Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 347-352
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Friedrich Engels

Die Russen in der Türkei

Geschrieben am 29. September 1853.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3900 vom 17. Oktober 1853, Leitartikel]

<347> Die Gewißheit des Krieges und die Wahrscheinlichkeit, daß jeder Dampfer, der jetzt aus Europa eintrifft, über die taktischen Bewegungen von Armeen und über den Ausgang von Schlachten Nachricht bringen wird, macht es mehr denn je erforderlich, die jeweiligen Positionen und die Kräfte der kriegführenden Mächte sowie die verschiedenen Tatumstände genau zu kennen, welche den Verlauf des Feldzugs bestimmen werden. Dieser Notwendigkeit denken wir an Hand einer knappen Analyse der offensiven und defensiven Elemente auf beiden Seiten sowie der wichtigsten strategischen Erwägungen nachzukommen, die wahrscheinlich bei den Absichten der sich gegenüberstehenden Befehlshaber eine Rolle spielen.

Die russischen Truppen, die die Donaufürstentümer besetzt halten, bestanden anfangs aus 2 Infanteriekorps und der üblichen Reserve an Kavallerie und Artillerie. Ein Infanteriekorps in Rußland umfaßt 3 Divisionen oder 6 Infanteriebrigaden, mehrere Regimenter leichte Kavallerie und eine Artilleriebrigade; insgesamt dürfte es ungefähr 55.000 Mann stark sein mit ungefähr 100 Geschützen. Zu je 2 Infanteriekorps gehört ein "Reservekavalleriekorps" und auch Reserveartillerie einschließlich schwerer Festungsartillerie. Demnach belief sich die Besatzungsarmee auf dem Papier ursprünglich auf ungefähr 125.000 Mann. Ein drittes Infanteriekorps rückt inzwischen über den Pruth vor, und wir können daher nach Abzug aller zu erwartenden Ausfälle die russischen Truppen, die an der Donau konzentriert sind, auf 140.000 bis 150.000 Mann schätzen. Wie viele zum gegebenen Zeitpunkt in der Lege sein werden, sich um die Fahnen zu scharen, hängt von den gesundheitlichen Verhältnissen in jenem Gebiet ab, von der größeren oder geringeren Tüchtigkeit des russischen Verpflegungswesens und von anderen Um- <348> ständen ähnlicher Natur, die man unmöglich aus der Ferne richtig einzuschätzen vermag.

Auf Grund aller uns zur Verfügung stehenden Informationen kann die türkische Armee, die den Russen an der Donau gegenübersteht, auf allerhöchstens 110.000 bis 120.000 Mann geschätzt werden. Vor dem Eintreffen der ägyptischen Truppen hieß es allgemein, daß sie nicht stärker als 90.000 Mann war. Folglich sind, soweit wir das beurteilen können, die Türken rein zahlenmäßig offensichtlich unterlegen. Und hinsichtlich des eigentlichen Wertes und der Qualität beider Armeen sind ihnen die Russen ebenfalls überlegen. Es stimmt zwar, daß die türkische Artillerie, die von hervorragenden französischen und preußischen Offizieren ausgebildet wurde, hohes Ansehen genießt, während die russischen Kanoniere bekanntlich schlecht treffen, aber die türkische Infanterie kann man trotz aller in letzter Zeit vorgenommenen Verbesserungen nicht mit den russischen Grenadieren vergleichen, und den türkischen Reitern fehlt noch jene Disziplin und Standhaftigkeit in der Schlacht, die einen zweiten und dritten Angriff möglich machen, wenn der erste zurückgeschlagen worden ist.

Auf beiden Seiten sind die Generale verhältnismäßig neu. Wir hatten bereits Gelegenheit, die militärischen Verdienste des Fürsten Gortschakow, des russischen Befehlshabers, und die Gründe, weshalb der Kaiser ihn auf jenen Posten berief, unseren Lesern darzulegen. Obwohl Gortschakow ein ehrenhafter Mann ist und mit Eifer für Rußlands "historische Sendung" eintritt, muß sich erst noch zeigen, ob er einen Feldzug von solch einem Ausmaß, wie den jetzt eröffneten, führen kann. Omer Pascha, der türkische Oberbefehlshaber, ist besser bekannt, und was wir über ihn wissen, lautet im allgemeinen günstig. Von seinen Feldzügen gegen Kurdistan und Montenegro war der erste unter schwierigen Bedingungen erfolgreich; der zweite, außerordentlich gut überlegt, hätte fast ohne Blutvergießen zum Erfolg geführt, hätte sich nicht die Diplomatie eingemischt. Also liegt die Überlegenheit auf seiten der Türkei vielleicht vor allem in der Führung; in beinahe allen anderen Beziehungen sind die Russen im Vorteil.

