[Belagerungszustand überall] | Inhalt | Manteuffel und die Zentralgewalt

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 46-54
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

Die deutsche Zentralgewalt und die Schweiz

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 153 vom 26. November 1848]

<46> *Köln, 24. November. In den Komödien des vorigen Jahrhunderts, namentlich den französischen, fehlt es nie an einem Bedienten, der das Publikum dadurch erheitert, daß er jeden Augenblick Prügel, Püffe und, in Szenen von besonderm Effekt, sogar Fußtritte bekommt. Die Rolle dieser Bedienten ist gewiß nicht dankbar, aber sie ist noch beneidenswert gegen eine Rolle, die auf unserm Frankfurter Reichstheater stehend ist: gegen die des Reichsministers der auswärtigen Angelegenheiten. Die Bedienten im Lustspiel haben wenigstens ein Mittel, sich zu rächen - sie haben Witz. Aber der Reichsminister!

Seien wir gerecht. Das Jahr 1848 trägt allen Ministern der auswärtigen Angelegenheiten keine Rosen. Palmerston und Nesselrode sind bis jetzt froh gewesen, daß man sie in Ruhe ließ. Der schwunghafte Lamartine, der mit seinen Manifesten selbst deutsche alte Jungfern und Witwen zu Tränen rührte, hat sich mit zerknickten und zerrupften Schwingen verschämt auf die Seite schleichen müssen. Sein Nachfolger, Bastide, der noch vor einem Jahr im "National" und der obskuren "Revue nationale" als offizieller Kriegsdrommetenschmetterer die tugendhafteste Entrüstung über die feige Politik Guizots ausschüttete, vergießt jetzt allabendlich stille Tränen über die Lektüre seiner œuvres complétes de la veille <gesammelte Werke vom Vorabend (der Revolution)> und über den herben Gedanken, daß er tagtäglich mehr zum Guizot der honetten Republik herabsinkt. Alle diese Minister haben jedoch einen Trost: Ist es ihnen im Großen schlecht gegangen, so haben sie im Kleinen, in dänischen, sizilianischen, argentinischen, walachischen und andern entlegenen Fragen, Revanche nehmen können. Selbst der preußische auswärtige Minister, Herr Arnim, als er den unangenehmen <47> dänischen Waffenstillstand schloß, hatte die Genugtuung, nicht bloß der Geprellte zu sein sondern auch jemanden zu prellen, und dieser Jemand war - der Reichsminister!

In der Tat, der Reichsminister des Auswärtigen ist der einzige von allen, der eine rein passive Rolle gespielt, der Stöße erhalten, aber keinen einzigen ausgeteilt hat. Er ist seit den ersten Tagen seines Amtsantritts das auserkorne Sündenlamm gewesen, auf den alle Kollegen der Nachbarstaaten ihre Galle ausgossen, an dem sie alle Vergeltung nahmen für die kleinen Leiden des diplomatischen Lebens, an denen auch sie ihren Teil zu tragen hatten. Da er geschlagen und gemartert wurde, tat er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Wo ist einer, der da sagen kann, der Reichsminister habe ihm ein Härlein gekrümmt? Wahrlich, die deutsche Nation wird es Herrn Schmerling nie vergessen, daß er mit solcher Entschlossenheit und Konsequenz die Traditionen des alten heiligen römischen Reichs wiederaufzunehmen gewagt hat.

Sollen wir den Duldermut, den Herr v. Schmerling entfaltet hat, durch ein Register seiner diplomatischen Erfolge noch konstatieren? Sollen wir zurückkommen auf die Reise des Herrn Max Gagern von Frankfurt nach Schleswig, jenes würdige Seitenstück zu weiland "Sophiens Reise von Memel nach Sachsen"? Sollen wir die ganze erbauliche Historie vom dänischen Waffenstillstand wieder hervorsuchen? Sollen wir auf die verunglückte Mediationsanerbietung in Piemont und auf Herrn Heckschers diplomatische Studienreise aus Reichsstipendien eingehen? Es ist nicht nötig. Die Tatsachen sind zu neu und zu schlagend, als daß man sie nur zu erwähnen brauchte.

Aber alles hat seine Grenzen, und am Ende muß auch der Geduldigste einmal zeigen, daß er Haare auf den Zähnen hat, sagt der deutsche Spießbürger. Getreu dieser Maxime einer Klasse, die unsere Herren Staatsmänner für die große wohlgesinnte Majorität in Deutschland erklären, hat Herr v. Schmerling endlich auch einmal das Bedürfnis gefühlt, zu zeigen, daß er Haare auf den Zähnen hat. Das Sündenlamm suchte einen Sündenbock und glaubte ihn endlich in der Schweiz gefunden zu haben. Die Schweiz - kaum zwei und eine halbe Million Einwohner, Republikaner obendrein, die Zufluchtstätte, von der aus Hecker und Struve nach Deutschland eingefallen und das neue heilige römische Reich schwer beunruhigt haben -, kann man eine bessere und zugleich ungefährlichere Gelegenheit finden, zu beweisen, daß das "große Deutschland" Haare auf den Zähnen hat?

