Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 195-203
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Karl Marx/Friedrich Engels

Russisch-türkische Schwierigkeiten -
Ausreden und Ausflüchte des britischen Kabinetts -
Nesselrodes letzte Note -
Die ostindische Frage

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3825 vom 25. Juli 1853]

<195> London, Dienstag, 12. Juli 1853

Die parlamentarische Farce vom vergangenen Donnerstag wurde am Freitag, dem 8. d.M., fortgesetzt und zu Ende geführt. Lord Palmerston verlangte nicht nur, daß Herr Layard seinen Antrag bis Montag vertage, sondern daß er ihn ganz zurückziehe. "Dem Montag sollte es so wie dem Freitag ergehen." Herr Bright ergriff die Gelegenheit, Lord Aberdeen zu seiner vorsichtigen Politik zu gratulieren und ihn im allgemeinen seines unbedingten Vertrauens zu versichern.

Der "Morning Advertiser" bemerkt hierzu:

"Wenn das Kabinett die Friedensgesellschaft selber wäre, so hätte es nicht mehr tun können, als der gute Aberdeen tat, um Rußland zu ermutigen, Frankreich zu entmutigen, die Türkei zu gefährden und England zu diskreditieren. Herrn Brights Rede sollte eine Art Manchester-Manifest zugunsten der 'Zitterer' <Spottname für Quäker, hier: im Sinne von Pazifisten> im Kabinett bedeuten."

Die Bemühungen der Minister, die beabsichtigte Interpellation Layards aus der Welt zu schaffen, entsprangen der wohlbegründeten Furcht, die inneren Zwistigkeiten im Kabinett der Öffentlichkeit nicht länger verheimlichen zu können. Die Türkei muß in Stücke zerfallen, damit die Koalition beisammenbleibt. Außer Lord Aberdeen sind noch die Minister Lord Clarendon, der Herzog von Argyll, Lord Granville, Herr Sidney Herbert, Herr Cardwell und der "radikale" Sir William Molesworth den russischen Ränken günstig gesinnt. Lord Aberdeen soll schon mit seiner Entlassung gedroht haben. Die "kraftvolle" Partei Palmerstons (civis Romanus sum) bedurfte nur eines solchen Vorwands, um nachzugeben. Man beschloß, an die Höfe <196> von Konstantinopel und St. Petersburg gleichlautende Noten zu schicken, worin empfohlen wird,

"daß die vom Zaren für die griechisch-orthodoxen Christen verlangten Privilegien auch allen anderen Christen in den türkischen Besitzungen zugesichert werden sollten, und zwar durch einen Garantievertrag, dessen Partner die Großmächte sein sollten."

Genau denselben Vorschlag hatte man jedoch dem Fürsten Menschikow schon am Abend vor seiner Abreise aus Konstantinopel gemacht, und er war, wie jedermann weiß, ohne Erfolg geblieben. Er ist daher geradezu lächerlich, von einer Wiederholung irgendein Resultat zu erwarten, um so mehr, da jetzt kein Zweifel mehr besteht, daß Rußland ausdrücklich den Abschluß eines Vertrages mit den Großmächten anstrebt, das heißt mit Österreich und Preußen, der auf keinen Widerstand mehr stößt. Graf Buol, der österreichische Ministerpräsident, ist der Schwager des Barons von Meyendorf, des russischen Gesandten, und handelt in völliger Übereinstimmung mit Rußland. An demselben Tage, wo die beiden Koalitionsparteien, die schläfrige und die "kraftvolle", die obenerwähnte Resolution faßten, veröffentlichte die "Patrie" folgendes

"Der neue österreichische Internuntius in Konstantinopel, Herr v. Bruck, debütierte damit, von der Pforte die Bezahlung von fünf Millionen Piaster als Indemnität und ihre Einwilligung zur Übergabe der Häfen Kleck und Suttorina zu verlangen. Diese Forderung wurde als eine Unterstützung Rußlands angesehen."

