Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 414-417

I. Vorläufiges | Inhalt | III. Das Komplott Cherval

II

Das Archiv Dietz

<414> Das bei den Angeklagten vorgefundene "Manifest der Kommunistischen Partei", vor der Februarrevolution gedruckt, seit Jahren im Buchhandel befindlich, konnte seiner Form und Bestimmung nach nicht das Programm eines "Komplotts" sein. Die saisierten Ansprachen der Zentralbehörde beschäftigten sich ausschließlich mit dem Verhältnis der Kommunisten zur künftigen Regierung der Demokratie, also nicht mit der Regierung Friedrich Wilhelms IV. Die "Statuten" endlich waren Statuten einer geheimen Propagandagesellschaft, aber der Code pénal enthält keine Strafen gegen geheime Gesellschaften. Als letzte Tendenz dieser Propaganda wird die Zertrümmerung der bestehenden Gesellschaft ausgesprochen, aber der preußische Staat ist schon einmal untergegangen und kann noch zehnmal wieder untergehen und definitiv untergehen, ohne daß der bestehenden Gesellschaft auch nur ein Haar ausfällt. Die Kommunisten können den Auflösungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft beschleunigen helfen und dennoch der bürgerlichen Gesellschaft die Auflösung des preußischen Staates überlassen. Wessen direkter Zweck es wäre, den preußischen Staat zu stürzen, und wer zu diesem Behuf die Zertrümmerung der Gesellschaft als Mittel lehrte, der gliche jenem verrückten Ingenieur, der die Erde sprengen wollte, um einen Misthaufen aus dem Weg zu räumen.

Aber wenn das Endziel des Bundes der Umsturz der Gesellschaft, so ist sein Mittel notwendig die politische Revolution, und er impliziert den Umsturz des preußischen Staates, wie ein Erdbeben den Umsturz des Hühnerstalles impliziert. Aber die Angeklagten gingen nun einmal von der frevelhaften Ansicht aus, daß die jetzige preußische Regierung auch ohne sie fallen werde. Sie stifteten daher keinen Bund zum Sturz der jetzigen preußischen Regierung, sie machten sich keines "hochverräterischen Komplotts" schuldig.

<415> Hat man die ersten Christen je angeklagt, ihr Zweck sei, den ersten besten römischen Winkelpräfekten zu stürzen? Die preußischen Staatsphilosophen von Leibniz bis Hegel haben an der Absetzung Gottes gearbeitet, und wenn ich Gott absetze, setze ich auch den König von Gottes Gnaden ab. Hat man sie aber wegen Attentat auf das Haus Hohenzollern verfolgt?

Man konnte also die Sache drehen und wenden, wie man wollte, das vorgefundene Corpus delicti verschwand wie ein Gespenst vor dem Tageslicht der Öffentlichkeit. Es blieb bei der Klage des Anklagesenats, daß "kein objektiver Tatbestand" vorliege, und die "Partei Marx" war böswillig genug, während der 11/2 Jahre, die die Untersuchung währte, kein Jota zu dem vorliegenden Tatbestand zu liefern.

Diesem Mißstand mußte abgeholfen werden. Die Partei Willich-Schapper, in Verbindung mit der Polizei, half ihm ab. Sehen wir, wie Herr Stieber, der Geburtshelfer dieser Partei, sie in den Kölner Prozeß eingeführt. (Siehe die Zeugenaussage Stiebers in der Sitzung vom 18. Oktober 1852.)

Während Stieber sich im Frühling 1851 in London befand, angeblich die Besucher der Industrieausstellung vor Stiebern und Diebern zu schützen, sandte ihm das Berliner Polizeipräsidium die Kopie der bei Nothjung gefundenen Papiere,

"namentlich", schwört Stieber, "wurde ich auf das Archiv der Verschwörung aufmerksam gemacht, welches nach den bei Nothjung gefundenen Papieren in London bei einem gewissen Oswald Dietz liegen und die ganze Korrespondenz der Bundesmitglieder enthalten mußte".

Das Archiv der Verschwörung? Die ganze Korrespondenz der Bundesmitglieder? Aber Dietz war der Sekretär der Willich-Schapperschen Zentralbehörde. Befand sich also das Archiv einer Verschwörung bei ihm, so war es das Archiv der Willich-Schapperschen Verschwörung. Fand sich bei Dietz eine Bundeskorrespondenz, so konnte es nur die Korrespondenz des den Kölner Angeklagten feindlichen Sonderbundes sein. Aus der Musterung der bei Nothjung vorgefundenen Dokumente folgt indessen noch mehr, nämlich daß nichts darin auf den Oswald Dietz als Archivverwahrer hinwies. Wie sollte Nothjung auch in Leipzig wissen, was der "Partei Marx" zu London selbst unbekannt war.

