Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 521-525

Karl Marx

Der italienische Aufstand -
Britische Politik

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3701 vom 25. Februar 1853]

<521> London, Freitag, 11. Februar 1853

Die politische Erstarrung, die hier unter dem Schutze des trübsten Nebels der Welt so lange Zeit geherrscht hat, ist plötzlich gewichen, als aus Italien revolutionäre Nachrichten eintrafen. Der elektrische Telegraph übermittelte die Nachricht, daß es am 6. in Mailand zu einem Aufstand kam; daß zwei Proklamationen angeschlagen worden seien, eine von Mazzini, die andere von Kossuth, in denen die Ungarn in der österreichischen Armee aufgefordert werden, sich den Revolutionären anzuschließen; daß der Aufstand zuerst niedergeschlagen worden sei, dann aber wieder begonnen habe; daß die Österreicher, die im Arsenal stationiert waren, massakriert worden seien usw.; daß die Tore Mailands geschlossen worden seien. Wohl veröffentlicht die französische Presse zwei weitere Depeschen, aus Bern, datiert vom 8. und aus Turin vom 9., in denen berichtet wird, die Erhebung sei am 7. endgültig unterdrückt worden. Die Freunde Italiens betrachten es jedoch als ein günstiges Anzeichen, daß seit zwei Tagen keinerlei direkte Nachricht an das englische Auswärtige Amt gelangt ist.

In Paris kursieren Gerüchte, daß in Pisa, Lucca und anderen Städten große Aufregung herrsche.

In Turin trat das Ministerium infolge einer Mitteilung des österreichischen Konsuls eilig zusammen, um über den Stand der Angelegenheiten in der Lombardei zu verhandeln. Es war der 9. Februar, als die erste Nachricht London erreichte; dieser Tag ist merkwürdigerweise auch der Jahrestag der Proklamation der Römischen Republik im Jahre 1849, der Enthauptung Karls I. im Jahre 1649 und der Entthronung Jakobs II. im Jahre 1689.

Die Chancen der jetzigen Erhebung in Mailand sind gering, wenn nicht einige österreichische Regimenter zu den Aufständischen übergehen. Hoffent- <522> lich wird es mir auf Grund von Privatbriefen aus Turin; die ich täglich erwarte, möglich sein, das ganze Ereignis eingehend zu beschreiben.

Über die Art der Amnestie, die Louis-Napoleon kürzlich gewährte, sind verschiedene Erklärungen im Namen der französischen Flüchtlinge veröffentlicht worden. Victor Frondes (ein früherer Offizier) erklärt in der "Nation", einer Brüsseler Zeitung, daß er mit Erstaunen seinen Namen in der Liste der Amnestierten gelesen habe; er hätte sich schon vor fünf Monaten selbst amnestiert, indem er aus Algier entwich.

Der "Moniteur" kündigte zuerst an, daß 3.000 Exilierte amnestiert werden und nur 1.200 Bürger unter dem Bann der Proskription bleiben sollten. Einige Tage später verkündete dieselbe Autorität, daß 4.312 Personen begnadigt worden seien, so daß also Louis-Napoleon 100 Leuten mehr verzieh, als er verurteilt hatte. Auf Paris und das Seine-Departement allein entfielen 4.000 Exilierte. Von diesen sind nur 226 in die Amnestie eingeschlossen. Das Departement Hérault zählte 2.611 Exilierte, 299 sind davon amnestiert. Das Departement Nièvre lieferte 1.478 Opfer, unter denen 1.100 Familienväter mit durchschnittlich drei Kindern waren; davon sind 180 amnestiert. Im Departement Var sind von 2.181 Verbannten 687 wieder in Freiheit. Von den 1.200 nach Cayenne verschickten Republikanern sind nur wenige begnadigt worden, und zwar gerade solche, die aus dieser Strafkolonie schon entsprungen waren. Die Zahl der nach Algerien verschickten und jetzt freigegebenen Personen ist zwar groß, doch immerhin in keinem Verhältnis zu der ungeheuren Zahl der nach Afrika Verbrachten, die sich auf 12.000 belaufen soll. Die jetzt in England, Belgien, der Schweiz und Spanien lebenden Flüchtlinge sind mit sehr wenigen Ausnahmen von der Amnestie gänzlich ausgeschlossen. Andererseits wieder enthält die Liste der Amnestierten eine große Anzahl von Personen, die entweder Frankreich niemals verlassen haben oder denen die Rückkehr längst wieder gestattet wurde; ja, es gibt sogar Namen, die in den Listen mehrere Male aufgeführt werden. Am scheußlichsten aber ist die Tatsache, daß die Listen mit den Namen zahlreicher Personen angefüllt sind, die, wie wohl bekannt, in den blutigen battues <Treibjagden> im Dezember niedergemetzelt worden sind.