Das ist nicht die einzige Unterstützung, die Österreich den russischen Interessen in Konstantinopel angedeihen läßt. Man erinnert sich aus dem Jahre 1848, daß die Fürsten immer für ein "Mißverständnis" sorgten, wenn sie auf ihr Volk schießen wollten. Der Türkei gegenüber wird jetzt dieselbe Kriegslist angewandt. Der österreichische Konsul in Smyrna veranlaßte, daß ein Ungar aus einem englischen Kaffeehause gewaltsam an Bord eines österreichischen Schiffes verschleppt wurde; als die Emigranten diesen Gewaltakt damit beantworteten, daß sie einen österreichischen Offizier töteten und einen anderen verwundeten, verlangte Herr v. Bruck binnen 24 Stunden Satisfaktion von der Pforte. Gleichzeitig mit dieser Nachricht gibt die "Morning Post" vom Sonnabend ein Gerücht wieder, wonach die Österreicher in Bosnien einmarschiert seien. Als die Koalitionsminister gestern in den Sitzungen beider Häuser nach der Glaubwürdigkeit dieses Gerüchts befragt wurden, waren sie selbstverständlich "noch nicht informiert". Russell allein wagte die Vermutung, daß das Gerücht vielleicht bloß auf die Tatsache zurückzuführen sei, daß die Österreicher Truppen in Peterwardein zusammengezogen hätten. So erfüllt sich die Prophezeiung des Herrn von Tatischtschew <197> aus dem Jahre 1828, daß Österreich, sobald die Dinge erst zur Entscheidung kämen, gierig nach seinem Anteil an der Beute haschen würde.

Eine vom 26. vorigen Monats datierte Depesche aus Konstantinopel besagt:

"Da sich Gerüchte verbreiteten, daß die ganze russische Flotte Sewastopol verlassen habe und nach dem Bosporus steure, hat der Sultan bei den Gesandten von England und Frankreich angefragt, ob die vereinigten Flotten bereit seien, die Dardanellen zu passieren, falls die Russen vor dem Bosporus eine Demonstration unternehmen sollten. Beide antworteten bejahend. Ein türkischer Dampfer, der englische und französische Offiziere an Bord hat, wurde eben vom Bosporus nach dem Schwarzen Meer zur Rekognoszierung ausgesandt,"

Das erste, was die Russen nach ihrem Einmarsch in die Fürstentümer taten, war das Verbot der Veröffentlichung des vom Sultan erlassenen Fermans, der die Privilegien der Christen aller Art bestätigte, und die Unterdrückung einer deutschen, in Bukarest erscheinenden Zeitung, die es gewagt hatte, einen Artikel über die orientalische Frage zu veröffentlichen. Zugleich erpreßten sie von der türkischen Regierung die erste jährliche Tributzahlung, die bei ihrer früheren Okkupation der Moldau und Walachei 1848/49 durch Rußland festgesetzt worden war. Seit 1828 hat das russische Protektorat die Fürstentümer 150 Millionen Piaster gekostet, außer den ungeheuren Verlusten, die durch Plünderung und Verwüstung verursacht wurden. England trug die Kosten der Kriege Rußlands gegen Frankreich, Frankreich zahlte die Kosten des Krieges, den Rußland gegen Persien führte, Persien zahlte die Kosten des Krieges, den Rußland gegen die Türkei führte, die Türkei und England zahlten die Kosten des Krieges, den Rußland gegen Polen führte; Ungarn und die Donaufürstentümer müssen nun Rußlands Krieg gegen die Türkei bezahlen.

Das wichtigste Tagesereignis ist die neue Zirkularnote des Grafen Nesselrode aus St. Petersburg vom 20. Juni 1853. Er erklärt darin, daß die russischen Armeen die Donaufürstentümer nicht eher räumen werden, bis der Sultan allen Forderungen des Zaren nachgegeben und die englischen und französischen Flotten die türkischen Gewässer verlassen hätten. Diese Note klingt wie eine direkte Verhöhnung Englands und Frankreichs. In ihr heißt es:

"Die Position, welche die beiden Seemächte eingenommen haben, stellt eine maritime Besetzung dar, welche uns dazu berechtigt, das Gleichgewicht der gegenseitigen Situation durch Ergreifung einer militärischen Position herzustellen."