Sofort wurde eine "energische" Note an den Vorort Bern wegen der Umtriebe der Flüchtlinge gerichtet. Der Vorort Bern jedoch antwortete dem <48> "großen Deutschland" im Namen der "kleinen Schweiz" ebenso energisch im Bewußtsein seines guten Rechts. Das aber schüchterte Herrn Schmerling keineswegs ein. Die Haare wuchsen ihm erstaunlich schnell auf den Zähnen, und schon am 23. Oktober wurde eine neue, noch "energischere" Note abgefaßt und am 2. November dem Vorort behändigt. Hier drohte Herr Schmerling der unartigen Schweiz schon mit der Rute. Der Vorort, noch rascher bei der Hand als der Reichsminister, antwortete schon zwei Tage darauf mit derselben Ruhe und Entschiedenheit wie früher, und Herr Schmerling wird nun also seine "Vorkehrungen und Maßregeln" gegen die Schweiz in Kraft treten lassen. Er ist bereits damit aufs eifrigste beschäftigt, wie er in der Frankfurter Versammlung erklärt hat.

Wäre diese Drohung ein gewöhnliches Reichspossenspiel, wie wir deren schon so viele in diesem Jahr gesehen, wir würden kein Wort darüber verlieren. Da aber unsern Reichs-Don-Quixoten oder vielmehr Reichs-Sanchos in der Verwaltung des auswärtigen Amts ihrer Insel Barataria nie Unverstand genug zuzutrauen ist, so kann es leicht kommen, daß wir durch diese Schweizer Differenz in allerhand neue Verwicklungen geraten. Quidquid delirant reges usw. <jeglichen Wahnwitz der Fürsten - die Griechen, sie müssen ihn büßen. Horaz, "Epistole", erstes Buch, Epistel III>.

Sehen wir uns also die Reichsnote an die Schweiz etwas näher an.

Es ist bekannt, daß die Schweizer das Deutsche schlecht sprechen und nicht viel besser schreiben. Aber die Antwortnote des Vororts ist, was den Stil angeht, ein goethisch-gerundetes Meisterwerk gegen das schülerhafte, unbeholfene, stets um den Ausdruck verlegene Deutsch des Reichsministeriums. Der schweizerische Diplomat (wie es heißt, der Bundeskanzler Schieß) scheint absichtlich seine Sprache besonders rein, fließend und gebildet gehalten zu haben, um schon in dieser Beziehung einen ironischen Kontrast zu bilden gegen die Note des Reichsverwesers, die von einem der Rotmäntel Jellachichs gewiß nicht schlechter stilisiert worden wäre. Es sind Sätze in der Reichsnote, die gar nicht zu verstehen, und andere, die von vollendeter Holprigkeit sind, wie man weiter unten sehen wird. Aber sind nicht diese Sätze gerade geschrieben "in der Sprache der Geradheit, die die Regierung des Reichsverwesers im Völkerverkehr sich stets zur Pflicht machen wird"?

Nicht besser geht es dem Herrn Schmerling, was den Inhalt anbetrifft. Gleich im ersten Absatz erinnert er

"an die Tatsache, daß über die deutsche Note vom 30. Juni d.J. in der Tagsatzung mehrere Wochen hindurch, bevor irgendeine Antwort erfolgte, in einem Tone verhandelt wurde, welcher zu jener Zeit einem Vertreter Deutschlands den Aufenthalt in der Schweiz unmöglich gemacht haben würde".

(Hier ist gleich eine Stilprobe.)

<49> Der Vorort ist gutmütig genug, der "Regierung des Reichsverwesers" nach den Protokollen der Tagsatzung zu beweisen, daß diese "mehrere Wochen langen" Debatten sich auf eine einzige kurze Verhandlung an einem einzigen Tage beschränken. Man sieht, wie unser Reichsminister, statt die Aktenstücke nachzuschlagen, lieber dem Schatz seines verworrenen Gedächtnisses vertraut. Wir werden dafür noch mehr Beweise finden.

