Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 7, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 316-319.

Karl Marx/Friedrich Engels

Preußische Spione in London

Aus dem Englischen.


["The Spectator" Nr. 1146 vom 15. Juni 1850]

<316> 64, Dean Street, Soho Square, den 14. Juni 1850

Sir,

seit einiger Zeit hatten wir, die in diesem Lande wohnenden unterzeichneten deutschen Flüchtlinge, Gelegenheit, die uns von der britischen Regierung entgegengebrachte Aufmerksamkeit zu bewundern. Wir waren es gewöhnt, von Zeit zu Zeit irgendeinem obskuren Beamten der preußischen Gesandtschaft zu begegnen, der nicht "als solcher gesetzmäßig geführt wird"; wir waren an die wilden Reden und tollen Vorschläge solcher agents provocateurs <Lockspitzel> gewöhnt und wußten, wie wir sie zu behandeln haben. Was uns in Verwunderung setzt, ist nicht die Aufmerksamkeit, die uns die preußische Gesandtschaft zollt - wir sind stolz, sie verdient zu haben; wir wundern uns über die entente cordiale <das herzliche Einvernehmen>, die sich, soweit es uns betrifft, zwischen den preußischen Spionen und den englischen Denunzianten gebildet zu haben scheint.

Wahrlich, Sir, wir hätten nie geglaubt, daß es in diesem Lande so viele Polizeispione gibt, wie wir das Glück hatten, in der kurzen Zeitspanne von einer Woche kennenzulernen. Es werden nicht nur die Türen der Häuser, in denen wir wohnen, von mehr als zweifelhaft aussehenden Individuen streng beobachtet, die jedesmal, wenn jemand das Haus betritt oder verläßt, sehr unverfroren ihre Notizen machen; wir können keinen einzigen Schritt tun, ohne von ihnen, wohin wir auch gehen, verfolgt zu werden. Wir können in keinen Omnibus steigen und kein Kaffeehaus betreten, ohne mit der Gesellschaft wenigstens eines dieser unbekannten Freunde beehrt zu werden. <317> Wir wissen nicht, ob die mit dieser dankbaren Tätigkeit betrauten Herren im "Dienste Ihrer Majestät" stehen, aber wir wissen, daß die Mehrzahl von ihnen alles andere als sauber und ehrbar aussieht.

Welchen Nutzen sollen jemandem die spärlichen Berichte bringen, die so von einer Bande elender Spione an unseren Türen zusammengekratzt werden, von männlichen Prostituierten übelster Sorte, die meistens aus der Klasse gemeiner Denunzianten hergeholt und pro Bericht bezahlt zu werden scheinen? Sollte diese zweifellos außerordentlich glaubwürdige Berichterstattung so wertvoll sein, daß sie irgend jemandem das Recht gibt, ihretwegen den althergebrachten Ruhm der Engländer zu opfern, demzufolge in ihrem Lande keine Möglichkeit zur Einführung jenes Spitzelsystems besteht, von dem kein einziges Land auf dem Kontinent frei ist?

Außerdem waren wir immer und sind auch jetzt bereit, der Regierung jede gewünschte Auskunft über uns zu geben, soweit es in unserer Macht steht.

Wir wissen jedoch sehr gut, was dahinter steckt. Die preußische Regierung hat die Gelegenheit wahrgenommen, das kürzliche Attentat auf Friedrich Wilhelm IV. für einen neuen Feldzug gegen ihre politischen Feinde in Preußen und außerhalb Preußens zu benutzen. Und weil ein notorischer Irrer auf den König von Preußen einen Schuß abgegeben hat, soll die englische Regierung dazu verleitet werden, die Fremdenbill gegen uns anzuwenden, obwohl wir uns nicht vorstellen können, in welcher Hinsicht unsere Anwesenheit in London mit "der Erhaltung des Friedens und der Ruhe in diesem Reiche" überhaupt in Kollision geraten könnte.

Als wir vor etwa acht Jahren in Preußen das bestehende Regierungssystem angriffen, antworteten die Beamten und die Presse, wenn diesen Herren das preußische System nicht gefalle so stehe es ihnen völlig frei, das Land zu verlassen. Wir verließen das Land, und wir wußten warum. Doch nachdem wir es verlassen hatten, fanden wir Preußen überall; ob in Frankreich, in Belgien oder in der Schweiz - wir fühlten den Einfluß des preußischen Gesandten. Wenn wir durch seinen Einfluß zum Verlassen dieser letzten Zuflucht, die uns in Europa geblieben ist, gezwungen werden sollten, dann wird Preußen allerdings glauben, daß es die weltbeherrschende Macht sei.

