Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 3-12
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Karl Marx/Friedrich Engels

Britische Politik -
Disraeli -
Die Flüchtlinge -
Mazzini in London -
Türkei

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3736 vom 7. April 1853]

<3> London, Dienstag, 22. März 1853

In der gegenwärtigen Geschichte der Parteien ist das wichtigste Ereignis die Absetzung Disraelis als Führer der "großen konservativen" Minorität. Wie durchgesickert ist, hatte Disraeli selbst Anstalten getroffen, seine früheren Verbündeten acht oder neun Wochen vor Auflösung des Tory-Kabinetts über Bord zu werfen und nahm von seinem festen Vorsatz nur Abstand auf dringendes Ansuchen von Lord Derby. Nun wurde umgekehrt er selbst verabschiedet und in aller Form von Sir John Pakington abgelöst, einer zuverlässigen Persönlichkeit, vorsichtig, nicht ganz ohne administrative Fähigkeiten, aber ein im übrigen trister Mensch; die Inkarnation der altersschwachen Vorurteile und überlebten Gefühle der alten englischen Squireocracy <Landaristokratie>. Dieser Wechsel in der Führerschaft läuft auf eine vollständige und wahrscheinlich endgültige Umbildung der Tory-Partei hinaus. - Disraeli kann sich selbst zu seiner Emanzipation von diesen landbesitzenden Schaumschlägern gratulieren. Was auch immer unsere Meinung von dem Manne sein mag, von dem behauptet wird, er verachte die Aristokratie, hasse die Bourgeoisie und liebe die Menschen nicht: Er ist doch fraglos das fähigste Mitglied des heutigen Parlaments, und die Geschmeidigkeit seines Charakters setzt ihn um so besser in den Stand, sich den wechselnden Bedürfnissen der Gesellschaft anzupassen.

<4> Was die Flüchtlingsfrage betrifft, so berichtete ich in meinem letzten Artikel daß nach Lord Palmerstons Rede im Unterhaus die österreichischen Blätter behaupteten, es sei zwecklos, von einem Kabinett Abhilfe zu verlangen, das dem verderblichen Einfluß Palmerstons erlegen ist. Kaum waren jedoch die Äußerungen Aberdeens im Oberhaus nach Wien telegraphiert worden, als sich die Lage der Dinge erneut änderte. Die gleichen Blätter behaupten nun, daß "Österreich Vertrauen in die Hochherzigkeit des englischen Kabinetts hat", und die halbamtliche "Oesterreichische Correspondenz" veröffentlicht folgende Mitteilung ihres Pariser Korrespondenten:

"Lord Cowley erklärte anläßlich seiner Rückkehr nach Paris dem Kaiser der Franzosen, daß die diplomatischen Vertreter Englands an den Höfen der nördlichen Länder formal beauftragt worden sind, alle Anstrengungen zu machen, um die Nordmächte davon abzuhalten, eine gemeinsame Note an die britische Regierung zu richten und, als Begründung einer solchen Abstention, nachdrücklich geltend zu machen, daß die britische Regierung um so besser in den Stand versetzt würde, der Forderung jener Mächte nachzukommen, je mehr sie in den Augen ganz Englands den Anschein wahren könne, frei und unabhängig in der Angelegenheit zu handeln ...

Der britische Botschafter, Lord Cowley, bestürmte den Kaiser der Franzosen, dem britischen Kabinett unbedingtes Vertrauen entgegenzubringen, um so mehr, da es dem Kaiser jederzeit freistände, falls dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt werde, Schritte zu unternehmen, die er für richtig halte ... Der Kaiser der Franzosen, der sich selbst volle Handlungsfreiheit für die Zukunft vorbehält, wurde dazu veranlaßt, die Aufrichtigkeit des britischen Kabinetts auf die Probe zu stellen, und er bemüht sich nun, die anderen Mächte zu überreden, seinem Beispiel zu folgen."

