Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 484-489

Karl Marx

Eine altersschwache Regierung -
Die Aussichten des Koalitionsministeriums usw.

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3677 vom 28. Januar 1853]

<484> London, Dienstag, 11. Januar 1853

"Wir sind nun beim Beginn des politischen Tausendjährigen Reiches angelangt, wo kein Parteihader mehr auf Erden herrscht und Talent, Erfahrung, Fleiß und Vaterlandsliebe allein zur Bekleidung eines Amtes berechtigen sollen. Wir haben nun ein Ministerium, das des Beifalls und des Beistands jeder Richtung sicher zu sein scheint. Seine Grundsätze gebieten allgemeine Zustimmung und Unterstützung."

Mit diesen Worten begrüßte die "Times" im ersten Taumel ihres Enthusiasmus das Ministerium Aberdeen. Man könnte daraus schließen, daß England von nun ab mit einem Ministerium beglückt sein werde, das ausschließlich aus neuen, jungen, vielversprechenden Kräften besteht. Die Welt wird daher nicht wenig staunen, wenn sie erfährt, daß die neue Ära in der Geschichte Großbritanniens von lauter ziemlich verbrauchten, hinfälligen Achtzigjährigen inauguriert werden soll. Aberdeen, ein Achtziger; Lansdowne steht mit einem Fuß im Grabe; Palmerston, Russell nähern sich demselben in raschem Tempo. Graham, der Bürokrat, hat seit Ende des vorigen Jahrhunderts fast unter jeder Regierung gedient; andere Kabinettsmitglieder waren schon zwiefach an Altersschwäche und Erschöpfung gestorben und sind jetzt nur zu einem künstlichen Leben erweckt worden. Kurz, ein Dutzend Hundertjähriger bildet den Grundstock, und der Korrespondent der "Times" hat vielleicht durch eine einfache Addition das neue Tausendjährige Reich herausgerechnet.

In diesem Tausendjährigen Reich soll nun, so wird uns versprochen, nicht nur aller Parteihader, sondern sollen sogar die Parteien selbst verschwinden. Glaubt die "Times" das wirklich? Weil gewisse Teile der Aristokratie bis jetzt das Privileg genossen haben, sich den Anstrich nationaler oder parlamentarischer Parteien zu geben, und nun eingesehen haben, daß die Farce ein <485> Ende haben muß; weil auf Grund dieser Überzeugung und infolge jüngst gemachter harter Erfahrungen diese aristokratischen Koterien ihre kleinen Plänkeleien aufgeben und sich in eine kompakte Masse zur Wahrung ihrer gemeinsamen Privilegien zusammentun wollen - sollen darum von Stund' an alle Parteien aufhören zu existieren? Oder ist nicht gerade die Tatsache, daß solch eine "Koalition" sich bildet, das sicherste Anzeichen dafür, daß die Zeit gekommen ist, wo die inzwischen faktisch herangewachsenen und doch teilweise nicht vertretenen wesentlichen Klassen der modernen Gesellschaft, die industrielle Bourgeoisie und die Arbeiterklasse, sich anschicken, die Stellung der allein gültigen politischen Parteien der Nation für sich zu beanspruchen?

Unter Lord Derbys Regierung haben die Tories ein für allemal ihren alten Schutzzollstandpunkt verleugnet und sich zum Freihandel bekannt. Als Lord Derby den Rücktritt seines Kabinetts ankündigte, sagte er:

"Mylords, ich entsinne mich, und auch Ihnen, Mylords, dürfte es erinnerlich sein, daß der edle Lord" (Aberdeen) "bei mehr als einem Anlaß vor diesem Hause erklärte, außer der Frage des Freihandels gäbe es keine, in der er von der jetzigen Regierung irgendwie abweiche."

Und Lord Aberdeen ging bei der Bestätigung dieser Behauptung noch weiter:

"Er fühle sich einig mit dem edlen Lord" (Derby) "in der Bekämpfung der Übergriffe der Demokratie, nur könne er beim besten Willen deren Existenz nicht entdecken."

Von beiden Seiten wird zugegeben, daß es keinen Unterschied mehr zwischen Peeliten und Tories gibt. Doch damit nicht genug. Im Hinblick auf die auswärtige Politik bemerkt Lord Aberdeen:

"Mögen auch in der Praxis kleine Abweichungen vorgekommen sein, im Prinzip ist seit 30 Jahren die auswärtige Politik des Landes immer dieselbe gewesen."

