28 Millionen Quarter) geschätzt, dabei war die Höchstproduktion während der letzten <431> 25 Jahre 97 Millionen Hektoliter im Jahre 1847 und die niedrigste 52 Millionen im Jahre 1830. Der Anbau von Weizen hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen, verhältnismäßig sogar viel schneller als die Bevölkerung. Die Tatsache, daß die Vorräte gegenwärtig völlig erschöpft sind, zeigt, daß die Bevölkerung viel besser ernährt worden ist und in besseren Verhältnissen lebt, als es früher der Fall war.

Die folgende Tabelle soll die Zunahme der Bevölkerung und der Produktion während der letzten 25 Jahre zeigen:

Jahr

Bevölkerung

Jährliche Durchschnittsproduktion von Weizen in fünf Jahren (in Hektoliter)

1831

32.569.223

von 1827 bis 1831

57.821.336

1836

33.540.910

von 1832 bis 1836

68.684.919

1841

34.240.078

von 1837 bis 1841

71.512.258

1846

35.400.486

von 1842 bis 1846

72.015.564

1851

35.781.821

von 1847 bis 1851

86.124.123

Das Anwachsen der Konsumtion im Verhältnis zum Anwachsen der Bevölkerung wird dazu führen, daß die Auswirkungen einer schlechten Ernte stärker gefühlt werden, da alte Vorräte fehlen, auf die zurückgegriffen werden könnte, und natürlich keine Vorräte ausländischen Getreides in den Speichern vorhanden sind."

Die unheilvollen Absichten der herrschenden Klassen Englands im Hinblick auf die Türkei können den Predigten der Herren Bright und Cobden in Edinburgh, den Reden Gladstones in Manchester und den von verschiedenen Blättern ausgestreuten Andeutungen entnommen werden, daß im Falle eines russisch-türkischen Krieges Lord Aberdeen durch Lord Palmerston, den ritterlichen Gegner Rußlands, ersetzt werden wird.

Untersuchungen über den Zustand in den Gefängnissen sind jetzt ein ständiger Bestandteil der Presseberichte. Aus dem, was bereits enthüllt worden ist, ist ersichtlich, daß das Gefängnisregime in Birmingham aus Halseisen und An-die-Wandketten, in Leicestershire aus Schließeisen und in Hampshire aus der weniger raffinierten Methode des Hungerns besteht. Und "Ihr nennt dies ein freies Land!"

Ich konstatierte in einem früheren Artikel, daß der mit Birma abgeschlossene sogenannte Friede nichts weiter als ein Waffenstillstand war und daß die Neuerwerbungen sich für die britischen Eroberer als eine endlose Quelle neuer Schwierigkeiten erweisen würden. Die letzte Überlandpost informiert uns nun tatsächlich, daß die Kriegspartei in Birma an Stärke zunimmt; daß die neuen Provinzen buchstäblich von großen, von der Regierung von Ava <432> angestachelten Räuberbanden überschwemmt sind und eine erhebliche Verstärkung der Streitkräfte in Prome erfordern und daß "die britischen Truppen krank und verärgert sind, weil man gesunde Plätze für Kasernen noch nicht gefunden hat".

Die schändliche Vernachlässigung aller Irrigationsanlagen seitens der britischen Beherrscher Indiens verursacht wieder einmal im Distrikt von Patna, als Folge der lang anhaltenden Dürre, ihren regelmäßigen Beitrag an Cholera und Hungersnot.

Einem neuerdings veröffentlichten amtlichen Bericht entnehme ich folgende statistische Angaben über Schiffbrüche von britischen und ausländischen Schiffen an den Küsten des Vereinigten Königreichs:

Jahr

Schiffbrüche insgesamt

gesunken durch Lecks oder Kollisionen

Gestrandet

Verluste an Menschen- leben

Gesamtzahl der Schiffbrüche

1850

277

84

304

784

681

1851

358

-

343

750

701

1852

-

-

-

ca. 900

1.100

Gesamtzahl der Schiffbrüche in 3 Jahren

2.482

und der Verluste an Menschenleben

2.434

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