Sie sehen, was von "ce cher Aberdeen" <"diesem teuren Abedeen>, wie Louis-Philippe ihn zu nennen pflegte, erwartet wird und welche Versprechungen er gemacht haben muß. Diesen Versprechungen sind wirklich schon Taten gefolgt. Vergangene Woche stellte die englische Polizei eine Liste der Flüchtlinge des europäischen Kontinents zusammen, die in London wohnen. Mehrere Kriminalbeamte in Zivil gingen von Platz zu Platz, von Straße zu Straße und von Haus zu Haus, wobei sie Notizen über die Personalien der Flüchtlinge machten; in der Mehrzahl der Fälle wandten sie sich an die Schankwirte der Nachbarschaft, aber in einigen Fällen drangen sie unter dem Vorwand, daß sie Verbrecher verfolgen, direkt in die Wohnungen einiger Emigranten ein und durchstöberten deren Papiere.

Während die Polizei des europäischen Kontinents vergeblich hinter Mazzini herjagt, während in Nürnberg die Polizeibehörde angeordnet hat, <5> die Zugänge zu schließen ("Die Nürnberger henken keinen, sie hätten ihn denn" lautet ein altes deutsches Sprichwort), während die englische Presse Berichte über Berichte über seinen vermutlichen Aufenthalt bringt, war Mazzini in den letzten Tagen gesund und munter in London.

Nachdem Fürst Menschikow über die in den Donaufürstentümern stationierten russischen Truppen Heerschau gehalten und die Armee und Flotte bei Sewastopol inspiziert hatte, wo auf seinen Befehl und in seiner Anwesenheit Manöver stattfanden, die in der Aus- und Einschiffung von Truppen bestanden, zog er am 28. Februar in höchst theatralischer Weise in Konstantinopel ein; sein Gefolge bestand aus zwölf Personen, darunter der Admiral des russischen Schwarzmeergeschwaders <W. A. Kornilow>, ein Divisionsgeneral <A. A. Nepokoitschizki>, mehrere Stabsoffiziere und Herr Nesselrode junior als Botschaftssekretär. Ihm wurde von seiten der griechischen und russischen Einwohner ein solcher Empfang zuteil, als wäre er der rechtgläubige Zar selbst, der gekommen war, um "Zarigrad" dem wahren Glauben wiederzugeben. Es erregte hier in London und in Paris die größte Sensation, als man erfuhr, daß Fürst Menschikow, nicht zufrieden mit der Entlassung Fuad Efendis, vom Sultan noch gefordert hatte, er möge dem russischen Kaiser nicht nur das Protektorat über sämtliche Christen in der Türkei zuerkennen, sondern auch das Recht, den griechischen Patriarchen zu ernennen; daß der Sultan den Schutz Frankreichs und Englands angerufen habe, daß Oberst Rose, der britische Geschäftsträger, den Dampfer "Wasp" eiligst nach Malta gesandt habe, um die sofortige Anwesenheit der englischen Flotte im Archipelagus zu fordern, und daß russische Schiffe bei Kilia, nahe den Dardanellen, Anker geworfen hatten. Der Pariser "Moniteur" teilt mit, das französische Geschwader in Toulon sei in die griechischen Gewässer beordert worden. Admiral Dundas ist jedoch noch in Malta. Aus all dem geht hervor, daß die orientalische Frage wieder einmal auf der europäischen "ordre du jour" <"Tagesordnung"> steht, eine Tatsache, die niemand überraschen kann, der mit der Geschichte vertraut ist.

