Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 273-285
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Karl Marx

Die türkische Frage im Unterhaus

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3862 vom 2. September 1853]

<273> London, Freitag, 19. August 1853

Nachdem Lord John Russell seine Erklärungen über die türkische Frage immer und immer wieder verschoben hatte, bis endlich die letzte Woche der Parlamentssession glücklich herangekommen war, trat er plötzlich vergangenen Montag mit der Ankündigung hervor, daß er Dienstag seine so lange verzögerte Erklärung abgeben würde. Der edle Lord hatte in Erfahrung gebracht, daß Herr Disraeli London Montag morgen verlassen habe. Ebenso plötzlich hatte Sir Charles Wood, als er erfuhr, daß Sir J. Pakington und seine Anhänger nicht anwesend seien, seine Indienbill eingebracht, die das Oberhaus amendiert hatte, und von dem schwachbesetzten Hause einstimmig die Wiederinkraftsetzung des Salzmonopols erreicht. In solchen kleinlichen, schäbigen Tricks liegt die Kraft der parlamentarischen Taktik der Whigs.

Die Debatte zur orientalischen Frage im Unterhaus war ein hochinteressantes Schauspiel. Lord J. Russell eröffnete die Vorstellung in einem Tone, der seiner Rolle durchaus angemessen war. Dieser winzige Erdensohn, der angeblich letzte Vertreter des einst mächtigen Stammes der Whigs, sprach langweilig, leise; trocken, monoton und geistlos, nicht wie ein Minister, sondern wie ein Polizeireporter, der die Greuel seines Berichts durch die triviale, alltägliche und geschäftliche Art des Vortrags mildert. Er hielt keine "Verteidigungsrede", sondern machte ein Bekenntnis. Der einzige versöhnende Zug in seiner Rede war gerade diese Steifheit, hinter der sich gewisse schmerzliche Eindrücke zu verbergen schienen, unter denen der kleine Mann litt. Sogar die unvermeidliche Phrase von "der Unabhängigkeit und Integrität des Ottomanischen Reichs" klang wie eine alte Reminiszenz, die sich wie aus Versehen immer wieder in die Leichenrede für dieses Reich einschlich. Der <274> Eindruck dieser Rede, die als Losung der orientalischen Wirren gedacht war, mag am besten danach beurteilt werden, daß in Paris die Papiere sofort fielen, als der Telegraph ihren Wortlaut übermittelte.

Lord John hatte recht, als er behauptete, die Regierung brauche seine Verteidigung nicht, denn sie sei nicht angegriffen worden; das Haus zeigte sich im Gegenteil vollständig geneigt, der Exekutive die Verhandlungen zu überlassen. Tatsächlich hat kein einziges Parlamentsmitglied irgendeinen Antrag gestellt, der die Minister zum Eingreifen in die Debatte zwänge, und es fand keine einzige Versammlung außerhalb des Hauses statt, die den Parlamentsmitgliedern einen solchen Antrag aufgezwungen hätte. Wenn die Politik des Ministeriums voller Geheimnisse und Mystifikationen war, so war sie es mit der schweigenden Zustimmung des Parlaments und des Publikums. Daß man Dokumente nicht veröffentlicht, während die Verhandlungen noch schweben, sei nach Lord Johns Versicherung ein seit aller Ewigkeit geheiligtes Gesetz der parlamentarischen Tradition. Es wäre ermüdend, ihm bei der Aufzählung von Ereignissen zu folgen, die jedem vertraut sind und die er durch seine Art, aufzuzählen, statt zu erzählen, nicht lebendiger zu gestalten weiß. Immerhin sind da einige wichtige Punkte, die vor Lord John noch kein anderer offiziell bestätigt hat.

Vor der Ankunft des Fürsten Menschikow in Konstantinopel machte der russische Gesandte Lord John die Mitteilung, daß der Zar eine außerordentliche Mission nach Konstantinopel zu senden beabsichtige, die sich ausschließlich mit Vorschlägen wegen des Heiligen Kreuzes und der damit verbundenen Privilegien der griechisch-orthodoxen Kirche befassen sollte. Der britische Gesandte in Petersburg und die hiesige britische Regierung hegten keinen Argwohn in bezug auf Rußlands Absichten. Erst Anfang März teilte der türkische Minister Lord Stratford mit (nach Herrn Layards Behauptung seien jedoch Oberst Rose und viele andere Personen in Konstantinopel in das Geheimnis schon vorher eingeweiht gewesen), Fürst Menschikow habe einen Geheimvertrag vorgeschlagen, der mit der Unabhängigkeit der Türkei unvereinbar gewesen sei, und habe in diesem Zusammenhang erklärt, Rußland würde es als einen Akt direkter Feindseligkeit gegen sich auffassen, wenn Frankreich oder England von dieser Tatsache in Kenntnis gesetzt würden. Gleichzeitig verlautete, und zwar nicht nur gerüchtweise, sondern nach authentischen Berichten, daß Rußland große Truppenmassen an den türkischen Grenzen und bei Odessa zusammenzöge