Der ganze von 1830 bis 1850 währende Streit zwischen Aberdeen und Palmerston, in dem der erstere das Bündnis mit den Nordmächten, der letztere die "entente cordiale" <das "herzliche Einvernehmen"> mit Frankreich forderte, wobei der eine für, der andere gegen Louis-Philippe, der eine gegen, der andere für die Intervention war; all ihre Zänkereien und Meinungsverschiedenheiten, ja sogar ihre jüngste gemeinsame Empörung über Lord Malmesburys "schändliche" Führung der auswärtigen Geschäfte - all das ist also eingestandenermaßen <486> bloßer Humbug gewesen. Und doch: was hätte sich in den politischen Verhältnissen Englands gründlicher gewandelt als seine auswärtige Politik? Bis 1830 Bündnis mit den Nordmächten; nach 1830 Bündnis mit Frankreich (Viererbund); nach 1848 vollständige Isolierung Englands vom ganzen Kontinent.

Nachdem uns Lord Derby zuerst versichert hat, es gäbe keine Differenzen zwischen Tories und Peeliten, versichert uns Lord Aberdeen darüber hinaus, daß sich auch Peeliten und Whigs, Konservative und Liberale nicht voneinander unterscheiden. Er meint:

"Das Land sei müde dieser Unterscheidungen, die keinen Sinn haben und durch die sich wahre Politiker in ihren Grundsätzen nicht beeinflussen lassen. Eine andere Regierung als eine konservative sei unmöglich, aber es sei ebenso wahr, daß nur eine liberale Regierung in Frage käme."

"Diese Termini hätten keine allzu genaue Bedeutung. Das Land sei müde dieser Unterscheidungen, die keinen Sinn haben."

Die drei Parteien der Aristokratie, Tories, Peeliten und Whigs, sind sich also einig, daß sie keine wirklich unterscheidenden Merkmale aufzuweisen haben. Und noch in etwas anderem stimmen sie überein. Disraeli hatte erklärt, daß er gewillt sei, das Freihandelsprinzip zu verwirklichen. Lord Aberdeen sagt:

"Das große Ziel der jetzigen Minister Ihrer Majestät und das große Charakteristikum ihrer Regierung wäre die Aufrechterhaltung und kluge Ausdehnung des Freihandels. Das sei die Mission, mit der sie ganz speziell betraut wären."

Mit einem Wort, die ganze Aristokratie ist sich einig, daß die Regierung zum Vorteil und im Interesse der Bourgeoisie geführt werden muß; gleichzeitig aber ist sie entschlossen, die Bourgeoisie die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen zu lassen. Und zu diesem Zweck wird alles, was die alte Oligarchie an Talent, Einfluß und Autorität besitzt, mit einem letzten Kraftaufwand zu einem Ministerium verschmolzen, dessen Aufgabe darin besteht, die Bourgeoisie solange wie möglich vom direkten Genuß der Herrschaft über die Nation fernzuhalten. Die koalierte Aristokratie Englands beabsichtigt, bezüglich der Bourgeoisie nach demselben Grundsatz zu verfahren wie Napoleon gegen das Volk: "Tout pour le peuple, rien par le peuple." <"Alles für das Volk, nichts durch das Volk".>

Ernest Jones bemerkt dazu im "People's Paper":

"Die offenbare Absicht, die Bourgeoisie auszuschließen, soll allerdings einigermaßen verschleiert werden, und sie" (die Minister) "hoffen, dies am leichtesten da- <487> durch zu bewerkstelligen, daß sie bestimmte untergeordnete und einflußlose Stellen an aristokratische Liberale vergeben, wie Sir William Molesworth, Bernal Osborne und andere. Sie sollen aber ja nicht glauben, daß dieser Liberalismus der Stutzer von Mayfair <vornehmes Londoner Viertel> die gestrengen Herren der Manchesterschule befriedigt. Die sind aufs ganze aus, und das heißt aufs Geschäft. Die wollen Pfunde, Schillinge und Pence, wollen Stellen und Ämter, wollen die gigantischen Einkünfte des größten Reiches der Welt, das mit allen seinen Ressourcen einzig und allein ihrem Klasseninteresse untertan sein soll."

In der Tat, ein Blick auf die "Daily News", den "Advertiser" und insbesondere auf die "Manchester Times", das spezielle Organ Brights, genügt, um jeden davon zu überzeugen, daß die Männer der Manchesterschule mit der provisorisch versprochenen Unterstützung der Koalitionsregierung nur dieselbe Politik zu verfolgen beabsichtigen, die die Whigs und Peeliten dem jüngsten Kabinett Derby gegenüber eingeschlagen hatten: d.h., sie wollen es auf einen ehrlichen Versuch mit den Ministern ankommen lassen. Was solch ein "ehrlicher Versuch" bedeuten mag, das zu erfahren hat Disraeli erst kürzlich Gelegenheit gehabt.