Man beachte, daß die Besikabai 150 Meilen von Konstantinopel entfernt ist. Der Zar beansprucht für sich das Recht, türkisches Territorium zu besetzen, verbietet aber gleichzeitig England und Frankreich, von neutralen <198> Gewässern ohne seine besondere Erlaubnis Besitz zu ergreifen. Er ist selber voll des Lobes über seine großmütige Nachsicht, mit der er der Pforte die Freiheit läßt, sich die Form zu wählen, wie sie auf ihre Souveränität verzichten will: "ob durch eine Konvention, einen Sened oder irgendeinen andern gegenseitigen Akt oder sogar nur durch die Unterzeichnung einer einfachen Note". Er ist überzeugt, daß das "unparteiische Europa" es begreifen werde, daß der Vertrag von Kainardschi, der Rußland das Recht gibt, eine einzige griechische Kapelle in Stambul zu beschützen, es eo ipso <eben dadurch> zum Rom des Orients mache. Er bedauert, daß der Westen den harmlosen Charakter eines russischen religiösen Protektorats in fremden Ländern nicht verstehe, und belegt seine Beflissenheit, die Unverletzlichkeit der Türkei zu erhalten, mit historischen Tatsachen. "Welch mäßigen Gebrauch hat er z.B. 1829 von dem Siege von Adrianopel gemacht", wo ihn nur der jämmerliche Zustand seiner Armee und die Drohung des englischen Admirals, mit oder ohne Erlaubnis jeden Küstenplatz am Schwarzen Meer zu bombardieren, daran hinderte, unmäßig zu sein, und wo er alles, was er erreichte, nur der "Langmut" der westlichen Kabinette und der perfiden Zerstörung der türkischen Flotte bei Navarino zu verdanken hatte.

"1833 habe er allein in Europa die Türkei vor einer unvermeidlichen Zerstücklung gerettet.

1833 schloß der Zar in dem bekannten Vertrag von Hunkiar Iskelessi ein Defensivbündnis mit der Türkei, das fremden Flotten verbat, sich Konstantinopel zu nähern, und das die Türkei nur deshalb vor der Zerstücklung rettete, damit sie Rußland ganz erhalten bliebe.

"1839 ergriff er bei den anderen Mächten die Initiative für Vorschläge, welche gemeinschaftlich ausgeführt, den Sultan davor bewahrt haben, seinen Thron einem neuen arabischen Reiche weichen zu sehen."

Das heißt, 1839 ließ er die anderen Mächte die Initiative zur Zerstörung der ägyptischen Flotte ergreifen und veranlaßte, daß der einzige Mann zur Ohnmacht verdammt wurde, der imstande gewesen wäre, aus der Türkei eine tödliche Gefahr für Rußland zu machen und einen "Paradeturban" durch einen wirklichen Kopf zu ersetzen

"Das Fundamentalprinzip der Politik unseres erhabenen Kaisers ist es immer gewesen, so lange als möglich den Status quo im Orient aufrechtzuerhalten."

Das ist richtig. Der Zar hat stets eifrig dafür gesorgt, daß die Auflösung des türkischen Staates sich ausschließlich unter russischer Vormundschaft vollziehe.

<199> Er muß zugegeben werden: Ein höhnischeres Schriftstück ist wohl bis zum heutigen Tage noch nie den Westmächten vom Osten her ins Gesicht geschleudert worden. Aber sein Verfasser ist Nesselrode, dessen Name nicht umsonst zugleich Nessel und Zuchtrute <Wortspiel: Nessel (deutsch), rod (englisch) = Rute> bedeutet. Fürwahr, es ist ein Dokument dafür, daß Europa sich unter die Zuchtrute der Konterrevolution beugt. Die Revolutionäre können dem Zaren zu diesem Meisterwerk gratulieren. Wenn dies der Rückzug Europas ist, so ist es kein einfacher Rückzug nach einer gewöhnlichen Niederlage, sondern ein Rückzug durch die Furcae Caudinae.

Aber während die englische Königin in diesem Augenblick russische Fürstinnen feiert, während die aufgeklärte englische Bourgeoisie und Aristokratie demütig zu Füßen des barbarischen Autokraten liegt, protestiert allein das englische Proletariat gegen die Unfähigkeit und die Würdelosigkeit der herrschenden Klassen. Am 7. Juli hielt die Manchesterschule eine große Friedensversammlung in der Odd-Fellows-Hall in Halifax ab. Crossley, Mitglied des Parlaments für Halifax, und all die anderen "großen Männer" der Schule waren speziell zu dieser Versammlung aus der "Stadt" <London> herbeigeeilt. Der Saal war überfüllt, und viele Tausende konnten keinen Einlaß finden. Ernest Jones (dessen Agitation in den Fabrikbezirken prächtige Fortschritte macht, wie man aus der großen Zahl der chartistischen Petitionen im Parlament und aus den Angriffen der provinzialen Bourgeoispresse entnehmen kann) war gerade in Durham. Die Chartisten von Halifax, wo Jones schon zweimal vorgeschlagen und durch Händeheben zum Kandidaten fürs Unterhaus erwählt worden ist, riefen ihn telegraphisch herbei, und er erschien gerade noch rechtzeitig in der Versammlung. Die Herren von der Manchesterschule glaubten sich schon ihres Sieges sicher und hofften, eine Resolution durchzubringen, die ihrem guten Aberdeen die Unterstützung der Fabrikbezirke zusichern sollte, als Ernest Jones sich erhob und ein Amendement einbrachte, das das Volk zum Krieg aufrief und in dem er erklärte, der Friede sei ein Verbrechen, solange nicht die Freiheit errungen. Eine heftige Diskussion fand statt, aber die Resolution von Ernest Jones siegte mit großer Majorität.

