[Die Situation in Paris] | Inhalt | Camphausen

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 214-217
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

Die "Kölnische Zeitung" über die Wahlen

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 210 vom 1. Februar 1849]

<214> *Köln, 30. Januar. Die "Kölnische Zeitung" hat endlich auch Wahlberichte erhalten, und zwar Berichte, die einigermaßen Öl in ihre Wunden gießen.

"Die demokratischen Wahlberichte", ruft Ehren-Brüggemann freudetrunken aus, "die demokratischen Wahlberichte" (d.h. die "Neue Rheinische Zeitung") "haben arg aufgeschnitten. Die Reklamationen kommen uns jetzt von allen Seiten zu."

Von allen Seiten! Die "Kölnische" wird uns mit der Wucht ihrer "Reklamationen" erdrücken. Zwei Seiten gedrängter Wahlbulletins, jedes eine "arge Aufschneiderei" der "Neuen Rheinischen Zeitung", jedes einen Sieg der Konstitutionellen nachweisend, werden uns die purpurnste Schamröte in die Wangen treiben?

Im Gegenteil.

"Die Reklamationen kommen uns jetzt von allen Seiten zu."

Ehren-Brüggemann "schneidet" nicht "auf". Es kommen ihm wirklich summa summarum vier ganze Reklamationen zu: aus Westen (Trier), Norden (Hamm), Süden (Siegburg) und Osten (Arnsberg)! Sind das nicht "Reklamationen von allen Seiten" gegen das "arge Aufschneiden der demokratischen Wahlberichte"!

Lassen wir ihr einstweilen den Genuß, zu glauben, daß in diesen vier entscheidenden Orten die Konstitutionellen gesiegt haben. Ohnehin wird dieser Genuß verbittert durch den Schmerz, daß doch an manchen Orten die Konstitutionellen der "Verführbarkeit der Massen" erlegen sind.

Naives Geständnis der Konstitutionellen, daß für sie die "Massen" nicht "verführbar" sind!

Doch ein Trost bleibt der "Kölnischen Zeitung". Und welcher Trost?

<215> Der Trost, daß der Koblenzer Korrespondent der "Deutschen Zeitung" ihr Leidensgenosse ist, daß er in dieser unglücklichen Konstellation passende Worte gesprochen hat, würdig, in den ersten Kolumnen der "Kölnischen Zeitung" zu figurieren:

"Merkt, daß die politische Frage auch in diesem Punkte, wie überall, klein wird gegen die soziale, daß sie ganz darin aufgeht."

Noch bis vor wenig Tagen wollte die "Kölnische Zeitung" von der sozialen Frage nichts wissen. Sie kam nie, oder höchstens mit einer gewissen Frivolität (soweit es der "Kölnischen" möglich ist, frivol zu sein), auf dies jenseitige Wesen zu sprechen. Sie verhielt sich gottlos, ungläubig, freigeistig zu ihr. Da auf einmal geht es ihr wie dem Fischer in "Tausendundeiner Nacht"; wie vor ihm der Genius aus dem vom Meeresgrund aufgefischten, entsiegelten Gefäß sich riesengroß erhob, so ersteht vor der zitternden "Kölnischen" plötzlich aus der Wahlurne das dräuende Riesengespenst der "sozialen Frage". Erschrocken sinkt Ehren-Brüggemann in die Knie; seine letzte Hoffnung schwindet, das Gespenst verschluckt mit einem Zuge seine ganze, jahrelang zärtlich gehätschelte "politische Frage" samt Rechtsböden und Zubehör.

Kluge Politik der "Kölnischen Zeitung". Ihre politische Niederlage sucht sie durch ihre soziale Niederlage zu beschönigen.

Diese Entdeckung, daß sie nicht nur auf politischem, sondern auch auf sozialem Gebiet geschlagen ist, das ist die größte Urwahlerfahrung der "Kölnischen"!

Oder schwärmte die "Kölnische Zeitung" etwa schon früher für die "soziale Frage"?

In der Tat, Montesquieu LVI. hatte in der "Kölnischen Zeitung" erklärt, die soziale Frage sei unendlich wichtig, und die Anerkennung der oktroyierten Verfassung sei die Lösung der sozialen Frage. <Siehe "Montesquieu LVI.">

Die Anerkennung der oktroyierten Verfassung - das ist aber vor allem das, was die "Kölnische Zeitung" die "politische Frage" nennt.

Vor den Wahlen also ging die soziale Frage in die politische, nach den Wahlen geht die politische in die soziale auf. Das ist also der Unterschied, das die Urwahlerfahrung, daß nach den Wahlen gerade das Umgekehrte von dem richtig ist, was vor den Wahlen ein Evangelium war.