Die Note, die die Wiener Konferenz an den Zaren richtete und die von ihm akzeptiert wurde, war in Paris von Herrn Drouyn de Lhuys vorbereitet worden, der ihr die Antwort Reschid Paschas auf die letzte russische Note <275> zugrunde gelegt hatte. Später nahm Österreich sie am 24. Juli in veränderter Form als seinen eigenen Vorschlag auf; ihre endgültige Fassung aber erhielt sie am 31 Juli. Der österreichische Minister hatte sie vorher dem russischen Gesandten in Wien übermittelt, der sie schon am 24. Juli, noch vor ihrer endgültigen Fassung, nach St. Petersburg schickte, und erst am 2. August, nachdem der Zar ihr zugestimmt hatte, wurde sie nach Konstantinopel gesandt. Eigentlich ist es also eine russische Note, die durch Vermittlung der vier Mächte an den Sultan gerichtet wurde, und nicht eine von den vier Mächten an Rußland und die Türkei gerichtete Note. Lord John Russell bemerkt, diese Note stimme "in der Form nicht genau mit der Note des Fürsten Menschikow überein"; wobei er zugibt, daß sie den gleichen Inhalt hat. Um aber gar keinen Zweifel aufkommen zu lassen, fügt er hinzu:

"Der Kaiser glaubt, seine Ziele zu erreichen."

Der Entwurf enthält auch nicht einmal eine Anspielung auf die Räumung der Donaufürstentümer.

"Selbst wenn sich die Türkei und Rußland", sagt Lord John, "endlich auf diese Note einigen sollten, so bleibt immer noch die große Frage nach der Räumung der Fürstentümer."

Gleichzeitig fügt er hinzu, daß die britische Regierung "diese Räumung für notwendig halte", über den Modus, wie sie vor sich gehen solle, möge man ihm aber gestatten, sich nicht weiter zu äußern. Er läßt jedoch deutlich durchblicken, daß die englische und die französische Flotte die Besikabai wahrscheinlich eher räumen müssen als die Russen die Fürstentümer.

"Wir sollten keiner Abmachung zustimmen, durch welche das Vorrücken der Flotten in die Nähe der Dardanellen als eine Handlung angesehen werden könnte, die einem tatsächlichen Einfall in türkisches Territorium gleichkäme. Selbstverständlich, wenn die Sache beigelegt und der Friede gesichert ist, so wird die Besikabai aufhören, für England oder Frankreich ein Stützpunkt von irgendwelchem Nutzen zu sein."

Da kein vernünftiger Mensch jemals angenommen hat, die englische und die französische Flotte sollten für alle Zeiten in der Besikabai bleiben, oder Frankreich und England sollten einen formellen Vertrag abschließen, der ihnen das Vorrücken in die neutrale Umgebung der Dardanellen verbietet, so können diese zweideutigen und geschwollenen Phrasen, wenn sie überhaupt etwas besagen, nur das eine bedeuten, daß die Flotten sich zurückziehen werden, sobald der Sultan die Note akzeptiert und der Russe versprochen haben wird, die Fürstentümer zu räumen.

<276> "Als die russische Regierung", sagt Lord John, "die Fürstentümer besetzt hatte, erklärte Österreich, im Sinne des Vertrags von 1841 sei es unumgänglich notwendig, daß die Vertreter der Mächte zu einer Konferenz zusammenträten und sich bemühten, friedliche Wege zur Beilegung der aufgetauchten Schwierigkeiten zu finden, denn sonst wäre der Friede in Europa bedroht."

Im Gegensatz dazu erklärte Lord Aberdeen vor einigen Tagen im Oberhaus und auch, wie uns aus anderen Quellen berichtet wird, in einer formellen, im Laufe des Juni an die Kabinette von Konstantinopel und St. Petersburg abgegangenen Note, daß

"der Vertrag von 1841 den unterzeichneten Mächten in keiner Weise die Verpflichtung auferlege, der Pforte tatsächlich beizustehen" (wohl aber zeitweilig auf die Dardanellendurchfahrt zu verzichten!), "und daß die Regierung Ihrer Majestät sich vorbehalte, ganz nach ihrem Ermessen einzugreifen oder nicht einzugreifen, je nachdem, wie es ihren eigenen Interessen entspräche".