Da für die Niederlage des Tory-Kabinetts die "irische Brigade" entscheidend gewesen war, hat das neue Koalitionsministerium es selbstverständlich für nötig gehalten, Schritte zu unternehmen, um sich die Hilfe dieser Fraktion im Parlament zu sichern. Der Unterhändler der Brigade, Mr. Sadleir, war durch den Posten eines Lords der Schatzkammer rasch geködert. Mr. Keogh wurde das Amt des irischen Generalprokurators angeboten, und Mr. Monsell erhält eine Anstellung beim Feldzeugamt. "Indem man diese drei gekauft hat", meint der "Morning-Herald", "glaubt man die Brigade gewonnen zu haben." Es steht jedoch sehr dahin, ob diese drei Gekauften genügen, um die Anhängerschaft der gesamten Brigade zu sichern. Wir lesen denn auch schon im irischen "Freeman's Journal":

"Jetzt ist der kritische Augenblick im Kampf um die Religionsfreiheit und die Rechte der Pächter gekommen. Der Erfolg oder Mißerfolg dieser Bestrebungen hängt nun nicht mehr von irgendwelchen Ministern, sondern von der irischen Fraktion ab. Das Ministerium Derby wurde mit 19 Stimmen gestürzt. Wären zehn Mann auf die andere Seite spaziert, so wäre die Sache anders ausgefallen. Wenn es zwischen den Parteien so aussieht, sind die irischen Mitglieder allmächtig."

Am Schluß meines letzten Briefes sprach ich meine Ansicht dahin aus, daß es keine andere Alternative gäbe als eine Tory-Regierung oder eine <488> Parlamentsreform. Es wird Ihre Leser interessieren, Lord Aberdeens Meinung über dieselbe Frage zu erfahren. Er sagt;

"Die Verbesserung der Lage des Volkes könne nicht eine Verbesserung des Repräsentativsystems ausschließen" (sic!), "denn die Vorgänge bei der letzten Wahl seien unzweifelhaft solcherart gewesen, daß niemand dieses System besonders ins Herz geschlossen haben dürfte."

Und bei den Wahlen, die infolge ihrer Amtsannahme notwendig wurden, erklärten Lord Aberdeens Kollegen einstimmig, daß Reformen des Repräsentativsystems nötig seien. Sie gaben ihren Zuhörern allerdings jedesmal zu verstehen, daß derartige Reformen "mäßige und vernünftige sein müßten und nicht übereilt, sondern wohlüberlegt und vorsichtig ausgeführt werden müßten". Also je mehr sich das jetzige Repräsentativsystem als verrottet erweist und erkannt wird, desto mehr ist zu wünschen, daß es weder rasch noch gründlich geändert wird.

Anläßlich der letzten Wiederwahl der Minister wurde zum erstenmal eine neue Erfindung probiert, die es Politikern gestattet, der Öffentlichkeit gegenüber ihre Prinzipien unter allen Umständen zu wahren, ob sie nun im Amt sind oder draußen. Diese Erfindung besteht darin, mit dem Begriff der "offenen Frage" in einer bisher noch nicht dagewesenen Weise zu operieren. Osborne und Villiers hatten sich früher verpflichtet, für die geheime Abstimmung einzutreten. Jetzt erklären sie diese Abstimmung zur offenen Frage. Molesworth hatte Kolonialreformen versprochen - offene Frage. Keogh, Sadleir und andere waren für das Pächterrecht eingetreten - offene Frage. Mit einem Wort, alle Punkte, die sie bis jetzt in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Parlaments stets als bereits festgelegt behandelt hatten, werden jetzt, wo sie Minister sind, für sie fraglich.

Zum Schluß muß ich noch ein anderes Kuriosum erwähnen, das aus der Koalition von Peeliten, Whigs, Radikalen und Iren hervorgeht. Jeder ihrer Notabilitäten ist just aus jenem Ressort herausgeworfen worden, für das nur er angeblich als begabt oder qualifiziert gegolten, und ist auf einen Posten gestellt worden, für den er sich erstaunlich schlecht eignet. Palmerston, der berühmte Minister des Äußern, wurde ins Ministerium des Innern berufen, aus dem man Russell, obgleich er auf diesem Posten alt geworden, entfernt hat, um ihn mit den auswärtigen Angelegenheiten zu betrauen. Gladstone, der Escobar des Puseyismus, wird Schatzkanzler. Molesworth, der einen gewissen Ruf als Nachahmer oder Anhänger von Mr. Wakefields verrückter systematischer Kolonisationstheorie erlangte, wird für die öffentlichen Arbeiten verantwortlich gemacht. Sir Charles Wood, der als Schatz- <489> kanzler sich des Privilegiums erfreute, entweder über ein Defizit oder über einen Überschuß zu stolpern, wird Präsident der Kontrollbehörde für indische Angelegenheiten. Monsell, der kaum eine Flinte von einer Büchse zu unterscheiden vermag, ist zum Sekretär des Feldzeugamts ernannt worden. Die einzige Persönlichkeit, die auf den richtigen Platz gestellt wurde, ist jener Sir James Graham, der in seiner Eigenschaft als Erster Lord der Admiralität schon bei früheren Anlässen sehr viel Ansehen dadurch gewann, daß er in der britischen Marine den Wurmfraß einführte.

Karl Marx