Immer wenn der revolutionäre Sturmwind für einen Augenblick sich gelegt hat, kann man sicher sein, eine ständig wiederkehrende Frage auftauchen zu sehen: die ewige "Orientalische Frage". So war's, als die Stürme der ersten französischen Revolution vorübergebraust waren und Napoleon und Alexander von Rußland nach dem Tilsiter Frieden den ganzen europäischen Kontinent unter sich geteilt hatten; da machte sich Alexander die kurze Stille zunutze, ließ eine Armee in die Türkei einmarschieren, um jenen Elementen "behilflich zu sein", die das zerfallende Reich von innen aus- <6> höhlten. Dann wieder, kaum waren die revolutionären Bewegungen des westlichen Europas durch die Kongresse von Laibach und Verona unterdrückt worden, da führte Nikolaus, der Nachfolger Alexanders, einen neuen Schlag gegen die Türkei. Einige Jahre später, als die Julirevolution mit den sie begleitenden Aufständen in Polen, Italien und Belgien vorüber war, und Europa in der Form, die es 1831 erhalten, anscheinend nicht mehr mit inneren Stürmen zu rechnen brauchte, war die orientalische Frage 1840 wieder nahe daran, die "Großmächte" in einen allgemeinen Krieg zu verwickeln. Und nun, da die Kurzsichtigkeit der herrschenden Pygmäen sich stolz damit brüstet, Europa glücklich von den Gefahren der Anarchie und der Revolution befreit zu haben, da taucht sie wieder auf, die immer noch ungelöste Frage, die nie aufhörende Schwierigkeit: Was fangen wir mit der Türkei an?

Die Türkei ist der wunde Punkt des europäischen Legitimismus. Die Impotenz des legitimistischen, monarchischen Regierungssystems findet seit der ersten französischen Revolution seinen Ausdruck in dem einen Satz: Aufrechterhaltung des Status quo. In dieser allgemeinen Übereinstimmung, die Dinge so zu belassen, wie sie von selbst oder durch Zufall geworden sind, liegt ein testimonium paupertatis <Armutszeugnis>, ein Eingeständnis der völligen Unfähigkeit der herrschenden Mächte, irgend etwas für den Fortschritt oder die Zivilisation zu tun. Napoleon konnte in einem Augenblick über einen ganzen Kontinent verfügen und wußte wahrlich in einer Weise darüber zu verfügen, die Genie und Zielstrebigkeit verriet. Die ganze "kollektive Weisheit" der Vertreter des europäischen Legitimismus, die sich auf dem Wiener Kongreß versammelten, brauchte mehrere Jahre, um dasselbe zu leisten; man geriet sich in die Haare darüber, machte ein klägliches Durcheinander daraus und fand das alles schließlich so todlangweilig, daß man die Lust verlor und seither nie mehr versuchte, Europa zu teilen. Myrmidonen der Mittelmäßigkeit, wie Béranger sie nennt, ohne historische Kenntnisse oder Einsicht in die Tatsachen, ohne Ideen, ohne Initiative, vergöttern sie den Status quo, den sie selbst zusammengepfuscht haben, in dem vollen Bewußtsein der Stümperhaftigkeit ihres Machwerks.

Doch die Türkei bleibt ebensowenig stehen wie die übrige Welt; und gerade dann, wenn es der reaktionären Partei gelungen ist, den von ihr so genannten Status quo ante <früheren Zustand> im zivilisierten Europa wiederherzustellen, entdeckt man, daß sich inzwischen in der Türkei der Status quo sehr verändert hat, daß neue Fragen, neue Beziehungen, neue Interessen aufgetaucht sind und <7> daß die armen Diplomaten dort von neuem beginnen müssen, wo sie vor ungefähr acht oder zehn Jahren durch ein allgemeines Erdbeben unterbrochen wurden. Den Status quo in der Türkei erhalten! Ebensogut könnte man versuchen, den Kadaver eines toten Pferdes in einem bestimmten Stadium der Fäulnis zu erhalten, in dem er sich befindet, ehe die vollständige Verwesung erfolgt. Die Türkei verfault und wird immer mehr verfaulen, solange das jetzige System des "europäischen Gleichgewichts" und die Aufrechterhaltung des Status quo andauern. Und trotz aller Kongresse, Protokolle und Ultimaten wird sie ihren alljährlichen Anteil an den diplomatischen Schwierigkeiten und internationalen Wirrnissen liefern, ebenso wie jeder andere verwesende Körper die Nachbarschaft reichlich mit Kohlenwasserstoff und arideren wohlriechenden Gasen versieht.