Obwohl die Türken den Krieg erklärt haben und wahrscheinlich leidenschaftlicher als die Russen darauf brennen, mit dem Feind handgemein zu werden, scheint es dennoch offensichtlich, daß sie als die Schwächeren den größeren Vorteil in der Defensive und die Russen in der Offensive haben werden. Das schließt natürlich die Chancen aus, die sich aus offenkundigen Fehlern der beiden Generale in ihren Maßnahmen ergeben können. Wären die Türken für die Offensive stark genug, so stünde ihre Taktik fest. Sie müßten die Russen dann durch Scheinmanöver an der oberen Donau täuschen, ihre <349> Truppen schnell zwischen Silistria und Hirsowa konzentrieren, die untere Donau überqueren, den Feind an seiner schwächsten Stelle angreifen, d.h. also auf dem engen Landstreifen, der die Grenze zwischen der Walachei und der Moldau bildet, dann die russischen Truppen in den beiden Donaufürstentümern voneinander trennen, mit konzentrierten Kräften das Korps in der Moldau zurückdrängen und das in der Walachei isolierte und abgeschnittene Korps zerschlagen. Aber da die Türken bei einer offensiven Bewegung keinerlei Aussichten auf Erfolg haben, könnten sie eine solche Operation billigerweise nur dann wagen, wenn der russische Befehlshaber unerhörte Fehler macht.

Wenn die Russen die Gelegenheit zur Offensive ergreifen, so müssen sie zwei natürliche Hindernisse überwinden, ehe sie zum Herzen des Türkischen Reiches vordringen; zuerst die Donau und dann den Balkan. Das Überqueren eines breiten Stromes, selbst angesichts einer feindlichen Armee, ist ein militärisches Unternehmen, das im Laufe der Revolutionskriege und der napoleonischen Kriege so oft vollbracht worden ist, daß heutzutage jeder Leutnant weiß, wie man so etwas macht. Ein paar Scheinmanöver, ein gut ausgerüsteter Pontontrain, einige Batterien zur Sicherung der Brücken, wohlüberlegte Maßnahmen zur Sicherung des Rückzugs und eine tapfere Avantgarde, das sind ungefähr alle erforderlichen Bedingungen. Aber das Überschreiten eines großen Gebirgszuges und besonders eines mit so wenigen Pässen und gangbaren Straßen wie der Balkan, ist ein ernsteres Unternehmen. Wenn dieser Gebirgszug in einer Entfernung von nicht mehr als 40 bis 60 Meilen parallel zu einem Fluß verläuft wie der Balkan zur Donau, dann wird die Angelegenheit noch ernster, denn ein in den Bergen geschlagenes Korps kann bei aktiver Verfolgung von seinen Brücken abgeschnitten und in den Strom getrieben werden, ehe Unterstützung eintreffen kann; eine auf diese Weise in einer großen Schlacht geschlagene Armee wäre unvermeidlich verloren. Gerade diese geringe Entfernung zwischen Donau und Balkan und ihr paralleler Verlauf machen die natürliche militärische Stärke der Türkei aus. Der Balkan, von der mazedonisch-serbischen Grenze bis zum Schwarzen Meer, d.h. der eigentliche Balkan, "Weliki Balkan", hat fünf Pässe, von denen zwei solche Gebirgsstraßen sind wie eben in der Türkei üblich. Diese beiden sind der Paß von Ichtiman, auf der Straße von Belgrad über Sofia, Philippopel, Adrianopel nach Konstantinopel, und der Paß von Dobrol, an der Straße von Silistria und Schumla. Von den anderen drei liegen zwei zwischen den eben genannten und der dritte zwischen Dobrol und dem Schwarzen Meer; diese können für eine große Armee mit dem Train als unpassierbar gelten. Kleinere Truppenteile mögen passieren können, eventuell sogar leichte Feldartillerie, aber sie <350> können für die Eindringlinge nicht als Operations- und Verbindungslinien ihres Hauptkorps dienen.