Lord Aberdeen weist alle Verpflichtungen gegen die Türkei nur deshalb zurück, um nicht Rußland gegenüber irgendwelche Rechte geltend machen zu müssen.

Lord John Russell schließt mit "der tröstlichen Versicherung", daß der Abschluß der Verhandlungen nahe bevorsteht. Das erscheint uns in diesem Augenblick recht zuversichtlich, wenn wir bedenken, daß die in Wien vereinbarte russische Note, welche die Türkei dem Zaren vorlegen soll, vom Sultan noch gar nicht akzeptiert worden ist und daß die sine qua non der Westmächte, nämlich die Räumung der Donaufürstentümer, dem Zaren noch gar nicht ernsthaft nahegelegt wurde.

Herr Layard, der erste Redner, der sich erhob, um Lord John zu antworten, hielt die weitaus beste und kraftvollste Rede - kühn, kurz und bündig, inhaltsreich, voll Tatsachenmaterial bewies sie, daß der ausgezeichnete Gelehrte mit Nikolaus ebenso vertraut war wie mit Sardanapal und mit den gegenwärtigen Intrigen im Orient ebenso wie mit den geheimnisvollen Überlieferungen seiner Vergangenheit.

Herr Layard bedauerte, daß Lord Aberdeen "bei verschiedenen Gelegenheiten und an verschiedenen Orten erklärt habe, seine Politik sei wesentlich eine auf dem Frieden basierende Politik". Schrecke England davor zurück, seine Ehre und seine Interessen mit kriegerischer Faust zu wahren, so züchte es dadurch bei einer so gesetzlosen Macht wie Rußland eine Anmaßung groß, die früher oder später unvermeidlich zum Krieg führen müsse. Das jetzige Vorgehen Rußlands dürfe nicht als zufälliges und vorübergehendes Ereignis betrachtet werden, sondern als Teil und Bestandteil eines großangelegten politischen Plans.

<277> Was die an Frankreich gemachten "Konzessionen" und die "Intrigen" des Herrn von Levalette betrifft, so könnten sie Rußland nicht einmal einen Vorwand bieten, weil

"die Pforte bereits mehrere Tage, wenn nicht Wochen vorher einen Entwurf des Fermans, der die nun von Rußland beanstandeten Konzessionen enthielt, an Herrn Titow ablieferte und gegen den Wortlaut dieses Fermans keine wie immer geartete Einwendung erhoben wurde".

Rußlands Pläne in bezug auf Serbien, die Moldau-Walachei und die christliche Bevölkerung der Türkei waren nicht mißzuverstehen. Unmittelbar nach seinem offiziellen Auftreten in Konstantinopel forderte Fürst Menschikow die Entlassung Garaschanins von seinem Posten als serbischer Minister. Diesem Verlangen wurde stattgegeben, obwohl der serbische Synod protestierte. Herr Garaschanin war einer der Männer, den die Erhebung von 1842 in die Höhe getragen hatte, jene nationale Bewegung gegen den russischen Einfluß, die den damals herrschenden Fürsten Michael von Serbien hinwegfegte; dieser und seine Familie waren bloße Werkzeuge in den Händen Rußlands gewesen. 1843 maßte sich Rußland das Recht an, sich in Serbien einzumischen. Durch keinerlei Vertrag irgendwie dazu bevollmächtigt, erhielt es von Lord Aberdeen, dem damaligen Minister des Auswärtigen, die Vollmacht, wobei Lord Aberdeen erklärte, "Rußland habe das Recht, seine eigenen Verträge nach eigenem Ermessen auszulegen".

"Rußland bewies durch den Erfolg dieser Verhandlungen, daß es Herr in Serbien sei", sagte Herr Layard, "und daß es jeder zur Unabhängigkeit strebenden Nationalität Einhalt gebieten dürfe."

In den Donaufürstentümern machte sich Rußland zuerst die nationale Bewegung von 1848 insofern zunutze, als es die Pforte zwang, jeden Menschen auszuweisen, der liberale und unabhängige Anschauungen vertrat. Dann zwang es dem Sultan den Vertrag von Balta-Liman auf, durch den es sein Recht auf Einmischung in alle inneren Angelegenheiten der Donaufürstentümer festlegte; "und seine jetzige Okkupation derselben hat bewiesen, daß die Moldau und die Walachei faktisch russische Provinzen geworden sind".

Bleiben noch die Griechen in der Türkei und die Slawen in Bulgarien, die sich zum Christentum bekennen.

