Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 535-540

Karl Marx

Parlamentsdebatten -
Der Klerus und der Kampf um den Zehnstundentag -
Hungertod

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3716 vom 15. März 1853]

<535> London, Freitag, 25. Februar 1853

Die Parlamentsdebatten bieten in dieser Woche nur wenig Interessantes. Am 22. beantragte Mr. Spooner im Unterhaus die Aufhebung der Subvention der katholischen Priesterschule in Maynooth, und Mr. Scholefield brachte das Amendement ein,

"alle jetzt bestehenden Verfügungen zurückzuziehen, die den Staat mit Ausgaben für kirchliche oder religiöse Zwecke irgendwelcher Art belasten".

Der Antrag Spooners wurde mit 192 gegen 162 Stimmen abgelehnt. Scholefields Amendement kommt erst am Mittwoch zur Verhandlung; es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß es überhaupt zurückgezogen wird. Die einzige bemerkenswerte Ausführung in der Maynooth-Debatte kam aus dem Munde Duffys von der "irischen Brigade". Er meinte,

"es sei nicht völlig unmöglich, daß der Präsident der Vereinigten Staaten oder der neue Kaiser der Franzosen sich freuen würden, die Beziehungen dieser Länder mit der irischen Geistlichkeit wiederaufzunehmen".

In der gestrigen Nachtsitzung brachte Lord John Russell seinen Antrag auf "Beseitigung einiger gesetzlicher Benachteiligungen der jüdischen Untertanen Ihrer Majestät" ein, der mit 29 Stimmen Majorität angenommen wurde. So hat das Unterhaus diese Frage aufs neue entschieden; das Oberhaus wird aber zweifellos die Entscheidung wieder in Frage stellen.

Der Ausschluß der Juden aus dem Unterhaus ist unzweifelhaft eine absurde Anomalie, da ja doch der Geist des Wuchers so lange schon im britischen Parlament den Vorsitz geführt hat und die Juden ohnehin schon die Wählbarkeit zu allen Ämtern des staatlichen Gemeinwesens erlangt haben. <536> Es ist aber genauso charakteristisch für den Mann und für seine Zeit, daß Finality-John statt der versprochenen Reformbill, die die Benachteiligung der Masse des englischen Volkes an der Wahlurne beseitigen sollte, nur eine Bill einbringt, die ausschließlich der Beseitigung der Nichtwählbarkeit des Barons Lionel de Rothschild dienen soll. Wie ungemein gleichgültig dem großen Publikum diese Angelegenheit ist, geht daraus hervor, daß auch nicht aus einem Orte Großbritanniens eine Petition zugunsten der Zulassung der Juden im Parlament eingebracht worden ist. Das ganze Geheimnis dieser schmählichen Reformposse wurde durch die Rede des jetzigen Sir Robert Peel enthüllt.

"Eigentlich beschäftigt sich das Haus nur mit einer Privatangelegenheit des edlen Lords." (Lauter Beifall.) "Der edle Lord läßt London durch einen Juden vertreten" (Beifall) "und hat ein Gelöbnis getan, alljährlich einen Antrag zugunsten der Juden einzubringen." (Hört!) "Ohne Zweifel sei Baron Rothschild ein reicher Mann, das gäbe ihm jedoch durchaus kein Anrecht auf besondere Bevorzugung, um so mehr, wenn man bedenkt, auf welche Art sich sein Reichtum angehäuft hat." (Lautes Hört! hört! und Oh! oh! von den Bänken der Regierungsparteien.) "Erst gestern habe er gelesen, daß das Haus Rothschild sich herbeigelassen habe, Griechenland unter beträchtlichen Garantien und zu einem Zinssatz von neun Prozent eine Anleihe zu gewähren." (Hört!) "Kein Wunder, daß bei solchen Zinssätzen das Haus Rothschild reich ist." (Hört!) "Der Handelsminister habe von einer Knebelung der Presse gesprochen. Fürwahr, niemand habe so viel getan, um die Freiheit in Europa zu knechten, wie das Haus Rothschild" (Hört, hört!) "durch die Anleihen, mit denen es den despotischen Mächten half. Aber selbst angenommen, der Baron wäre ein ebenso verdienter Mann wie er zweifellos reich ist, so hätte man doch erwarten dürfen, daß der edle Lord, der in diesem Haus eine Regierung vertritt, die aus den Führern sämtlicher politischer Fraktionen besteht, die zur vergangenen Regierung in Opposition gestanden, eine Maßnahme von größerer Wichtigkeit vorschlagen würde als die vorliegende."