Gestern begann die neue Parlamentssession. Als würdige Einführung zu den künftigen Taten des Ministeriums des Tausendjährigen Reiches wurde folgende Szene im Oberhaus gemimt: Earl of Derby befragte Earl of Aberdeen, welche Vorschläge die Regierung dem Parlament zu unterbreiten gedenke, worauf der letztere erwiderte, er hätte schon bei einem früheren Anlaß seine Grundsätze dargelegt, und eine Wiederholung wäre unangebracht, auch wäre jede weitere Erklärung vor der dem Unterhaus ob- <523> liegenden Bekanntmachung verfrüht. Und jetzt entwickelte sich ein sehr merkwürdiger Dialog, in dem Earl of Derby redete und Earl of Aberdeen nur zustimmend nickte:

Earl of Derby: "Ich möchte den edlen Lord befragen, welche Vorschläge er den Lords im Laufe der Session unterbreiten wolle."

Da nach einer Pause von mehreren Sekunden sich kein edler Lord erhoben hatte: "Bedeutet Stillschweigen keine Vorschläge?" (Heiterkeit.)

Earl of Aberdeen murmelt etwas Unverständliches.

Earl of Derby: "Darf ich mir erlauben zu fragen, welche Vorschläge diesem Haus vorgelegt werden sollen?"

Keine Antwort.

Als nun die Vertagungsfrage vom Lordkanzler gestellt wurde, vertagten sich die Lords.

Gehen wir vom Hause der Lords ins "alleruntertänigste Unterhaus Ihrer Majestät", so werden wir feststellen, daß Earl of Aberdeen das Programm des Ministeriums durch sein Stillschweigen viel treffender dargelegt hat als Lord John Russell gestern abend durch seine lange und würdevolle Rede. Ihr kurzes Resümee: "Keine Vorschläge, sondern Männer"; Vertagung aller Fragen von Wichtigkeit für das Parlament auf ein Jahr und pünktlichste Bezahlung der Gehälter der königlichen Minister während dieser Zeit. Lord John Russell kleidete die Absichten der Regierung etwa in diese Worte:

"Was die Zahl der Truppen anlangt, die für Armee, Marine und Artillerie bewilligt werden sollen, wird keine Erhöhung über die vor den Weihnachtsfeiertagen bewilligte Zahl eintreten. Was die Höhe der veranschlagten einzelnen Summen betrifft, so wird man im Vergleich zu den vorjährigen Posten eine bedeutende Erhöhung finden ... Eine Bill wird eingebracht werden, die die kanadische Legislative ermächtigen wird, über die kirchlichen Landreserven in Kanada zu verfügen ... Der Handelsminister wird einen Antrag zur Regelung des Lotsenwesens einbringen ... Die Zurücksetzung der jüdischen Untertanen Ihrer Majestät wird abgeschafft werden ... Es werden Vorschläge für das Unterrichtswesen gemacht werden, doch bin ich außerstande zu sagen, daß ich im Namen der Regierung Ihnen ein sehr großes Projekt über diesen Gegenstand vorlegen kann. Es wird Reformen des Unterrichtswesens für die ärmeren Klassen und Vorschläge für die Universitäten Oxford und Garnbridge enthalten ... Die Deportationen nach Australien werden aufhören ... Ein Gesetzentwurf zur Regelung der sekundären Strafen <Hauptstrafen außer der Todesstrafe> wird eingebracht werden ... Unmittelbar nach den Osterferien, oder doch so bald wie möglich, wird der Schatzkanzler die Voranschläge für das diesjährige Budget machen ... Der Lordkanzler wird in wenigen Tagen die Anträge erörtern, die er zur Verbesserung des Gerichtsverfahrens einzubringen gedenkt ... Der Staatssekretär für Irland hat die Absicht, in einigen Tagen die Einsetzung eines Unter- <524> suchungsausschusses zu beantragen, der sich mit der Frage der Grundherren und Pächter in Irland befassen soll ... Die Minister werden sich eifrig bemühen, eine Erneuerung der Einkommensteuer für dieses Jahr zuwege zu bringen, ohne daß weitere Diskussionen oder Erörterungen stattfinden."

In bezug auf die Parlamentsreform erklärt Lord John Russell, daß sie vielleicht in der nächsten Session in Erwägung gezogen werden solle. Das heißt, es gibt also jetzt keine Reform. Ja, mehr noch: Johnny gab sich die größte Mühe, die Zumutung in Abrede zu stellen, er hätte jemals versprochen, eine Parlamentsreform vorzuschlagen, die liberaler sein würde als seine Bill in der letzten Session. Er war sogar sehr empört, daß ihm Aussprüche solchen Inhalts zugeschrieben würden. Niemals hätte er etwas Derartiges gesagt oder gemeint. Auch verspricht er durchaus nicht, daß die Bill, die er in der nächsten Session einbringen will, so umfassend sein werde wie die vom Jahre 1852. In bezug auf Bestechung und Korruption sagte er:

"Ich halte es für besser, mit meiner Meinungsäußerung darüber noch zurückzuhalten, ob weitere Maßnahmen nötig sind, um Bestechung und Korruption Einhalt zu gebieten. Ich sage bloß, daß der Gegenstand von höchster Wichtigkeit ist."