"Der Griechen hat sich ein Geist der Kritik und Unabhängigkeit bemächtigt, der, neben ihren Handelsbeziehungen mit den freien Staaten Europas, bei der russischen Regierung Bestürzung hervorgerufen hat. Noch ein anderer Anlaß war dazu vorhanden, nämlich die Verbreitung des Protestantismus unter den Christen des Orients. Dem Einfluß und den Lehren amerikanischer Missionare ist es hauptsächlich zuzuschreiben, <278> wenn kaum eine bedeutendere Stadt in der Türkei existiert, in der nicht bereits der Kern einer protestantischen Gemeinde vorhanden ist." (Ein weiterer Grund für die amerikanische Intervention.) "Der griechisch-orthodoxe Klerus, hinter dem die russische Mission stand, tat alles, was in seiner Macht stand, um diese Bewegung zu hemmen, und als alle Verfolgung sich als zwecklos erwies, erschien Fürst Menschikow in Konstantinopel. Rußlands feste Absicht war es, den Geist der religiösen und politischen Unabhängigkeit auszurotten, der sich in den letzten Jahren bei den christlichen Untertanen der Pforte zu zeigen begann."

Im Hinblick auf die Errichtung eines sogenannten griechischen Reichs mit Konstantinopel als Hauptstadt, konstatierte Herr Layard, der selbstverständlich von Griechen nur zum Unterschied von den Slawen spricht, daß es kaum 1.750.000 Griechen gäbe; daß Slawen und Bulgaren seit Jahren aufs eifrigste bestrebt sind, jede Verbindung mit ihnen abzubrechen, indem sie sich weigern, Priester griechischer Nationalität als Geistliche und Bischöfe bei sich zuzulassen; daß die Serben sich ein eigenes Patriarchat schufen an Stelle desjenigen in Konstantinopel; und daß es bedeuten würde, die ganze Türkei an Rußland auszuliefern, wenn sich die Griechen in Konstantinopel festsetzten.

Im Hause erhoben sich Stimmen, die erklärten, es wäre ohne Bedeutung, ob Konstantinopel in den Händen Rußlands sei oder nicht; doch Herr Layard antwortete, wenn Konstantinopel bezwungen sei, so würden alle die großen Provinzen, aus denen die Türkei besteht, wie z.B. Kleinasien, Syrien und Mesopotamien, dem Chaos und der Anarchie anheimfallen. Die Macht, in deren Hände sie gerieten, würde auch Indien beherrschen. Die Macht, welche Konstantinopel beherrscht, würde im Orient stets als die weltbeherrschende angesehen werden.

Rußland sähe nun übrigens ein, daß ihm kein europäischer Staat gestatten würde, jetzt von Konstantinopel Besitz zu ergreifen.

"Sein Streben geht also vorläufig dahin, die Existenz aller unabhängigen Nationalitäten in diesem Land unmöglich zu machen, die türkische Macht langsam aber sicher zu untergraben und allen jenen, die sich seinen Plänen widersetzen, zu zeigen, daß jeder derartige Widerstand nicht nur nutzlos sei, sondern ihnen seine Rache zuziehen würde. Kurz, es will jede andere Regierung außer seiner eigenen in der Türkei unmöglich machen. Diese Absichten sind ihm dieses Mal vollständig gelungen."

Herr Layard legte dar, daß die Regierung sich, nachdem Fürst Menschikow einen Geheimvertrag gefordert und Rußland große Kriegsvorbereitungen an der Grenze und in Odessa getroffen hatte, mit den in St. Petersburg abgegebenen Erklärungen und Versicherungen zufriedengegeben und verabsäumt <279> habe zu erklären, England und Frankreich würden das Überschreiten des Pruth als einen Casus belli betrachten; auch hätte sie Rußland nicht untersagt, ohne Englands Mitwirkung mit der Türkei in Verträge oder Verhandlungen einzutreten.

"Hätten wir diesen Schritt getan, so hätte Rußland niemals gewagt, den Pruth zu überschreiten."

Herr Layard führte weiter aus, daß die Unabhängigkeit der mit Bessarabien vereinigten und von Ungarn gestützten Donaufürstentümer schließlich das einzige Mittel bilden werde, Konstantinopel vor den Russen zu schützen und die große slawische Rasse in zwei Teile zu teilen. Er ist der Ansicht, daß Rußland die Fürstentümer räumen wird.

"Rußland wird es nicht der Mühe wert halten, wegen dieser Provinzen, die ihm eigentlich schon ganz und gar gehören, sich mit den Großmächten Europas in einen Krieg einzulassen. Rußland hat, ohne einen Schuß abzufeuern, das erhalten, was es sonst nur um den Preis eines blutigen und kostspieligen Feldzugs hätte erlangen können; es hat seine Macht im Orient befestigt, hat die Türkei gedemütigt; hat sie dazu gezwungen, alle Kosten des Krieges zu tragen, und hat ihre Hilfsmittel völlig erschöpft; aber, was noch mehr bedeutet: es hat England und Frankreich in den Augen ihrer eigenen Untertanen und der Völker des Orients erniedrigt."