Die Bearbeitung der Wahlbeanstandungen hat begonnen. Die Wahlen für Canterbury und Lancaster sind unter Umständen für null und nichtig erklärt worden, die die übliche Käuflichkeit einer gewissen Wählerklasse beweisen. Die Mehrzahl der Fälle dürfte jedoch auf dem Wege von Kompromissen beigelegt werden.

"Die privilegierten Klassen", sagt die "Daily News", "die erfolgreich dazu beigetragen, die Absichten der Reformbill zu vereiteln und das Übergewicht in der jetzigen Vertretung wiederzuerlangen, sind selbstverständlich bestürzt von dem Gedanken einer völligen und gründlichen Bloßstellung."

Am 21. d.M. legte Lord John Russell sein Amt als Minister des Auswärtigen nieder, und Lord Clarendon wurde als sein Nachfolger ver- <537> eidigt. Lord John ist das erste Mitglied des Unterhauses, das ohne ein offizielles Amt zu einem Sitz im Kabinett zugelassen wird. Er ist jetzt ein bevorzugter Ratgeber ohne Anstellung und ohne Gehalt. Was das letztere betrifft, so hat Mr. Cayley allerdings schon in Aussicht gestellt, daß ein Antrag eingebracht würde, um dem armen Johnny aus dieser mißlichen Lage zu helfen. Die Stellung eines Ministers des Auswärtigen ist im gegenwärtigen Moment um so wichtiger, als der Deutsche Bundestag sich dazu aufgerafft hat, die Entfernung aller politischen Flüchtlinge aus Großbritannien zu verlangen, und als die Österreicher vorschlagen, uns alle zusammenzupacken und nach einem unfruchtbaren Eiland in der Südsee zu verfrachten.

In einem früheren Briefe wies ich schon auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß die Agitation für das Pächterrecht in Irland sich allmählich zu einer antiklerikalen Bewegung entwickeln könne, trotz der Ansichten und Absichten ihrer jetzigen Führer. Ich führte die Tatsache an, daß der höhere Klerus bereits anfange, der Liga gegenüber eine feindliche Haltung einzunehmen. Seither ist noch ein Machtfaktor auf dem Plan erschienen, der die Bewegung in dieselbe Richtung drängt. Die nordirischen Grundbesitzer sind darauf aus, ihre Pächter davon zu überzeugen, daß die Pächterliga und der Verein zur Verteidigung der Katholiken identisch seien, und unter dem Vorwand, dem Anwachsen der Papisten entgegenzuwirken, sind sie eifrig bemüht, eine Opposition gegen die Liga ins Leben zu rufen.

Während die irischen Grundherren an ihre Pächter gegen den katholischen Klerus appellieren, sehen wir andererseits, wie die englische protestantische Geistlichkeit an die Arbeiter gegen die Fabrikherren appelliert. Das Industrieproletariat Englands hat mit verdoppelter Kraft seinen alten Feldzug für die Zehnstundenbill und gegen das truck and shoppage system aufgenommen. Da diese Forderungen vor das Unterhaus gebracht werden sollen, dem auch schon zahlreiche Anträge zugegangen sind, wird sich für mich in einem künftigen Brief die Gelegenheit bieten, bei den grausamen und infamen Praktiken der Fabrikdespoten zu verweilen und bei ihrer Gepflogenheit, Presse und Tribüne mit ihrer liberalen Rhetorik zu überfluten. Heute mag es genügen, daran zu erinnern, daß von 1802 an die englische Arbeiterschaft einen ständigen Kampf um die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit führte, bis im Jahre 1847 endlich das berühmte Zehnstundengesetz John Fieldens angenommen wurde, das Frauen und Jugendlichen untersagte, länger als zehn Stunden täglich in einer Fabrik zu arbeiten. Die liberalen Fabrikherren fanden schnell heraus, daß dieses Gesetz der Schichtarbeit in den <538> Fabriken Tür und Tor öffne. 1849 wurde vor dem Court of Exchequer <Schatzkammergericht> ein Prozeß anhängig gemacht, und der Richter entschied, daß Schichtarbeit gesetzlich zulässig sei, wenn die Kinder in zwei Schichten neben den Erwachsenen arbeiten, diese aber solange arbeiten, wie die Maschinen laufen. Man mußte sich also wieder ans Parlament wenden, und dort wurde 1850 das Schichtsystem verurteilt, dafür aber die Zehnstundenbill in eine Zehnundeinhalbstundenbill verwandelt. Im jetzigen Augenblick fordert die Arbeiterklasse eine Wiederherstellung der Zehnstundenbill in integrum <in der ursprünglichen Fassung>; um aber diese Forderung wirksam zu gestalten, verlangen sie auch eine Beschränkung der Laufzeit der Maschinen.