Bis jetzt war England das einzige Hindernis auf dem Wege der Heiligen Allianz, die gegenwärtig unter dem Schutz Rußlands wiedererrichtet wird; und die Heilige Allianz, von der Preußen einen wesentlichen Bestandteil bildet, erstrebt nichts weniger, als das rußlandfeindliche England zu einer Innenpolitik mehr oder minder russischer Prägung zu verleiten. Wahrlich, was würde Europa von den letzten diplomatischen Noten und parlamentarischen Versicherungen der britischen Regierung halten, wenn diese durch eine <318> Anwendung der Fremdenbill kommentiert würden, die lediglich auf gehässige Beweggründe fremder reaktionärer Regierungen zurückzuführen ist?

Die preußische Regierung behauptet, daß der auf ihren König abgegebene Schuß das Resultat weitverzweigter revolutionärer Verschwörungen sei, deren Zentrum in London gesucht werden müsse. Dementsprechend vernichtet sie als erstes die Preßfreiheit in ihrem Lande und fordert zweitens von der englischen Regierung, die angeblichen Führer dieser angeblichen Verschwörung aus dem Lande auszuweisen.

Wenn man den persönlichen Charakter und die Qualitäten des jetzigen preußischen Königs und die seines Bruders, des Thronerben, betrachtet, welche Partei hat dann ein größeres Interesse an einer schnellen Thronfolge - die revolutionäre Partei oder die Ultraroyalisten?

Gestatten Sie uns zu erklären, daß vierzehn Tage vor dem in Berlin verübten Attentat Personen an uns herantraten, die wir aus gutem Grunde als Agenten entweder der preußischen Regierung oder der Ultraroyalisten ansehen, und uns fast direkt zu Verschwörungen aufforderten, mit dem Ziel, in Berlin und anderswo Königsmord zu organisieren. Wir brauchen nicht hinzuzufügen, daß diese Personen keine Chance hatten, uns zu übertölpeln.

Gestatten Sie uns zu erklären, daß nach dem Attentat weitere Personen ähnlichen Charakters versucht haben, sich uns aufzudrängen, und zu uns in ähnlicher Weise gesprochen haben.

Gestatten Sie uns zu erklären, daß der Sergeant Sefeloge, der auf den König geschossen hat, nicht ein Revolutionär, sondern ein Ultraroyalist war.

Er gehörte der Sektion Nr. 2 des Treubunds, einer ultraroyalistischen Gesellschaft, an. Er ist unter der Nummer 133 in der Mitgliederliste eingetragen. Er wurde eine Zeitlang von dieser Gesellschaft mit Geld unterstützt; seine Papiere wurden aufbewahrt im Hause eines ultraroyalistischen Majors, der im Kriegsministerium angestellt ist.

Wenn diese Angelegenheit jemals vor einem öffentlichen Gericht behandelt werden sollte, was wir bezweifeln, so wird die Öffentlichkeit deutlich genug erkennen können, ob es Hintermänner dieses Attentats gegeben hat und wer sie gewesen sind.

Die ultraroyalistische "Neue Preußische Zeitung" war die erste, die die Flüchtlinge in London beschuldigte, die wirklichen Urheber des Attentats zu sein. Sie nannte sogar einen der Unterzeichneten, von dem sie schon einmal vorher behauptet hatte, daß er vierzehn Tage lang in Berlin gewesen sei, während er London keinen Augenblick verlassen hat, wie eine große Anzahl Zeugen bestätigen kann. Wir haben an Herrn Bunsen, den preußischen Gesandten, geschrieben und ihn gebeten, uns die betreffenden Nummern <319> dieser Zeitung zu verschaffen. Die uns von jenem Herrn erwiesene Aufmerksamkeit ging nicht soweit, ihn zu dem zu veranlassen, was wir von der courtoisie <Höflichkeit> eines Chevalier erwartet hätten.

Wir glauben, Sir, daß wir unter diesen Umständen nichts Besseres tun können, als die ganze Sache vor die Öffentlichkeit zu bringen. Auch glauben wir, daß die Engländer an allem Anteil nehmen, was den althergebrachten Ruf Englands, das sicherste Asyl für Flüchtlinge aller Parteien und aller Länder zu sein, mehr oder minder beeinträchtigen könnte.

Wir verbleiben, Sir, Ihre sehr ergebenen Diener,

Charles Marx,

} Redakteure der Kölner "Neuen Rheinischen Zeitung"

Fred. Engels,

Aug. Willich,

Oberst in der badischen Revolutionsarmee