Die von der Wiener Konferenz entworfene Note wird nach Layards Meinung das Ergebnis haben, daß,

"wenn die Pforte ihr nicht nachkommt, Rußland den Spieß gegen uns wenden und uns zu seinem Bundesgenossen gegen die Türkei machen wird, um diese zu zwingen, den ungerechten Vorschlag anzunehmen. Nimmt die Pforte jedoch an, so hat England direkt das Recht Rußlands sanktioniert, sich in die Angelegenheiten von zwölf Millionen Christen, Untertanen der Pforte, einzumischen ... Wie wir uns auch zu der Frage stellen, eins ist klar, wir sind dabei ins Hintertreffen geraten, während Rußland allein die erste Geige spielt ... Wir hatten eine vielleicht niemals wiederkehrende Gelegenheit, diese große orientalische Frage in anständiger Weise zu lösen ... Statt dessen gestattete man Rußland, einen Streich zu führen, von dem sich die Türkei nie mehr erholen wird ... Bei diesem einen Ergebnis der Politik unseres Landes wird es jedoch nicht bleiben. Schweden, Dänemark und alle schwachen Staaten Europas, die bisher auf die Unterstützung unseres Landes bauten, werden einsehen, daß es von nun an nutzlos ist, sich gegen die Übergriffe Rußlands zu wehren."

Hierauf machte Sir John Pakington einige Bemerkungen, die insofern von Bedeutung sind, weil sie eine Äußerung der Ansichten der Tory-Opposition darstellen. Er bedauerte, daß Lord John Russell dem Hause und der Bevölkerung keine befriedigenderen Mitteilungen machen konnte. Er ver- <280> sicherte der Regierung, daß ihr Entschluß, die Räumung der Donaufürstentümer als sine qua non zu erachten, "nicht nur die Unterstützung dieses Hauses, sondern auch die fast einstimmige Unterstützung des Volkes in unserem Lande finden werde". Bis die Dokumente veröffentlicht seien, müsse er mit seinem Urteil über die Politik zurückhalten, die der Türkei geraten habe, die Besetzung der Fürstentümer nicht als Casus belli zu betrachten, die nicht schon früher kräftiger und entscheidender eingegriffen habe und die die Interessen der Türkei und Großbritanniens und ihres Handels durch sechs Monate lang hingezogene Verhandlungen schädigte und in der Schwebe hielt.

Lord Dudley Stuart schwelgte in einer seiner gewohnten demokratischen Deklamationen, die sicher für den Redner erbaulicher sind als für den Hörer. Seine geschwollenen Phrasen sind wie Luftballons; drückt man sie zusammen, so hat man nichts in der Hand, nicht einmal die Luft, die aus ihnen etwas machte. Dudley Stuart wiederholte die schon so oft wiederholten Behauptungen über die Reformen in der Türkei und über den größeren Liberalismus der Regierung des Sultans in puncto Religion und Handel im Vergleich zu dem Rußlands. Mit Recht sagte er, es sei zwecklos, sich des Friedens zu rühmen, solange die unglücklichen Einwohner der Donaufürstentümer noch die Schrecken des Krieges spüren. Europa müsse die Bewohner dieser Provinzen gegen diese fürchterliche Unterdrückung schützen, deren Opfer sie jetzt seien. An Hand von Tatsachen aus der Parlamentsgeschichte wies er nach, daß die Mitglieder des Hauses das Recht hätten, Reden zu halten, auch wenn noch Verhandlungen im Gänge wären. Er vergaß kaum etwas zu erwähnen, was nicht jedem getreuen und ständigen Leser der "Daily News" geläufig ist. In seiner Rede waren zwei "Pointen":

"Obgleich die Erklärung des edlen Lords" (J. Russell) "nicht sehr weitgehend war, denn er hat dem Hause nichts anderes gesagt, als es schon vorher wußte, so müsse man leider doch gerade aus dem, was er verschwiegen habe, zu dem Schlusse kommen, daß der edle Lord etwas begangen habe, dessen er sich schämen müsse."

Der Earl of Aberdeen

"habe zwar gesagt, daß der Frieden zum großen Nutzen für Europas Freiheit und Gedeihen dreißig Jahre lang erhalten worden sei, aber er" (Dudley Stuart) "leugne, daß der Frieden die Freiheit Europas begünstigt habe. Wo, fragte er, stünde Polen? Wo Italien? Wo Ungarn? Und wo erst Deutschland?"