Sehen wir uns einmal an, um was es geht. Die Türkei besteht aus drei gänzlich verschiedenen Teilen: den afrikanischen Vasallenstaaten, Ägypten und Tunis, der asiatischen Türkei und der europäischen Türkei. Die afrikanischen Besitzungen, von denen allein Ägypten als dem Sultan wirklich untertan betrachtet werden kann, wollen wir einstweilen aus dem Spiele lassen. Ägypten jedoch gehört mehr als irgend jemand anderem den Engländern; es wird und muß notwendigerweise ihnen bei einer künftigen Teilung der Türkei zufallen. In der asiatischen Türkei ist der Sitz aller Kraft, die diesem Reiche noch innewohnt. Kleinasien und Armenien, wo vierhundert Jahre lang die Türken hauptsächlich wohnten, bilden das Reservoir, aus dem die türkischen Armeen gezogen wurden, angefangen mit denen, die die Wälle Wiens bedrohten, bis zu jenen, die von Diebitschs nicht gerade geschickten Manövern bei Kulewtscha zerstreut wurden. Die asiatische Türkei bildet, obgleich sie dünn bevölkert ist, dennoch eine zu geschlossene Masse fanatischer Muselmanen türkischer Nationalität, um gegenwärtig zu irgendwelchen Versuchen, die Türkei zu erobern, aufzumuntern. Und tatsächlich werden bei Erörterungen der "orientalischen Frage" stets von diesen Gebieten nur die beiden Landstriche Palästinä und die christlichen Täler des Libanon in Betracht gezogen.

Der wirklich strittige Punkt ist immer die europäische Türkei, die große Halbinsel südlich der Save und der Donau. Dieses herrliche Gebiet ist so unglücklich, von einem Konglomerat der verschiedensten Rassen und Nationalitäten bewohnt zu werden, von denen man schwer sagen kann, welche von ihnen die für Zivilisation und Fortschritt am wenigsten befähigte ist. Zwölf Millionen Slawen, Griechen, Walachen und Arnauten <türkische Bezeichnung für Albaner> werden von <8> einer Million Türken in Untertänigkeit gehalten, und bis vor kurzem schien es zweifelhaft, ob nicht unter all diesen verschiedenen Rassen die Türken die geeignetsten seien, die Oberherrschaft zu behaupten, die bei einer so gemischten Bevölkerung nur einer dieser Nationalitäten zufallen konnte. Doch wenn wir sehen, wie jämmerlich alle Anläufe zur Zivilisation seitens der türkischen Regierung scheiterten, wie der Fanatismus des Islam, der sich hauptsächlich auf den türkischen Mob einiger großer Städte stützt, sich die Hilfe Österreichs und Rußlands stets nur zunutze gemacht hatte, um erneut an die Macht zu kommen und jeden etwaigen Fortschritt wieder zu vernichten; wenn wir sehen, wie die Zentral-, d.h. die türkische, Regierung Jahr für Jahr durch Aufstände in den christlichen Provinzen geschwächt wird, von denen keiner, dank der Schwäche der Pforte und der Intervention der benachbarten Staaten, ganz erfolglos bleibt; wenn wir schließlich sehen, wie Griechenland seine Unabhängigkeit erringt, Teile Armeniens von Rußland erobert werden, die Moldau, die Walachei und Serbien nacheinander unter das Protektorat Rußlands kommen, dann werden wir zugeben müssen, daß die Anwesenheit der Türken in Europa ein ernsthaftes Hindernis für die Entwicklung der Ressourcen der thrazisch-illyrischen Halbinsel ist.

Wir können die Türken schwerlich als die herrschende Klasse in der Türkei bezeichnen, da die Beziehungen der verschiedenen Gesellschaftsklassen daselbst ebenso verwirrte sind wie die der verschiedenen Rassen. Der Türke ist, je nach Umständen und Örtlichkeit, Arbeiter, Landmann, kleiner Pächter, Handelsmann, feudaler Gutsbesitzer in dem niedersten und barbarischsten Stadium des Feudalismus, Zivilbeamter oder Soldat; aber welche soziale Stellung er auch einnehmen mag, er gehört der bevorrechteten Religion und Nation an - er allein hat das Recht, Waffen zu tragen, und der höchstgestellte Christ muß dem niedrigsten Moslem den Weg freigeben, wenn er ihm begegnet. In Bosnien und der Herzegowina ist der Adel slawischer Abstammung zum Islam übergetreten, während die Masse des Volkes Rajahs, d.h. Christen, geblieben sind. In dieser Provinz sind also der herrschende Glaube und die herrschende Klasse identisch, wie denn auch der bosnische Moslem auf einer Stufe mit seinem Glaubensgenossen türkischer Abstammung steht.