Das ist in Kürze die der Öffentlichkeit bekannte Geschichte der Zehnstundenbill. Ihre Geheimgeschichte ist folgende: Der Grundadel hatte infolge der Annahme der Reformbill von 1831 eine Niederlage durch die Bourgeoisie erlitten und "seine heiligsten Interessen" waren durch den Ruf der Fabrikanten nach Freihandel und Abschaffung der Korngesetze bedroht. Er beschloß daher, sich der Bourgeoisie zu widersetzen, indem er Partei ergriff für die Forderungen und die Sache der Arbeiter und sie insbesondere in der Frage der Beschränkung der Arbeitszeit unterstützte. Sogenannte philanthropische Lords waren damals an der Spitze jeder Versammlung zugunsten des Zehnstundentags zu finden. Lord Ashley schuf sich sogar durch seine Leistungen in dieser Bewegung ein gewisses "Renommee". Der Grundadel, dem die 1846 tatsächlich erfolgte Abschaffung der Korngesetze einen tödlichen Schlag versetzt hatte, rächte sich, indem er 1847 dem Parlament die Zehnstundenbill aufzwang. Die industrielle Bourgeoisie jedoch verschaffte sich mittels richterlicher Autorität wieder, was sie durch die parlamentarische Gesetzgebung verloren hatte. Der Zorn der Grundherren hatte sich 1850 nach und nach gelegt, und sie schlossen ein Kompromiß mit den Fabrikherren, indem sie zwar das Schichtsystem verurteilten, gleichzeitig aber der Arbeiterklasse, als Strafe für das erzwungene Gesetz, eine halbe Stunde Mehrarbeit per diem <täglich> auferlegten. Im jetzigen Moment allerdings, wo sie den Entscheidungskampf mit den Leuten der Manchesterschule herannahen sehen, suchen sie sich wieder der Bewegung zur Verkürzung der Arbeitszeit zu bemächtigen. Da sie es aber nicht wagen, selbst offen aufzutreten, so versuchen sie gegen die Baumwoll-Lords zu wühlen, indem sie, auf dem Wege über die Geistlichkeit der Staatskirche, die Macht des Volkes auf sie hetzen. Einige Beispiele mögen zeigen, wie heftig diese heiligen Männer den Kreuzzug gegen <539> die Industrieherren führen. In Crampton wurde ein Zehnstunden-Meeting abgehalten, bei dem Pfarrer Dr. Brammel (von der Staatskirche) präsidierte. Pfarrer J. R. Stephens, der die Pfründe von Stalybridge innehat, erklärte:

"Es habe Zeiten gegeben, da wurden die Nationen durch Theokratien regiert ... Diese Zeiten seien vorüber ... Der Geist des Gesetzes sei jedoch stets ein und derselbe ... Der Arbeitsmann sollte vor allen anderen Anteil haben an den Früchten dieser Erde, die durch ihn produziert werden. Das Fabrikgesetz werde so schamlos übertreten, daß der Oberinspektor dieses Fabrikbezirks, Mr. Leonard Horner, sich genötigt gesehen habe, an den Minister des Innern zu schreiben und mitzuteilen, daß er es weder wagen könne noch wolle, einen seiner Unterinspektoren in bestimmte Bezirke zu senden, ehe er nicht polizeilichen Schutz erhalte ... Und Schutz gegen wen? Gegen die Fabrikherren! Gegen die reichsten, gegen die einflußreichsten Herren des Bezirks, gegen die Obrigkeit des Bezirks, gegen die Herren, die von Ihrer Majestät beauftragt sind, in den Sitzungen der örtlichen Gerichte als Vertreter der Krone zu wirken ... Und sei es nun so, daß die Fabrikherren für ihre Gesetzesverletzungen büßen müssen? ... In seinem Bezirk gehöre es zu den festen Gewohnheiten der männlichen und zum großen Teile auch der weiblichen Fabrikarbeiter, Sonntags bis neun, zehn oder elf Uhr im Bett zu bleiben, weil sie von der Arbeit der ganzen Woche vollständig erschöpft sind. Der Sonntag sei der einzige Tag, an dem sie ihre müden Glieder ausruhen können ... Dabei sei es die Regel, daß je länger die Arbeitszeit, desto geringer der Lohn ... Er wolle lieber Sklave in Südkarolina sein als Fabrikarbeiter in England!"