1828 und 1829 operierten die russischen Truppen auf der Linie Silistria-Paß-Dobrol-Adrianopel-Ainadschik; da dies tatsächlich die kürzeste und unmittelbarste Verbindung von der russischen Grenze zur türkischen Hauptstadt ist, bietet sie sich von selbst als die natürlichste für jede russische Armee an, die von Norden kommt, von einer uneingeschränkt das Schwarze Meer beherrschenden Flotte unterstützt wird und deren Aufgabe es ist, durch einen siegreichen Vormarsch auf Konstantinopel eine schnelle Entscheidung zu erzwingen. Um diese Straße zu passieren, muß eine russische Armee, nachdem sie die Donau überschritten hat, eine starke, von den beiden Festungen Schumla und Varna flankierte Position forcieren, beide Festungen einschließen oder einnehmen und dann den Balkan überschreiten. 1828 setzten die Türken in dieser Stellung ihre Hauptmacht aufs Spiel. Sie wurden bei Kulewtscha geschlagen; Varna und Schumla wurden genommen, die Verteidigung des Balkans war nur schwach, und die Russen erreichten, wenn auch sehr geschwächt, Adrianopel, aber ohne auf Widerstand gestoßen zu sein, da sich die türkische Armee völlig aufgelöst hatte und nicht eine Brigade zur Verteidigung Konstantinopels zur Verfügung stand. Die Türken begingen damals einen großen Fehler. Jeder Offizier weiß, daß man eine Gebirgskette nicht durch eine davorliegende Defensivstellung verteidigt und auch nicht durch Teilen der Defensivkräfte, um alle Pässe zu sperren, sondern indem man eine zentrale Position dahinter einnimmt, alle Pässe ständig beobachtet und - wenn die Absichten des Feindes klar zutage getreten sind - sich mit massierter Wucht auf die Spitzen seiner Kolonnen wirft, sobald sie aus den verschiedenen Schluchten der Gebirgskette herauskommen. Die starke Stellung quer zur russischen Operationslinie zwischen Varna und Schumla verleitete die Türken dazu, dort den entschiedenen Widerstand zu leisten, den sie in der Ebene von Adrianopel mit konzentrierteren Kräften gegen einen notwendigerweise durch Krankheit und Detachierungen geschwächten Feind hätte bieten müssen.

Wir sehen also, daß bei der Verteidigung der Linie Silistria-Adrianopel der Übergang über die Donau hätte verteidigt werden sollen, ohne einen entscheidenden Kampf zu riskieren. Der zweite Widerstand hätte hinter, nicht zwischen Schumla und Varna geleistet werden müssen; einen entscheidenden Kampf hätte man nur bei sehr großen Siegeschancen annehmen dürfen. Der Rückzug über den Balkan ist der nächste Schritt, wobei die Pässe von Detachements verteidigt bleiben, die so viel Widerstand leisten können als ratsam erscheint, ohne es zu einem entscheidenden Treffen kommen zu lassen. In der Zwischenzeit werden sich die Russen durch Einschließen der Festungen <351> schwächen, sie werden, wenn sie ihrer früheren Praxis folgen, diese Festungen wieder im Sturm nehmen und bei diesem Vorgehen viele Leute verlieren; denn es ist eine merkwürdige Tatsache und typisch für die russische Armee, daß sie bis heute ohne fremde Hilfe zu einer regulären Belagerung niemals in der Lage gewesen ist. Der Mangel an erfahrenen Ingenieuren und Artilleristen, die Unmöglichkeit, in einem barbarischen Land große Kriegsmaterial- und Belagerungsdepots anzulegen oder gar Material, ganz gleich welcher Art, über ausgedehnte Landstrecken zu transportieren, haben die Russen immer gezwungen, jeden befestigten Platz nach einer kurzen, heftigen, aber selten sehr wirkungsvollen Kanonade im Sturm zu nehmen. Auf diese Art eroberte Suworow Ismail und Otschakow; so wurden 1828 und 1829 die türkischen Festungen in Europa und Asien gestürmt, und so eroberten die Russen 1831 auch Warschau. Auf jeden Fall werden die Russen geschwächt die Balkanpässe erreichen, während die Türken Zeit gehabt haben, ihre Detachements von allen Seiten zu konzentrieren. Wenn der Eindringling bei seinem Versuch, den Balkan zu überschreiten, nicht durch einen Schlag der gesamten türkischen Armee zurückgetrieben wird, so könnte die entscheidende Schlacht unter den Mauern Adrianopels ausgetragen werden, und wenn die Türken dann eine Niederlage erleiden, haben sie wenigstens alle ihnen verbliebenen Chancen genutzt.