Die Regierung des Reichsverwesers kann übrigens in dieser Gefälligkeit des Vororts, in der Bereitwilligkeit, mit der er ihrem schwachen Gedächtnis nachhilft, einen Beweis der "freundnachbarlichen Gesinnungen" der Schweiz finden. Wahrhaftig, hätte sie sich beigehen lassen, in einer Note auf ähnliche Weise von den englischen Parlamentsdebatten zu sprechen, die trockene Insolenz Palmerston würde ihr ganz anders die Tür gewiesen haben! Der preußische und östreichische Gesandte in London können ihr erzählen, was über ihre resp. Staaten und Noten öffentlich verhandelt wurde, ohne daß ein Mensch daran dachte, daß ihr Aufenthalt in London dadurch unmöglich geworden. Diese Schüler wollen der Schweiz Völkerrecht beibringen und wissen nicht einmal, daß von den Verhandlungen souveräner Versammlungen sie nur das angeht, was beschlossen, nicht aber das, was geredet wird! Diese Logiker behaupten in derselben Note, "die Schweiz werde wissen, daß Angriffe auf die Preßfreiheit nicht von Deutschland ausgehen könnten" (diese Zeilen in der N[euen] Rhein[ischen] Z[eitung]" abzudrucken, reicht schon hin, um sie bitter zu ironisieren) - und wollen sich sogar in die Freiheit der Debatte der damals höchsten schweizerischen Behörden mischen!

"Ein Streit über Grundsätze liegt nicht vor. Es handelt sich nicht um das Asylrecht, noch um die Preßfreiheit. Die Schweiz wird wissen, daß Angriffe gegen diese Rechte nicht von Deutschland ausgehen können. Sie hat wiederholt erklärt, daß sie den Mißbrauch derselben nicht dulden werde, sie hat anerkannt, daß das Asylrecht nicht zu einem Gewerbe für die Schweiz" (was soll das heißen?), "zu einem Kriegszustand für Deutschland" (das Asylrecht ein Kriegszustand, welches Deutsch!) "werden dürfe, daß ein Unterschied sein müsse zwischen einem Obdach für Verfolgte und einem Schlupfwinkel für Wegelagerer."

"Schlupfwinkel für Wegelagerer!" Sind Rinaldo Rinaldini und sämtliche bei Gottfried Basse in Quedlinburg erschienenen Räuberhauptleute aus den Abruzzen mit ihren Banden an den Rhein gezogen, um bei gelegener Zeit das badische Oberland auszuplündern? Ist Karl Moor im Anzuge aus den böhmischen Wäldern? Hat Schinderhannes auch einen Bruderssohn hinterlassen, der als "Neffe seines Onkels" die Dynastie von der Schweiz aus fortsetzen will? Weit entfernt! Struve, der im badischen Gefängnis sitzt, Frau Struve und die paar Arbeiter, die unbewaffnet über die Grenze zogen, das sind die <50> "Wegelagerer", die in der Schweiz ihre "Schlupfwinkel" hatten oder noch haben sollen. Die Reichsgewalt, nicht zufrieden mit den Gefangenen, an denen sie sich rächen kann, entäußert sich so alles Anstandes, daß sie den glücklich Entronnenen Schimpfworte über den Rhein nachschleudert.

"Die Schweiz weiß, daß man ihr keine Preßverfolgungen zumutet, daß nicht von den Zeitungs- und Flugblättern, sondern von deren Urhebern die Rede ist, welche dicht an der Grenze bei Tag und Nacht durch massenweise Einschleppung von Brandschriften einen niedrigen Schmuggelkrieg gegen Deutschland führen."

"Einschleppung!" "Brandschriften!" "niedriger Schmuggelkrieg!" Die Ausdrücke werden immer gebildeter, immer diplomatischer - aber hat sich nicht die Regierung des Reichsverwesers "die Sprache der Geradheit zur Pflicht gemacht"?

Und in der Tat, ihre Sprache ist von merkwürdiger "Geradheit"! Sie mutet der Schweiz keine Preßverfolgungen zu; sie spricht nicht von den "Zeitungen und Flugblättern", sondern von "deren Urhebern". Diesen soll das Handwerk gelegt werden. Aber, ehrliche "Regierung des Reichsverwesers", wenn man in Deutschland einem Blatt den Prozeß macht, z.B. der "Neuen Rhein[ischen] Zeitung", handelt es sich da um das Blatt, das in aller Welt Händen ist und nicht mehr der Zirkulation entzogen werden kann, oder um die "Urheber", die man einsteckt und vor Gericht stellt? Diese brave Regierung verlangt keine Verfolgungen gegen die Presse, bloß gegen die Urheber der Presse. Ehrliche Haut! Wunderbare "Sprache der Geradheit"!

Diese Urheber "führen durch massenweise Einschleppung von Brandschriften einen niedrigen Schmuggelkrieg gegen Deutschland". Dies Verbrechen der "Wegelagerer" ist wirklich unverzeihlich, um so mehr, als "es bei Tag und Nacht" geschieht, und daß die Schweiz dies duldet, ist ein himmelschreiender Bruch des Völkerrechts.