Die Hauptstütze der türkischen Bevölkerung in Europa ist - abgesehen von der stets bereiten Reserve in Asien - der Mob Konstantinopels und einiger anderer großer Städte. Er ist vorwiegend türkischer Abkunft, und obgleich er seinen Unterhalt hauptsächlich durch die Beschäftigung bei christlichen Kapitalisten verdient, hält er doch eifersüchtig an der eingebildeten Überlegenheit und an der tatsächlichen Straflosigkeit für alle Exzesse fest, die ihm der privilegierte Islam gegenüber den Christen verleiht. Es ist <9> wohl bekannt, daß dieser Mob bei jedem wichtigen Coup d'état durch Bestechung und Schmeichelei gewonnen werden muß. Dieser Mob allein ist es, der, abgesehen von einigen kolonisierten Distrikten, die Hauptmasse der türkischen Bevölkerung in Europa bildet. Und sicherlich wird sich früher oder später die absolute Notwendigkeit herausstellen, einen der schönsten Teile des europäischen Kontinents von der Herrschaft eines Mobs zu befreien, mit dem verglichen der Mob des römischen Kaiserreichs eine Versammlung von Weisen und Helden war.

Unter den anderen Nationalitäten können wir die Arnauten mit wenigen Worten abtun; sie sind ein abgehärtetes, ursprüngliches Gebirgsvolk, das das gegen die Adria abfallende Land bewohnt, seine eigene Sprache spricht, die aber doch, wie es scheint, dem großen indogermanischen Sprachstamm angehört. Sie sind teils griechische Christen, teils Moslems, und nach allem, was wir von ihnen wissen, noch sehr wenig für die Zivilisation vorbereitet. Ihre räuberischen Gewohnheiten werden jede Regierung eines Nachbarlandes zwingen, sie in strengster militärischer Unterwerfung zu halten, bis der industrielle Fortschritt in den umgehenden Gebieten ihnen Beschäftigung als Holzhauer oder Wasserschöpfer geben wird, geradeso wie es bei den Gallegos in Spanien und anderen Gebirgsbewohnern der Fall war.

Die Walachen oder Dako-Romanen, die Hauptbewohner des Landes zwischen der unteren Donau und dem Dnestr, sind eine sehr gemischte Bevölkerung, die der griechisch-orthodoxen Kirche angehört und eine vom Lateinischen abstammende, dem Italienischen in vieler Hinsicht ähnliche Sprache spricht. Von ihnen sind die Bewohner Transsilvaniens und der Bukowina österreichische Untertanen, die Bewohner Bessarabiens sind Rußland untertan; die Bewohner der Moldau und der Walachei, der beiden einzigen Fürstentümer, wo die dako-romanische Rasse eine politische Existenz errungen hat, haben ihre eigenen Fürsten, die der nominellen Suzeränität der Pforte unterstehen und de facto der Oberherrschaft Rußlands. Die transsilvanischen Walachen machten während des ungarischen Kriegs viel von sich reden. Sie standen bisher unter dem Feudaljoch der ungarischen Landmagnaten, die - nach österreichischem System - gleichzeitig der Regierung als Werkzeuge der Unterdrückung und Ausplünderung dienten. Diese brutalisierte Masse war auf ähnliche Weise wie die ruthenischen Leibeigenen von Galizien 1846 von den Österreichern mit Versprechungen und durch Bestechungen gewonnen worden; und so begannen die Walachen jenen Zerstörungskrieg, der aus Transsilvanien eine Wüste machte. Die Dako-Romanen <10> der türkischen Fürstentümer haben wenigstens einen eingeborenen Adel und politische Institutionen, und trotz aller Anstrengungen Rußlands ist der revolutionäre Geist bei ihnen durchgedrungen, wie der Aufstand von 1848 zur Genüge bewies. Zweifellos müssen die Bedrückungen und Erpressungen, denen sie während der russischen Okkupation seit 1848 ausgesetzt waren, diesen Geist in ihnen noch mehr genährt haben, trotz des Bandes der gemeinsamen Religion und des zarisch-popischen Aberglaubens, mit dem sie bis jetzt auf das kaiserliche Haupt der griechischen Kirche als auf ihren natürlichen Beschützer geblickt hatten. Und wenn dem wirklich so ist, dann kann die walachische Nationalität einmal eine hervorragende Rolle bei der endgültigen Entscheidung über jene in Frage kommenden Gebiete spielen.

