Die Berliner "National-Zeitung" an die Urwähler | Inhalt | [Die Situation in Paris]

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 209-211
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

Zustand in Paris

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 209 vom 31. Januar 1849]

<209> * Paris, 28. Januar. Die Gefahr eines Volksaufstandes ist vorderhand beseitigt durch das Votum der Kammer gegen die Dringlichkeit des Klubverbots, d.h. gegen das Klubverbot überhaupt. Aber eine neue Gefahr taucht auf: die Gefahr des Staatsstreichs.

Man lese den heutigen "National" und sage, ob nicht aus jeder Zeile die Furcht vor dem Staatsstreich hervorleuchtet.

"Das Votum von heute ist ein tödlicher Streich für das Kabinett, und wir fordern Herrn Odilon Barrot, Faucher und tutti quanti <alle Leute dieser Art> heraus, jetzt ihre Portefeuilles noch länger zu behaupten ..."

Soweit scheint der "National" noch gutes Muts zu sein. Aber man höre den Nachsatz:

" ... ohne in offne Revolte gegen den Geist und den Buchstaben der Verfassung zu treten!"

Und was läge Herrn Odilon Barrot, Faucher und tutti quanti daran, in offne Revolte gegen die Verfassung zu treten! Seit wann schwärmen Barrot und Faucher für die Verfassung von 1848!

Der "National" droht den Ministern nicht mehr, er demonstriert ihnen, daß sie abtreten müssen, er demonstriert dem Präsidenten, daß er sie entlassen muß. Und das in einem Lande, wo sich der Rücktritt der Minister nach einem solchen Votum seit dreißig Jahren von selbst versteht!

Der Präsident der Republik, sagt der "National", wird das hoffentlich einsehn, daß die Majorität und das Kabinett in vollständiger Zwietracht sind, daß er durch Entlassung des Kabinetts die Bande zwischen sich und der <210> Majorität enger knüpfen wird, daß zwischen ihm und der Majorität nur ein Hindernis des guten Vernehmens besteht: das Kabinett.

Ja, der "National" sucht dem Ministerium eine goldene Brücke zum Rückzug zu bauen: Er wünscht, daß die Anklage gegen die Minister fallengelassen werde. Das Votum sei Strafe genug. Dies letzte Mittel möge aufgespart werden, bis die Minister die Konstitution wirklich durch einen vollendeten Akt verletzt haben.

Ja, ruft er zuletzt aus, alles macht es dem Kabinett zur Pflicht, sich zurückzuziehen; seine eigenen Worte binden es derart, daß wir zögern zu glauben, es werde die Gewalt zu behalten wagen. Herr Barrot erklärte heut abend, daß, wenn die Dringlichkeit verworfen werde, die Versammlung selbst die Verantwortlichkeit für die Ereignisse übernehme. Gut, wo die Verantwortlichkeit aufhört, muß auch die Macht aufhören. Will das Kabinett nicht verantwortlich sein für die Ereignisse, so darf es sie auch nicht dirigieren. Herr Barrot hat seine Demission auf der Tribüne niedergelegt, indem er die Verantwortlichkeit ablehnte.

Kurz: Der "National" glaubt nicht an den freiwilligen Rücktritt des Ministeriums und ebensowenig an seine Entlassung durch den Präsidenten.

Wenn aber das Ministerium dem Votum der Versammlung trotzen will, so bleibt ihm nichts als - der Staatsstreich.

Die Auflösung der Nationalversammlung und die Vorbereitung der monarchischen Restauration durch Militärgewalt, das ist es, was hinter der Furcht des "National" vor dem Bleiben des Ministeriums lauert.

Daher bitten der "National" und die roten Blätter das Volk, nur ja ruhig zu bleiben, nur ja keinen Vorwand zum Einschreiten zu geben, da jede Erneute nur das fallende Kabinett stützen, nur der royalistischen Kontrerevolution dienen könne.

Daß der Staatsstreich immer näher rückt, beweisen die Vorfälle zwischen Changarnier und den Offizieren der Mobilgarde. Die bouchers de Cavaignac <Schlächter Cavaignacs> haben keine Lust, sich zu einem royalistischen Coup gebrauchen zu lassen; deshalb sollen sie aufgelöst werden; sie murren, und Changarnier droht, sie zusammenhauen zu lassen, und steckt ihre Offiziere in Arrest.

Die Situation kompliziert sich scheinbar; in der Tat aber wird sie sehr einfach, so einfach, wie sie jedesmal am Vorabend einer Revolution ist.

Der Konflikt zwischen der Versammlung und dem Präsidenten nebst seinen Ministern ist zum Ausbruch gekommen. Frankreich kann unter der Impotenz, von der es seit 10 Monaten regiert wird, nicht länger existieren; das <211> Defizit, der gedrückte industrielle und kommerzielle Zustand, der Steuerdruck, der den Ackerbau ruiniert, werden täglich unerträglicher; große, einschneidende Maßregeln werden immer dringender, und jede neue Regierung ist immer impotenter und tatloser als die frühere; bis endlich Odilon Barrot die Untätigkeit auf die Spitze getrieben und in sechs Wochen absolut gar nichts getan hat.

Dadurch aber hat er die Situation sehr vereinfacht. Nach ihm ist kein Ministerium der honetten Republik mehr möglich. Die gemischten Regierungen (das Provisorium und die Exekutivkommission), die Regierung des "National", die Regierung der alten Linken, alles ist durchgemacht, alles verschlissen und abgenutzt. Die Reihe kommt jetzt an Thiers, und Thiers ist die unverhüllte monarchische Restauration.

Monarchische Restauration oder - rote Republik, das ist jetzt die einzige Alternative in Frankreich. Die Krisis kann sich noch einige Wochen hinziehen, aber ausbrechen muß sie. Changarnier-Monk mit seinen Dreihunderttausend, die ihm für 24 Stunden gänzlich zu Gebot stehen, scheint auch nicht länger warten zu wollen.

Daher die Angst des "National". Er erkennt seine Unfähigkeit, die Situation zu beherrschen; er weiß, daß jede gewaltsame Änderung der Regierung seine heftigsten Feinde zur Herrschaft bringt, daß er bei der Monarchie wie bei der roten Republik verloren ist. Daher sein Seufzen nach einer friedlichen Transaktion, seine Höflichkeit gegen die Minister.

Wir werden sehr bald sehn, ob es zum endlichen Siege der roten Republik nötig ist, daß Frankreich für einen Augenblick durch die monarchische Phase passiert. Möglich ist es, aber nicht wahrscheinlich.

Das aber ist gewiß. Die honette Republik bricht an allen Ecken zusammen, und nach ihr ist, wenn auch erst nach einigen kleinen Intermezzos, nur noch möglich die rote Republik.