Von seinem eigenen Redefluß, der verhängnisvollen Gabe solcher Redner dritter Garnitur, hingerissen, fand der demokratische Lord kein Ende, bis er von den Despoten des Kontinents zur eigenen Monarchie gelangt war, "die im Herzen ihrer Untertanen throne".

<281> Herr M. Milnes, ein ministerieller Vasall, auf dessen Stirn geschrieben steht,

"sprecht nicht anders von ihm als einem Eigentum",

wagte nicht, eine entschieden ministerielle Rede zu halten. Seine Rede war aus einerseits und andererseits zusammengesetzt. Einerseits fand er, daß die Minister, indem sie dem Hause die Dokumente vorenthielten, "sehr klug und vorsichtig handelten"; andererseits gab er ihnen zu verstehen, es wäre "energischer und tatkräftiger" gewesen, wenn sie anders gehandelt hätten. Einerseits meinte er, die Regierung hätte recht gehabt, sich den Forderungen Rußlands zu unterwerfen; andererseits schien es ihm fraglich, ob die Regierung nicht bis zu einem gewissen Grade die Türkei zu einer Politik ermutigt habe, die sie nicht bereit war, zu unterstützen usw. Er fand schließlich heraus, "je mehr er über diese Dinge nachdenke, desto mehr erkenne er auch die außerordentlichen Schwierigkeiten", die sie seinem Verstand böten - und je weniger er sie verstehe, desto besser verstände er die abwartende Haltung der Regierung.

Nach den Winkelzügen und der Hilflosigkeit des Herrn Monckton Milnes erschien uns die derbe Gradheit von Herrn Muntz, Abgeordneter für Birmingham und einer der Matadore des Reformparlaments von 1831, wahrhaft erfrischend.

"Als einst der holländische Botschafter Karl II. einen sehr unangenehmen Vorschlag machte, rief der König aus: 'Gott segne mich! Solch einen Vorschlag haben Sie Oliver Cromwell nie gemacht!' 'Nein', sagte der Botschafter, 'Sie sind ja auch ein ganz anderer Mann als Oliver Cromwell.' Wenn unser Land jetzt einen solchen Mann wie Oliver Cromwell hätte, dann hätten wir einen anderen Minister und eine ganz andere Regierung, und Rußland wäre niemals in die Donauprovinzen einmarschiert. Der Kaiser von Rußland wußte, daß England sich durch nichts zu einem Kriege würde treiben lassen: siehe Polen, siehe Ungarn. England ernte jetzt die Früchte seines eigenen Verhaltens zu jenen Ländern. Die Lage Englands erscheine ihm, was seine Außenpolitik anbelangt, sehr tadelnswert und höchst unbefriedigend. Auch glaube er, daß das englische Volk sich herabgewürdigt fühle und daß jedes Gefühl für Ehre sich bei der Regierung in Rücksicht auf Pfund Sterling, Schillinge und Pence aufgelöst habe. Die Regierung beschäftige sich heute einzig und allein mit der Frage, was ein Krieg kosten würde und ob er den verschiedenen Kaufleuten des Landes gelegen käme."

Da Birmingham zufällig der Mittelpunkt der Waffenfabrikation ist und die Bevölkerung vom Verkauf von Gewehren lebt, so höhnen die Birminghamer natürlich über die baumwollene Friedensbruderschaft von Manchester.

Herr Blackett, der Abgeordnete von Newcastle-upon-Tyne, glaubte nicht, daß die Russen die Donaufürstentümer räumen würden. Er warnte die <282> Regierung, "sich nicht von irgendwelchen dynastischen Sympathien oder Antipathien leiten zu lassen".

Von allen Seiten und von den Vertretern jeder Richtung bedrängt, saßen die Minister still, traurig, niedergeschlagen und gebrochen da, als sich plötzlich Richard Cobden erhob, um sie zu beglückwünschen, daß sie Anhänger seiner Friedenslehre geworden seien. Und nun wandte er diese seine Lehrsätze auf den vorliegenden Fall an, wobei er den ganzen witzigen Scharfsinn, die schöne Aufrichtigkeit des Monomanen und alle Widersprüche des Ideologen und die ganze berechnende Feigheit des Krämers entwickelte. Er verkündete laut das, was das Ministerium offen durchführte, dem das Parlament schweigend zustimmte, und was die herrschenden Klassen dem Ministerium durchzuführen und dem Parlament anzunehmen ermöglichten. Die Furcht vor dem Krieg flößte ihm zum erstenmal so etwas wie historische Ideen ein. Er verriet das Geheimnis der Bourgeoispolitik und wurde dafür als Verräter verstoßen. Er hielt der englischen Bourgeoisie schonungslos den Spiegel vor, und da das Bild durchaus nicht schmeichelhaft war, wurde er ganz schmählich ausgezischt. Er war inkonsequent, aber in seiner Inkonsequenz selbst war er konsequent. Lag es etwa an ihm, wenn die herkömmlichen stolzen Phrasen der aristokratischen Vergangenheit mit den kleinmütigen Tatsachen der börsenspielenden Gegenwart nicht harmonierten?