Die Griechen in der Türkei sind meist slawischer Abkunft, haben aber die neugriechische Sprache angenommen; tatsächlich wird allgemein zugegeben, daß, abgesehen von einigen adeligen Familien in Konstantinopel und Trapezunt, man selbst in Griechenland sehr wenig rein hellenisches Blut finden würde. Die Griechen stellen neben den Juden die Hauptmasse der Handelsleute in den Seehäfen und vielen Binnenstädten. In manchen Bezirken sind sie auch Ackerbauern. Aber nirgends, mit Ausnahme in Thessalien und vielleicht im Epirus, spielen sie weder ihrer Zahl, noch ihrer Dichtigkeit, noch ihrem nationalen Bewußtsein nach als Nation irgendeine politische Rolle. Der Einfluß, den einige griechische adelige Familien in Konstantinopel als Dragomanen (Übersetzer) hatten, nimmt rasch ab, seit Türken in Europa Erziehung genießen und seit europäische Gesandtschaften türkisch sprechende Attachés haben.

Wir kommen jetzt zu der Rasse, welche die große Masse der Bevölkerung bildet und deren Blut überall dort überwiegt, wo es zu einer Rassenvermischung gekommen ist. Ja, man kann sagen, daß sie den Hauptstamm der christlichen Bevölkerung von Morea bis zur Donau und vom Schwarzen Meer bis zu den arnautischen Bergen bildet. Diese Rasse ist die slawische, und zwar besonders jener Zweig derselben, der unter dem Namen des illyrischen (Ilirski) oder südslawischen (Jugoslavenski) zusammengefaßt wird. Nach den Westslawen (Polen und Böhmen) und den Ostslawen (Russen) bilden sie den dritten Zweig jener zahlreichen slawischen Familie, die in den letzten zwölf Jahrhunderten den Osten Europas bewohnte. Diese Südslawen bewohnen nicht nur den größten Teil der Türkei, sondern auch Dalmatien, Kroatien, Slawonien und den Süden Ungarns. Sie sprechen alle dieselbe Sprache, die der russischen sehr verwandt und für westliche Ohren die bei weitem musikalischste aller slawischen Sprachen ist. Die Kroaten und ein Teil der Dalmatiner sind römisch-katholisch; alle übrigen gehören der <11> griechisch-orthodoxen Kirche an. Die Römisch-Katholischen schreiben das lateinische Alphabet, aber die Anhänger der griechischen Kirche schreiben in kyrillischer Schrift, die auch in der russischen und altslawischen oder Kirchensprache angewendet wird. Dieser Umstand trug neben der Verschiedenheit der Konfessionen dazu bei, jegliche nationale Entwicklung im ganzen südslawischen Gebiet zu verzögern. Ein Bewohner Belgrads mag nicht imstande sein, ein in Agram oder Becse <serbische Bezeichnung für Wien> gedrucktes Buch zu lesen; ja, er wird sich vielleicht sogar weigern, es in die Hand zu nehmen, wegen des darin gebrauchten "ketzerischen" Alphabets und einer ebensolchen Orthographie. Aber es wird ihm gar nicht schwer fallen, ein in Moskau in russischer Sprache gedrucktes Buch zu lesen und zu verstehen, da beide Sprachen - besonders in dem altslawischen etymologischen System der Orthographie - einander sehr ähnlich sind, und weil dies Buch mit dem "orthodoxen" (prawoslawni) Alphabet gedruckt ist. Die Masse der Slawen griechisch-orthodoxen Glaubens will ihre Bibeln, Liturgien und Gebetbücher nicht einmal im eigenen Lande gedruckt haben, da sie überzeugt ist, daß allem, was im heiligen Moskau oder in der kaiserlichen Druckerei in St. Petersburg gedruckt ist, eine besondere Richtigkeit und Orthodoxie und ein Geruch von Heiligkeit anhaftet. Trotz aller panslawistischen Anstrengungen der Agramer oder Prager Enthusiasten hat der Serbe, der Bulgare, der bosnische Rajah, der slawische Bauer aus Mazedonien und Thrazien mehr nationale Sympathie, mehr Berührungspunkte, mehr Mittel des geistigen Verkehrs mit dem Russen als mit dem römisch-katholischen Südslawen, der dieselbe Sprache spricht. Was immer geschehen mag, er erwartet von St. Petersburg seinen Messias, der ihn von allem Übel erlöst; und wenn er Konstantinopel sein Zarigrad, seine Kaiserstadt nennt, so tut er dies ebenso in Erwartung des orthodoxen Zaren, der da vom Norden kommt und in der Stadt seinen Einzug hält, um sie dem wahren Glauben wiederzugeben, wie ein anderer orthodoxer Zar, der nach der Überlieferung in Konstantinopel herrschte, ehe die Türken in das Land einfielen.