Die Artikel der Indienbill werden nacheinander angenommen; die Debatte hierzu weist kaum irgendwelche bemerkenswerten Züge auf, ausgenommen die Inkonsequenz der sogenannten Indienreformer. Da ist z.B. Mylord Jocelyn, Mitglied des Parlaments, der seine periodischen Enthüllungen indischer Übelstände und der Mißwirtschaft der Ostindischen Kompanie zu einer Art Lebensunterhalt gemacht hat. Was glauben Sie wohl, worauf sein <200> Antrag hinauslief? Auf eine Verlängerung der Charte der Ostindischen Kompanie auf zehn Jahre. Glücklicherweise hat er sich nur. allein damit bloßgestellt. Ein weiterer berufsmäßiger "Reformer" ist Herr Jos[eph] Hume, dem es während seiner langen parlamentarischen Laufbahn gelungen ist, die Opposition in eine besondere Form der Unterstützung des Kabinetts zu verwandeln. Er schlug vor, nicht die Anzahl der Direktoren der Ostindischen Kompanie von 24 auf 18 zu reduzieren. Das einzige vernünftige Amendement, dem jetzt zugestimmt wurde, war das des Herrn Bright, in der die von der Regierung ernannten Direktoren von der Qualifikation durch den Besitz von Ostindienaktien befreit werden, die von den durch den Aufsichtsrat gewählten Direktoren eingeführt worden war. Lesen Sie die von der Gesellschaft zugunsten von Reformen in Ostindien veröffentlichten Schriften, und Sie werden ein ähnliches Gefühl verspüren, als wenn Sie von einer einzigen großen Anklageschrift gegen Bonaparte hören, die von Legitimisten, Orleanisten, Blauen und Roten Republikanern und sogar enttäuschten Bonapartisten gemeinsam zusammengestellt wurde. Das einzige Verdienst dieser Schriften war bis jetzt, die Öffentlichkeit ganz allgemein auf die Zustände in Indien aufmerksam gemacht zu haben, und bei ihrer augenblicklichen Form eklektischer Opposition können sie nicht weiter gehen. Während sie z.B. einerseits das Treiben der englischen Aristokratie in Indien angreifen, protestieren sie andrerseits gegen die Vernichtung der indischen Aristokratie, d.h. der einheimischen Fürsten.

Nachdem die britischen Eindringlinge einmal indischen Boden betreten hatten und entschlossen waren, ihn zu behaupten, blieb kein anderer Weg, als die Macht der einheimischen Fürsten mit Gewalt oder durch Intrigen zu brechen. Da sich die Engländer ihnen gegenüber in einer ähnlichen Situation befanden wie die alten Römer in bezug auf ihre Verbündeten, folgten sie den Spuren römischer Politik. "Es war", so schreibt ein englischer Autor, "eine Methode, die Verbündeten zu mästen, wie wir Ochsen mästen, bis sie verschlungen werden können." Nachdem sie ihre Verbündeten nach dem Vorbild des alten Roms für sich eingenommen hatte, rechnete die Ostindische Kompanie mit ihnen auf die moderne Art der Change alley ab. Um sich ihrer Verpflichtungen zu entledigen, die sie der Kompanie gegenüber eingegangen waren, mußten die einheimischen Fürsten riesige Summen zu Wucherzinsen von Engländern bergen. Wenn ihre Notlage den höchsten Punkt erreicht hatte, wurde der Gläubiger unerbittlich, "die Schraube wurde angezogen", und die Fürsten waren gezwungen, entweder ihre Territorien "freiwillig" der Kompanie abzutreten oder einen Krieg zu beginnen; im ersten Falle werden sie zu Pensionären ihrer Usurpatoren; im andern Falle <201> werden sie als Verräter ihres Thrones beraubt. Im gegenwärtigen Zeitpunkt nehmen die einheimischen Fürstenstaaten eine Fläche von 699.961 Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 52.941.263 Seelen ein; aber das sind schon keine Verbündeten mehr, sondern auf Grund mannigfaltiger Bedingungen und unter den verschiedenartigen Formen des Subsidien- und des Schutzsystems nur die Vasallen der britischen Regierung. Diese Systeme haben eins gemeinsam: Sie verweigern gern den Eingeborenenstaaten das Recht auf selbständige Verteidigung, auf Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen und auf die Regelung von Streitfragen untereinander ohne Einmischung des Generalgouverneurs. Sie alle müssen einen Tribut zahlen, entweder in Bargeld oder in Form von Truppenkontingenten, die von britischen Offizieren befehligt werden. Die endgültige Eingliederung oder Annexion dieser Fürstenstaaten ist im Augenblick Thema einer heftigen Kontroverse zwischen den Reformern, die eine solche Annexion als Verbrechen verurteilen, und den Geschäftsleuten, die sie als Notwendigkeit rechtfertigen.