Die kühle Verwunderung, mit der diese Rede Finality-Johns vom Unterhaus aufgenommen wurde, läßt sich unmöglich schildern. Es ist schwer zu sagen, was größer war: die Verblüffung seiner Freunde oder der Jubel seiner Feinde. Alle aber schienen die Rede als eine komplette Widerlegung des Lukrezschen Grundsatzes anzusehen, "nil de nihilo fit" <"aus nichts wird nichts">. Lord John wenigstens machte etwas aus nichts, nämlich eine trockene, lange und sehr langweilige Rede.

Bisher nahm man an, es gäbe zwei Punkte, mit denen die Minister stehen oder fallen wollten: eine neue Festlegung der Einkommensteuer und eine neue Reformbill. Zur Einkommensteuer wird vorgeschlagen, sie noch ein Jahr in ihrer jetzigen Form weiterbestehen zu lassen. Zur Reformbill, selbst in Ausmaßen, wie sie den Whigs entsprechen, wird erklärt, daß die Minister sie nur unter der Bedingung einführen, daß sie noch ein ganzes Jahr im Amte bleiben. Genauso lautete das Programm des letzten Ministeriums Russell, minus die Reformbill. Sogar die Finanzdebatte wird bis nach Ostern verschoben, so daß die Minister auf alle Fälle ihre vierteljährlichen Gehälter beziehen können.

Die einzelnen Reformvorschläge sind fast alle dem Programm Disraelis entlehnt. So zum Beispiel die Verbesserung des Gerichtsverfahrens, die Ab- <525> schaffung der Deportation nach Australien, die Lotsenbill, die Kommission zur Regelung der Frage des Pächterrechts usw. Die einzigen Punkte, die eigentlich vom jetzigen Ministerium ausgehen, sind die vorgeschlagene Reform des Unterrichtswesens, die nach Lord Johns Versicherung nicht größer sein wird als er selbst, und die Beseitigung der rechtlichen Einschränkungen für Baron Lionel Rothschild. Es ist fraglich, ob das englische Volk sehr befriedigt davon sein wird, wenn das Wahlrecht auf einen jüdischen Wucherer ausgedehnt wird, der notorisch einer der Komplizen des bonapartistischen Staatsstreichs war.

Diese Unverschämtheit eines Ministeriums, das aus zwei Parteien besteht, die bei den letzten allgemeinen Wahlen vollständig geschlagen wurden, ließe sich nur schwer erklären, käme nicht der Umstand in Betracht, daß jede neue Reformbill eine Auflösung des jetzigen Unterhauses erfordern würde, dessen Majorität an ihren teuer erkauften und nur mit knapper Mehrheit errungenen Sitzen klebt.

Nichts köstlicher als die Art, wie die "Times" ihre Leser zu trösten versucht:

"Die nächste Session ist lange nicht so unsicher wie der morgige Tag; denn das Morgen hängt nicht nur vom Willen, sondern sogar vom Leben des Zauderers ab; bleibt aber die Welt bestehen, so kommt die nächste Session ganz bestimmt heran. Also verschiebe man die ganze Parlamentsreform auf die nächste Session und gebe dem Ministerium ein Jahr lang Ruhe."

Ich meinesteils denke, es ist höchst vorteilhaft für das Volk, daß ihm bei der jetzigen Trägheit der öffentlichen Meinung und "im kalten Schatten eines aristokratischen Koalitionskabinetts" keine Reformbill von den Ministern aufoktroyiert wird. Man darf nicht vergessen, daß Lord Aberdeen ein Mitglied des Tory-Kabinetts war, das sich 1830 weigerte, auch nur der geringsten Reform zuzustimmen. Nationale Reformen müssen mittels nationaler Agitation errungen werden; man darf sie nicht der Gnade eines Lord Aberdeen verdanken.

Zum Schlusse will ich noch erwähnen, daß in einer besonderen Zusammenkunft des Generalausschusses der Nationalen Assoziation zum Schutze der britischen Industrie und des britischen Kapitals, die am letzten Montag unter der Präsidentschaft des Herzogs von Richmond im South Sea House stattfand, diese Gesellschaft in weiser Erkenntnis beschloß, sich aufzulösen.

Karl Marx