In dem größeren Teile der Türkei sind die Slawen zwar der direkten Herrschaft der Türken untertan, doch wählen sie ihre lokalen Behörden selbst; mancherorts (in Bosnien) hat man sie zu dem Glauben ihrer Eroberer bekehrt. Nur in zwei Gebieten der Türkei hat sich die slawische Rasse ihr politisches Leben erhalten oder erobert. Eins davon ist Serbien, das Tal der Morawa, eine Provinz mit scharf gezogenen natürlichen Grenzlinien, die vor sechshundert Jahren eine hervorragende Rolle in der Geschichte dieser <12> Regionen spielte. Lange Zeit von den Türken unterjocht, erhielten die Serben durch den russischen Krieg von 1806 die Möglichkeit einer selbständigen Existenz, wenn auch unter türkischer Oberherrschaft. Seitdem ist Serbien immer unter dem unmittelbaren russischen Protektorat verblieben. Doch, ebenso wie in der Moldau und der Walachei, hat diese politische Selbständigkeit neue Bedürfnisse gezeitigt und Serbien einen größeren Verkehr mit dem westlichen Europa aufgezwungen Die Zivilisation begann Wurzel zu fassen, der Handel dehnte sich aus, neue Ideen entstanden, und so finden wir inmitten der Hochburg der russischen Machtsphäre, im slawischen, orthodoxen Serbien, eine antirussische Fortschrittspartei (natürlich sehr bescheiden in ihren Reformbestrebungen), deren Haupt der Ex-Finanzminister Garaschanin ist.

Sollte die griechisch-slawische Bevölkerung jemals zur Herrschaft in dem Lande kommen, das sie bewohnt und in dem sie Dreiviertel der Gesamtbevölkerung ausmacht (7 Millionen), dann gibt es keinen Zweifel daran, daß dieselben Bedürfnisse nach und nach in ihrer Mitte zum Aufkommen einer antirussischen fortschrittlichen Partei führen würden, was bisher stets dann eintrat, wenn ein Teil dieser Bevölkerung halb-unabhängig von der Türkei geworden war.

Montenegro ist kein fruchtbares Tal mit verhältnismäßig großen Städten, sondern ein unfruchtbares, schwer zugängliches Bergland. Hier haben sich Räuberbanden eingenistet, welche die Ebenen brandschatzen und die Beute in ihren Bergfestungen aufhäufen. Diese romantischen, aber ziemlich rohen Herren sind schon lange eine Plage für Europa, aber es entspricht ganz der Politik Rußlands und Österreichs, daß sie das Recht der Bewohner der schwarzen Berge verteidigen, Dörfer niederzubrennen, die Einwohner zu ermorden und das Vieh fortzuführen.

Karl Marx