Aber ein russischer Sieg bei Adrianopel kann unter den gegenwärtigen Umständen nur sehr wenig entscheiden. Die britischen und französischen Flotten liegen vor Konstantinopel, und direkt vor ihren Augen kann kein russischer General auf diese Hauptstadt marschieren. Die Russen, die bei Adrianopel aufgehalten werden, und die nicht mit der Unterstützung ihrer Flotte rechnen könnten, da sie selbst gefährdet wäre, würden bald zu Tausenden das Opfer von Krankheiten werden und müßten sich wieder über den Balkan zurückziehen. So würden sie selbst bei einem Siege ihr eigentliches Kriegsziel nicht erreichen. Es gibt allerdings noch eine andere Operationslinie, die vielleicht vorteilhafter wäre. Sie ergibt sich aus der Route, die von Widdin und Nikopolis über Sofia nach Adrianopel führt. Abgesehen von politischen Erwägungen würde es keinem vernünftigen russischen General in den Sinn kommen, dieser Route zu folgen. Aber solange sich Rußland auf Österreich verlassen kann - solange die Annäherung einer russischen Armee an die serbische Grenze, verbunden mit russischen Intrigen in Serbien, aufständische Bewegungen in diesem Land, in Montenegro sowie unter der überwiegend griechisch-slawischen Bevölkerung von Bosnien, Mazedonien und Bulgarien auslösen könnte - solange die einen rein militärischen Feldzug krönende Operation, die Einnahme von Konstantinopel, wegen der Anwesenheit einer <352> europäischen Flotte nicht in Frage kommt - so lange wird dieser erwähnte Feldzugsplan der einzige sein, den die Russen mit guten Erfolgsaussichten annehmen können und noch dazu, ohne England und Frankreich durch einen unmittelbaren Vormarsch auf Konstantinopel zu entschlossenen, kriegerischen Aktionen zu treiben.

Auf Grund der gegenwärtigen Position der russischen Armee sieht es tatsächlich so aus, als ob etwas in dieser Art geplant sei. Ihr rechter Flügel ist bis nach Krajowa, nahe der westlichen Grenze der Walachei, ausgedehnt worden, und eine allgemeine Verschiebung der Truppen in Richtung auf die obere Donau hat stattgefunden. Da dieses Manöver völlig außerhalb der Operationslinie Silistria-Schumla liegt, kann es nur zum Ziel haben, die Verbindung mit Serbien aufzunehmen, dem Zentrum slawischen Nationalstrebens und des griechisch-orthodoxen Glaubens in der Türkei. Eine Defensivstellung an der unteren Donau, verbunden mit einem Vorgehen über die obere Donau in Richtung Sofia, würde bei einer Unterstützung Österreichs und in Verbindung mit einer Bewegung der türkischen Slawen für ihre nationale Unabhängigkeit völlig sicher sein; und eine derartige Bewegung könnte nicht wirksamer ausgelöst werden als durch einen Vormarsch der russischen Armee auf das Zentrum der slawischen Bevölkerung der Türkei. Auf diese Weise wird der Zar weit leichter und auf eine weit weniger offensive Art das erreichen, was er während der ganzen Auseinandersetzungen verlangt hat: die Zusammenfassung aller in der Türkei lebenden Slawen in gesonderten Fürstentümern, wie es heute die Moldau, die Walachei und Serbien sind. Wenn Bulgarien, Montenegro und Mazedonien unter der nominellen Herrschaft des Sultans und dem wirklichen Protektorat des Zaren stehen, würde die europäische Türkei auf die Umgebung von Konstantinopel begrenzt und ihres Soldatennachschubs aus Albanien beraubt sein. Das wäre für Rußland ein weit besseres Ergebnis als ein entscheidender Sieg bei Adrianopel, nach dem seine Truppen auf einen toten Punkt geraten würden. Allem Anschein nach strebt Rußland dieses Ergebnis an. Es bleibt abzuwarten, ob es sich nicht irrt, wenn es sich auf die Slawen in der Türkei verläßt, jedenfalls wäre kein Grund zur Verwunderung, wenn sie sich alle gegen Rußland wendeten.