Bei dem großen Zehnstunden-Meeting in Burnley erzählte Pfarrer E. A. Verity, der die Pfründe von Habbergham Eaves innehat, seinen Zuhörern unter anderem folgendes:

"Wo bleibt Herr Bright, wo Herr Cobden, wo die anderen Herren der Manchesterschule, wenn das Volk von Lancashire so unterdrückt wird? ... Worauf sinnen die reichen Leute eigentlich? ... Nur darauf, wie sie die Arbeiterklasse um eine oder zwei Stunden betrügen können. Dahin gehen die Pläne dieser sogenannten Manchesterschule. Darum sind sie solch arglistige Heuchler und solch verschlagene Schurken. Als Geistlicher der englischen Staatskirche protestiere er gegen ein solches Vorgehen."

Wir haben schon auf den Beweggrund hingewiesen, der die Herren von der englischen Staatskirche so plötzlich in ebenso viele irrende als feurige Ritter für die Rechte der Arbeiter verwandelt hat. Sie wollen sich nicht nur für die trüben Tage der nahenden Demokratie einen Vorrat an Popularität anlegen; sie sind sich nicht nur bewußt, daß die Staatskirche eine im wesentlichen aristokratische Einrichtung ist, die mit der grundbesitzenden Oligarchie stehen oder fallen muß - es kommt auch noch eines hinzu. Die Manchestermänner sind Gegner der Staatskirche, sind Dissenters, sind vor allem so sehr in die 13 Millionen Pfd.St. verliebt, die ihnen allein die Staatskirche <540> von England und Wales alljährlich aus der Tasche zieht, daß sie entschlossen sind, eine Trennung zwischen diesen profanen Millionen und dem geistlichen Stande zustande zu bringen, damit er sich des Himmels würdiger erweise. Die frommen Herren kämpfen daher pro aris et focis <für Herd und Altar>. Die Manchesterleute aber mögen aus diesem Zwischenspiel ersehen, daß es ihnen nicht gelingen wird, die politische Macht den Händen der Aristokratie zu entreißen, wenn sie sich nicht, und sei es auch noch so widerstrebend, dazu entschließen, auch dem Volke seinen vollen Anteil an der Macht zu geben.

Auf dem Kontinent ist das Hängen, Schießen und Deportieren an der Tagesordnung. Die Henker sind jedoch auch Wesen, die man greifen und hängen kann, und ihre Taten sind im Gewissen der ganzen zivilisierten Welt unauslöschlich eingegraben. Gleichzeitig waltet in England ein unsichtbarer, unfaßbarer und unhörbarer Despot seines Amtes, der, wenn es zum Äußersten kommt, Menschen zur grausamsten aller Todesarten verdammt und in lautloser Alltagsarbeit ganze Rassen und Klassen von Menschen vom Boden ihrer Vorväter vertreibt, gleich dem Engel mit dem feurigen Schwert, der Adam aus dem Paradies vertrieb. Das Wirken des unsichtbaren sozialen Despoten nennt man im letzteren Falle erzwungene Emigration, im ersteren Hungersnot.

In London sind in diesem Monat neue Fälle von Hungersnot vorgekommen. Ich erinnere nur an den Fall der Mary Ann Sandry, 43 Jahre alt, die in Coal Lane, Shadwell, London, starb. Der Arzt, Dr. Thomas Peene, der bei der Leichenschau assistierte, gab an, die Tote sei verhungert und erfroren. Die Tote lag auf einem Häufchen Stroh ohne jegliche Decke. Das Zimmer enthielt keinerlei Möbel, Feuerungsmaterial oder Nahrungsmittel. Fünf kleine Kinder saßen auf dem nackten Fußboden neben dem Leichnam der toten Mutter und schrien vor Kälte und Hunger.

In meinem nächsten Bericht mehr über die "erzwungene Emigration".

Karl Marx