Er begann mit der Erklärung, daß es in der Frage selbst keine Meinungsverschiedenheiten gäbe.

"Dennoch herrsche wegen der türkischen Angelegenheit offenbar große Beunruhigung."

Warum das? Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre habe sich die Überzeugung immer mehr gefestigt, daß die europäischen Türken eigentlich Eindringlinge in Europa seien; daß ihre Heimat nicht Europa, sondern Asien sei; daß in zivilisierten Staaten der Mohammedanismus nicht existieren könne; daß wir nicht imstande wären, die Unabhängigkeit eines Landes zu bewahren, wenn es nicht selbst fähig wäre, sie zu bewahren; daß es eine Tatsache sei, daß auf jeden Türken in der europäischen Türkei drei Christen kämen.

"Wir dürften keine Politik verfolgen, durch die der Türkei in Europa ihre Unabhängigkeit gegenüber Rußland gesichert wird, es sei denn, die große Masse der Bevölkerung teilte mit uns den Wunsch, eine andere Macht an der Besitznahme dieses Landes zu verhindern ... Ohne Zweifel dürften wir unsere Flotte nach der Besikabai senden und die Russen fernhalten, denn Rußland werde mit einer Seemacht nicht in Konflikt geraten wollen; wir würden jedoch nur die enormen Rüstungen dadurch ins Endlose fortsetzen, ohne die orientalische Frage dabei zu lösen ... Die Frage ist, was <283> geschieht mit der Türkei und ihrer christlichen Bevölkerung? Der Mohammedanismus könnte nicht erhalten bleiben, und wir würden es sehr bedauern, wenn wir sehen müßten, daß unser Land für den Mohammedanismus in Europa kämpft."

Lord Dudley Stuart habe davon gesprochen, daß die Türkei wegen des Handels erhalten werden müsse. Er (Cobden) würde nie wegen eines Zolltarifs Krieg führen. Er hielte die Grundsätze des Freihandeis für viel zu mächtig, als daß man erst für sie Krieg führen müßte. Der Export nach der Türkei sei überschätzt worden. Nur sehr wenig davon werde in den unter türkischer Herrschaft stehenden Ländern konsumiert.

"Den ganzen Handel, den wir im Schwarzen Meere trieben, verdankten wir dem Vordringen Rußlands an der türkischen Küste. Wir bekämen unser Getreide und unseren Flachs jetzt nicht von der Türkei, sondern von Rußland. Und würde Rußland uns seinen Hanf, sein Korn, seinen Talg nicht ebensogern schicken, wenn es seine Angriffe auf die Türkei fortsetze? Wir trieben mit Rußland Handel in der Ostsee ... Welche Aussichten böte uns der Handel mit der Türkei? ... Das sei ein Land ohne Straßen. Das russische sei das bessere Handelsvolk. Schauen wir nur nach St. Petersburg mit seinen Kais, Werften und Speichern ... Was für ein nationales Bündnis könnten wir also mit einem Lande wie die Türkei schließen? ... Es wurde auch vom Gleichgewicht der Mächte gesprochen. Das sei eine politische Seite der Frage ... Sehr viel wurde geredet über die Macht Rußlands und über die Gefahr, die für England daraus entstünde, wenn Rußland die Länder am Bosporus okkupierte. Ach, was für ein Wahnwitz sei es, davon zu reden, Rußland werde kommen, um in England einzudringen! Rußland könnte kein Heer über seine eigenen Grenzen führen, ohne in Westeuropa eine Anleihe aufzunehmen ... Ein so armes Land, das - verglichen mit England - eigentlich nichts anderes sei als ein Haufen zusammengewürfelter Dörfer, ohne Kapital und ohne Hilfsmittel, könne niemals kommen, um uns oder Frankreich oder Amerika etwas anzuhaben ... England sei zehnmal mächtiger, als es je vorher gewesen, und weit mehr imstande, den Angriffen eines Landes wie Rußland Widerstand zu leisten."

Und nun verweilte Cobden dabei, wie unvergleichlich größer die Gefahren eines Krieges für England in seiner jetzigen Lage wären als in früheren Zeiten. Die industrielle Bevölkerung Englands sei sehr gewachsen. England sei viel abhängiger vom Export seiner Produkte und vom Import an Rohmaterial geworden. England besitze nicht länger das Industriemonopol. Die Aufhebung der Navigationsgesetze hätten England der Weltkonkurrenz nicht nur in der Schiffahrt, sondern auch in jeder andern Beziehung ausgesetzt.