Meiner Meinung nach ist die Fragestellung selbst völlig ungenau. Was die einheimischen Fürstenstaaten betrifft, so haben sie tatsächlich in dem Augenblick zu bestehen aufgehört, als sie zu Vasallen der Kompanie wurden oder unter ihren Schutz gestellt wurden. Wenn man das Nationaleinkommen eines Landes unter zwei Regierungen aufteilt, lähmt man notwendigerweise die Hilfsquellen der einen und die Verwaltung von beiden. Unter dem gegenwärtigen System erliegen die einheimischen Fürstenstaaten einem doppelten Alpdruck: dem ihrer eignen Verwaltung und dem der Tribute und unmäßigen Militärdienstleistungen, die ihnen von der Kompanie auferlegt werden. Die Bedingungen, unter denen sie ihre scheinbare Unabhängigkeit aufrechterhalten dürfen, sind gleichzeitig die Bedingungen, die zu ihrem andauernden Verfall und zu einer völligen Unfähigkeit, ihre Lage zu verbessern, führen. Organische Schwäche ist das Grundgesetz ihres Daseins wie bei jedem Organismus, der nur existiert, weil man ihn duldet. Die Frage dreht sich also nicht um die Aufrechterhaltung der einheimischen Staaten, sondern der einheimischen Fürsten und ihrer Höfe. Und ist es nicht seltsam, daß dieselben Männer, die "den barbarischen Prunk der Krone und der Aristokratie Englands" verurteilen, heute Tränen vergießen über den Sturz indischer Nabobs, Radschas und Dschagirdare, die in der überwiegenden Mehrzahl sich nicht einmal ihres alten Geschlechts rühmen können, da sie im allgemeinen Usurpatoren jüngsten Datums sind, die durch englisches Intrigenspiel auf den Thron gebracht wurden! Auf der ganzen Welt gibt es keinen lächerlicheren, unsinnigeren und kindischeren Despotismus als den jener Schachsenans und Schachriars aus "Tausendundeiner Nacht". Der Herzog von <202> Wellington, Sir J[ohn] Malcolm, Sir Henry Russell, Lord Ellenborough, General Briggs und andere Autoritäten haben sich für die Erhaltung des Status quo ausgesprochen. Doch mit welcher Begründung? Weil die indischen Truppen unter englischem Kommando Beschäftigung in den kleinen Kriegsunternehmen gegen ihre eigenen Landsleute haben müssen, um zu verhindern, daß sie ihre Kraft gegen ihre europäischen Herren kehren; weil das Bestehen unabhängiger Staaten den englischen Truppen ab und zu Beschäftigung gibt; weil die Erbfürsten die unterwürfigsten Werkzeuge des englischen Despotismus sind und den Aufstieg jener kühnen militärischen Abenteurer hemmen, an denen Indien reich ist und immer reich sein wird; weil die unabhängigen Territorien einen Zufluchtsort für alle unzufriedenen und wagemutigen Geister des indischen Volkes bieten. Wenn ich all diese Argumente beiseite lasse, die so beredt davon zeugen, daß die einheimischen Fürsten die Pfeiler des heutigen scheußlichen englischen Herrschaftssystems und das größte Hindernis für den Fortschritt Indiens sind, komme ich auf Sir Thomas Munro und Lord Elphinstone zu sprechen, die zumindest Männer von ausgezeichneter Denkungsart und von wirklichem Mitgefühl für das indische Volk waren. Sie waren der Meinung, daß es ohne eine einheimische Aristokratie keine Lebenskraft in irgendeiner anderen Klasse der Gesellschaft geben kann und daß der Sturz jener Aristokratie ein ganzes Volk nicht erhöhen, sondern erniedrigen wird. Sie mögen recht haben, solange man in Betracht zieht, daß unter der unmittelbaren Herrschaft der Engländer die indische Bevölkerung systematisch von allen höheren Militär- und Zivilämtern ausgeschlossen wird. Wo es keine großen Männer auf Grund eigener Leistung geben kann, muß es große Männer auf Grund von Geburt geben, um einem unterworfenen Volk wenigstens etwas eigene Größe zu lassen. Dieser Ausschluß der einheimischen Bevölkerung von höheren Stellungen auf englischem Gebiet ist aber nur durch die Erhaltung der Erbfürsten in den sogenannten unabhängigen Territorien erreicht worden. Und eines dieser beiden Zugeständnisse mußte der Eingeborenenarmee gemacht werden, auf deren Stärke die gesamte britische Herrschaft in Indien beruht. Ich glaube, wir können der Versicherung des Herrn Campbell Glauben schenken, daß die einheimische indische Aristokratie am wenigsten dazu befähigt ist, höhere Stellen auszufüllen; daß es für alle neuen Erfordernisse notwendig ist, eine neue Klasse zu schaffen und daß "dies wegen der Auffassungsgabe und des Lernvermögens der niederen Klassen in Indien wie in keinem anderen Lande möglich ist".