"Die politische Frage geht in die soziale auf!"

Lassen wir außer Augen, daß wir vor den Wahlen bereits möglichst handgreiflich auseinandergesetzt haben, wie von einer "sozialen Frage" als solcher <216> gar nicht die Rede sein kann, wie jede Klasse ihre eigene soziale Frage hat und wie mit dieser sozialen Frage einer bestimmten Klasse auch zugleich eine bestimmte politische Frage für diese Klasse gegeben ist <Siehe "Montesquieu LVI.", S. 190-196>. Lassen wir alle diese leichtfertigen Randglossen gegenüber der ernsten, gediegenen Kölnerin außer Augen, und gehen wir, soviel möglich, auf den Gedankengang und die Redeweise dieses charaktervollen und tiefsinnigen Blattes ein.

Unter der sozialen Frage versteht die "Kölnische Zeitung" die Frage: Wie ist der Kleinbürgerschaft, den Bauern und dem Proletariat zu helfen?

Und jetzt, da bei den Urwahlen die Kleinbürgerschaft, die Bauern und die Proletarier sich von der großen Bourgeoisie, dem hohen Adel und der hohen Bürokratie emanzipiert haben, jetzt ruft die "Kölnische Zeitung": "Die politische Frage geht in die soziale auf!"

Schöner Trost für die "Kölnische"! Also, daß die Arbeiter, die Bauern und die kleineren Bürger die großbürgerlichen und sonstigen wohlangesehenen konstitutionellen Kandidaten der "Kölnischen Zeitung" mit eklatanten Majoritäten aus dem Felde geschlagen haben, das ist keine Niederlage der "Konstitutionellen", sondern bloß ein Sieg der "sozialen Frage"! Daß die Konstitutionellen geschlagen, beweist nicht, daß die Demokraten gesiegt haben, sondern daß die Politik gegenüber den materiellen Fragen aus dem Spiele geblieben ist.

Tiefdenkende Gründlichkeit des benachbarten Publizisten! Diese Kleinbürger, die am Rande des Untergangs schweben, schwärmen sie etwa für die oktroyierte Verfassung? Diese Bauern, die hier von Hypotheken und Wucher, dort von Feudallasten erdrückt werden, sind sie begeistert für die Finanz- und Feudalbarone, ihre eigenen Unterdrücker, zu deren Nutz und Frommen gerade die oktroyierte Verfassung erfunden? Und vollends diese Proletarier, die zu gleicher Zeit unter der Reglementierungswut unserer Bürokraten und unter der Profitwut unserer Bourgeoisie schmachten, haben sie Grund, sich darüber zu freuen, daß die oktroyierte Verfassung ein neues Band um diese beiden Klassen von Volksaussaugern schlingt?

Haben nicht alle diese drei Klassen vor allem ein Interesse an der Wegschaffung der ersten Kammer, die nicht sie vertritt, sondern ihre direkten Gegner und Unterdrücker?

In der Tat, die "Kölnische Zeitung" hat recht: Die soziale Frage verschluckt die politische, die neu in die politische Bewegung eingetretenen Klassen werden im Interesse der "sozialen Frage" gegen ihr eigenes politisches Interesse und für die oktroyierte Verfassung stimmen!

<217> Können die Kleinbürger und Bauern, und vollends die Proletarier, eine bessere Staatsform für die Vertretung ihrer Interessen finden als die demokratische Republik? Sind nicht gerade diese Klassen die radikalsten, die demokratischsten der ganzen Gesellschaft? Ist nicht das Proletariat gerade die spezifisch rote Klasse? - Einerlei, ruft die "Kölnische", die soziale Frage verschluckt die politische.

Der Sieg der sozialen Frage ist zugleich der Sieg der oktroyierten Verfassung nach der "Kölnischen".

Aber die "soziale Frage" der "Kölnischen Zeitung" hat auch eine ganz aparte Beschaffenheit. Man lese den Bericht der "Kölnischen Zeitung" über die Wahlen zur ersten Kammer und ihren "glücklichen Ausfall", der darin besteht, daß Herr Joseph Dumont Wahlmann geworden ist. Die eigentliche soziale Frage der "Kölnischen Zeitung" ist dadurch allerdings gelöst, und ihr gegenüber verschwinden alle die untergeordneten "sozialen Fragen", welche bei Gelegenheit der Wahlen zur plebejischen zweiten Kammer etwa auftauchen konnten.

Möge der Sturm der in Paris in diesem Augenblick dräuend sich erhebenden welthistorischen "politischen Frage" die zarte "soziale Frage" der "Kölnischen Zeitung" nicht schonungslos zerknicken!

Geschrieben von Karl Marx.