"Kein Hafen würde mehr zu leiden haben als der von ihm vertretene, das gäbe er Herrn Blackett zu bedenken. Die Regierung hätte klug daran getan, nicht auf das Geschrei gedankenloser Menschen zu hören ... Den Willen der Regierung, die Unver- <284> letzlichkeit des Türkischen Reichs zu erhalten, tadle er nicht, denn das sei die ihr überlieferte traditionelle Politik ... Der heutigen Regierung werde es hoch angerechnet werden, so friedliebend gewesen zu sein, wie es die Bevölkerung ihr nur zu sein gestattete."

Richard Cobden war der echte Held des Dramas und teilte als solcher das Schicksal aller echten Helden - ein tragisches. Aber dann kam der falsche Held, der Nährvater aller Täuschungen, der Mann der eleganten Lüge und der höfischen Versprechungen, das Mundstück für all die tapferen Worte, die man ausruft, wenn man davonläuft: Lord Palmerston. Dieser alte erfahrene und ränkevolle Debattierer sah auf den ersten Blick, daß der Schuldige dem Urteilsspruch entgehen könnte, wenn er seinen Anwalt verleugnete. Er sah, daß das von allen Seiten angegriffene Ministerium den Spieß umdrehen konnte, wenn es sich in einem glänzenden Ausfall gegen den einzigen Menschen wendete, der gewagt hatte, es zu verteidigen, und wenn es die einzigen Gründe preisgab, die möglicherweise als Entschuldigung für seine Politik hätten gelten können. Nichts leichter, als Cobdens Widersprüche aufzuzeigen. Cobden hatte damit begonnen, seine vollste Übereinstimmung mit den früheren Rednern auszusprechen, und hatte damit geendet, daß er in jedem Punkt von ihnen abwich. Er hatte die Unverletzlichkeit der Türkei verteidigt und dann alles getan, um zu beweisen, daß sie eigentlich keine Verteidigung verdiene. Er, der Friedensapostel, hatte die Angriffe Rußlands gutgeheißen. Rußland sei schwach, aber ein Krieg mit Rußland würde für England unfehlbaren Ruin bedeuten. Rußland sei zwar nur ein Haufen zusammengewürfelter Dörfer, aber da Konstantinopel eine schönere Stadt als St. Petersburg sei, so sollte Rußland berechtigt sein, beide zu besitzen. Cobden war zwar Freihändler, zog aber das russische Schutzzollsystem dem türkischen Freihandel vor. Mochte die Türkei die von ihr importierten Waren selbst konsumieren oder nur den Kanal für ihre Durchfuhr nach andern Teilen Asiens bilden, war es für England gleichgültig, ob der freie Zugang zu ihr fortdauerte? Herr Cobden, der warme Verteidiger des Prinzips der Nichtintervention, wolle jetzt durch Parlamentsbeschlüsse die Geschicke der Mohammedaner, Griechen, Slawen und anderen Rassen des Türkischen Reichs bestimmen. Und nun übertrieb Lord Palmerston die Fortschritte, die die Türkei gemacht, und die Kräfte, die ihr jetzt zu Gebote stehen. "Die Türkei, es ist wahr, hat kein Polen und kein Tscherkessien." Da aber die Türkei so stark sei, so müsse sie es sich nach Lord Palmerston natürlich gefallen lassen, daß Rußland einige ihrer Provinzen besetzte. Ein starkes Reich kann alles aushalten. Und nun bewies Lord Palmerston Richard Cobden, daß auch nicht ein vernünftiger Grund dazu vorhanden war, so vorzugehen, wie Lord Palmerston und seine Kollegen es getan hatten, <285> und nachdem brausender Beifall seine Ausführungen gelohnt hatte, durfte der alte Gaukler sich mit der unverschämten und sich selbst widerlegenden Phrase auf seinen Platz begeben:

"Es gereicht mir zur Befriedigung, daß die Türkei in sich selbst die Elemente zum Leben und Gedeihen trägt, und ich glaube, daß die von Ihrer Majestät Regierung verfolgte Politik eine vernünftige ist, die den Beifall des Landes verdient und die weiterzuverfolgen die Pflicht jeder englischen Regierung sein wird." (Beifall.)

Palmerston war groß in seinem "bangen Trotz", wie Shakespeare es nennt. Er zeigte, nach den Worten von Sidney, "eine ängstliche Kühnheit, die beherzt das tun möchte, von dem sie weiß, daß sie nicht wisse, wie es tun".

Karl Marx