Die einheimischen Fürsten selbst verschwinden schnell durch das Aussterben ihrer Geschlechter. Doch seit Beginn dieses Jahrhunderts hat die britische Regierung die Politik verfolgt, ihnen zu gestatten, Erben durch <203> Adoption zu schaffen, oder ihre frei gewordenen Herrschaftssitze mit Marionetten englischer Schöpfung zu besetzen. Der bekannte Generalgouverneur Lord Dalhousie war der erste, der offen gegen dieses System protestierte. Würde dem natürlichen Lauf der Dinge nicht künstlich Einhalt geboten, bedürfte es weder Kriege noch Geldausgaben, um die einheimischen Fürsten hinwegzufegen.

Was die auf Pension gesetzten Fürsten angeht, so sind die 2.468.969 Pfd.St., die ihnen für ihren Unterhalt von der britischen Regierung aus dem indischen Nationaleinkommen zugeteilt werden, eine äußerst schwere Bürde für ein Volk, das von Reis lebt und das der Mittel zur Befriedigung der notwendigsten Lebensbedürfnisse beraubt ist. Wenn diese Fürsten für irgend etwas gut sind, so dafür, ein Königtum in seiner tiefsten Stufe von Erniedrigung und Lächerlichkeit zur Schau zu stellen. Nehmen Sie z.B. den Großmogul <Mohammmed Bahadur Schah II.>, den Nachfahren Timur Tamerlans. Er erhält 120.000 Pfd.St. im Jahr. Seine Macht reicht nicht über die Mauern seines Palastes hinaus, in dem sich die königliche Idiotenbrut, sich selbst überlassen, wie die Kaninchen stark vermehrt. Sogar die Polizei in Delhi wird von Engländern gestellt und steht außerhalb seiner Kontrolle. Da sitzt er auf seinem Thron, ein verhutzeltes, gelbes altes Männchen, theatralisch aufgeputzt, in goldbestickter Kleidung wie die der Tanzmädchen von Hindustan. Bei gewissen Staatsaktionen stellt sich die mit Flitter behängte Marionette zur Schau, um die Herzen seiner "Untertanen" zu erfreuen. An seinen Empfangstagen müssen die Ausländer ein Eintrittsgeld in Form von Guineen zahlen wie bei irgendeinem anderen Gaukler, der sich öffentlich zur Schau stellt; während er seinerseits ihnen Turbane, Diamanten usw. als Geschenke überreicht. Wenn man sie allerdings näher betrachtet, entdeckt man, daß die königlichen Diamanten nichts weiter als gewöhnliche Glasstückchen sind, die grob bemalt und so plump wie möglich Edelsteine imitieren und so erbärmlich zusammengefügt sind, daß sie in der Hand wie Pfefferkuchen zerbrechen.

Wir müssen zugehen, daß die englischen Wucherer im Verein mit der englischen Aristokratie sich auf die Kunst der Erniedrigung königlicher Hoheiten verstehen, wenn sie sie im Mutterlande auf die Nichtigkeit des Konstitutionalismus und außerhalb auf das abgeschlossene Dasein der Etikette beschränken. Und dennoch sind die Radikalen gerade über dieses Schauspiel erbittert!

Karl Marx