Stieber konnte nicht direkt sagen: Nun passen Sie auf, meine Herren Geschwornen! Ich habe unerhörte Entdeckungen in London gemacht. Leider beziehen sie sich auf eine Verschwörung, womit die Kölner Angeklagten nichts zu schaffen und worüber die Kölner Geschwornen nicht zu richten haben, die aber den Vorwand hergab, die Beschuldigten 11/2 Jahre <416> im Zellengefängnis zu logieren. So konnte Stieber nicht sprechen. Nothjungs Intervention war unerläßlich, um die in London gemachten Enthüllungen und aufgestöberten Dokumente in einen Scheinzusammenhang mit dem Kölner Prozeß zu bringen.

Stieber schwört nun, ein Mensch habe sich ihm erbeten, das Archiv für bares Geld von Oswald Dietz zu kaufen. Die Tatsache ist einfach die: Ein gewisser Reuter, preußischer Mouchard, der nie einer kommunistischen Gesellschaft angehört hat, wohnte in demselben Haus mit Dietz, erbrach dessen Pult, während er abwesend war, und stahl seine Papiere. Daß Herr Stieber ihn für diesen Diebstahl bezahlt hat, ist glaublich, würde Stieber aber schwerlich vor einer Reise nach Vandiemensland beschützt haben, wäre das Manöver während seiner Anwesenheit in London bekannt geworden.

Am 5. August 1851 erhielt Stieber zu Berlin "in einem starken Paket in Wachsleinwand" von London das Archiv Dietz, nämlich einen Haufen von Dokumenten, von "sechzig einzelnen Piecen". So schwört Stieber und schwört zugleich, daß dieses Paket, das er am fünften August 1851 erhielt, unter andern Briefe des leitenden Kreises Berlin vom zwanzigsten August 1851 enthielt. Wollte man nun behaupten, Stieber begehe einen Meineid, wenn er versichert, am 5. August 1851 Briefe vom 20. August 1851 erhalten zu haben, so würde er mit Recht antworten, daß ein königlich preußischer Rat dasselbe Recht hat wie der Evangelist Matthäus, nämlich chronologische Wunder zu begehen.

En passant. <Beiläufig.> Aus der Aufzählung der der Partei Willich-Schapper entwandten Dokumente und aus den Daten dieser Dokumente folgt, daß diese Partei, obgleich durch den Einbruch des Reuter gewarnt, noch fortwährend Mittel fand, sich Dokumente stehlen und sie an die preußische Polizei gelangen zu lassen.

Als Stieber sich im Besitz des in starker Wachsleinwand eingewickelten Schatzes fand, wurde ihm unendlich wohl. "Das ganze Gewebe", schwört er, "lag klar vor meinen Augen enthüllt." Und was barg der Schatz in bezug auf die "Partei Marx" und die Kölner Angeklagten? Nach Stiebers eigener Aussage nichts, gar nichts als

"eine Originalerklärung mehrerer Mitglieder der Zentralbehörde, welche offenbar den Kern der 'Partei Marx' bilden, d.d. London den 17. September 1850, betreffend ihren Austritt aus der Kommunisten-Gesellschaft infolge des bekannten Bruchs am 15. September 1850".

<417> So sagt Stieber selbst, aber auch in dieser harmlosen Aussage vermag er nicht einfach das Faktum zu sagen. Er ist gezwungen, es in eine höhere Potenz zu erheben, um ihm polizeiliche Wichtigkeit zu geben. Jene Originalerklärung enthält nämlich nichts als eine in drei Zeilen bestehende Anzeige der Majoritätsmitglieder der ehemaligen Zentralbehörde und ihrer Freunde, daß sie aus dem öffentlichen Arbeiterverein der Great Windmill Street austreten, nicht aber aus einer "Kommunisten-Gesellschaft".

Stieber konnte seinen Korrespondenten die Wachsleinwand und seiner Behörde die Portokosten ersparen. Er brauchte nur verschiedene deutsche Blätter vom September 1850 durchzustiebern, und Stieber fand gedruckt, schwarz auf weiß, eine Erklärung des "Kernes der Partei Marx", worin sie mit ihrem Austritt aus dem Flüchtlingskomitee zugleich ihren Austritt aus dem Arbeiterverein der Great Windmill Street anzeigt.

Das nächste Resultat der Stieberschen Recherchen war also die unerhörte Entdeckung, daß der "Kern der Partei Marx" aus dem öffentlichen Verein der Great Windmill Street am 17. September 1850 ausgetreten sei. "Das ganze Gewebe des kölnischen Komplotts lag klar vor seinen Augen enthüllt." Das Publikum aber traute seinen Augen nicht.