Von Gibraltar aus werden ganze Schiffsladungen englischer Waren nach Spanien hineingeschmuggelt, und die spanischen Pfaffen erklären, daß die Engländer von dort aus "durch Einschleppung von evangelischen Brandschriften", z.B. spanischen Bibeln der Bibelgesellschaft, einen niedrigen Schmuggelkrieg gegen die katholische Kirche führen. Die Fabrikanten von Barcelona fluchen ebensosehr über den niedrigen Schmuggelkrieg, der durch Einschleppung englischer Kalikos von dort aus gegen die spanische Industrie geführt wird. Aber der spanische Gesandte sollte sich nur einmal darüber beschweren, und Palmerston würde ihm antworten: Thou blockhead <Du Dummkopf>, gerade <51> deswegen haben wir ja Gibraltar genommen! Alle andern Regierungen haben bisher zuviel Takt, Geschmack und Überlegung besessen, um sich in Noten über den Schmuggel zu beschweren. Aber die naive Regierung des Reichsverwesers spricht so sehr die "Sprache der Geradheit", daß sie höchst treuherzig erklärt, die Schweiz habe das Völkerrecht verletzt, wenn die badischen Grenzaufseher nicht gehörig aufpassen.

"Die Schweiz kann endlich auch darüber nicht im unklaren sein, daß das Recht des Auslandes sich solcher Unbill zu verwehren, nicht davon abhängen kann, ob es den schweizerischen Behörden an der Macht oder am Willen fehlt, sie zu verbieten."

Die Regierung des Reichsverwesers scheint vollständig "darüber im unklaren zu sein, daß das Recht" der Schweiz, jeden ruhig gewähren zu lassen, der sich den Landesgesetzen unterwirft, sollte er auch durch Einschleppung etc. einen niedrigen Schmuggelkrieg etc. führen, "nicht davon abhängen kann, ob es den deutschen Behörden an der Macht oder am Willen fehlt", diesen Schmuggel "zu verhüten". Die Regierung des Reichsverwesers beherzige die Antwort Heines an den Hamburger, der ihm vom großen Brande vorjammerte:

Schafft Euch beßre Gesetze an,
Und beßre Feuerspritzen -
<H. Heine, "Deutschland. Ein Wintermärchen", Kaput XXI>

und sie wird nicht mehr nötig haben, sich fernerhin durch die Geradheit ihrer Sprache lächerlich zu machen.

"Nur über die Tatsachen ist Streit", heißt es weiter, und wir werden also endlich außer dem niedrigen Schmuggelkrieg einige andere, bedeutende Tatsachen hören. Wir sind begierig.

"Der hohe Vorort verlangt, unter Berufung auf seine Nichtkenntnis, daß er den bestimmten Nachweis von Vorgängen erhalte, welche die gegen die schweizerischen Behörden erhobenen Anklagen zu erhärten vermögen."

Offenbar ein sehr vernünftiges Verlangen von seiten des hohen Vororts. Und die Regierung des Reichsverwesers wird bereitwilligst diesem billigen Verlangen entsprechen?

Keineswegs. Man höre nur:

"Aber ein kontradiktorisches Verfahren zwischen Regierungen über weltkundige Dinge liegt nicht in der Sitte der Völker."

Da habt ihr eine derbe Lektion des Völkerrechts für die arrogante kleine Schweiz, die da glaubt, mit der Regierung des Reichsverwesers des großen Deutschlands ebenso naseweis umspringen zu dürfen wie weiland das kleine <52> Dänemark. Sie sollte sich ein Exempel nehmen an dem dänischen Waffenstillstand und bescheidener werden. Es könnte ihr sonst ebenso gehen.

Wenn die Auslieferung eines gemeinen Verbrechers von einem Nachbarstaate verlangt wird, so läßt man sich in ein kontradiktorisches Verfahren ein, mag das Verbrechen noch so "weltkundig" sein. Aber das kontradiktorische Verfahren oder vielmehr der bloße Nachweis der Schuld, den die Schweiz verlangt, ehe sie - nicht gegen übergetretene gemeine Verbrecher, auch nicht gegen Flüchtlinge, nein, gegen ihre eigenen aus demokratischer Volkswahl hervorgegangenen Beamten einschreitet - dieser Nachweis "liegt nicht in der Sitte der Völker"! Wahrlich, die "Sprache der Geradheit" verleugnet sich nicht einen Augenblick. Gerader heraus kann man nicht gestehen, daß man keine Beweise zu bringen hat.

Und jetzt folgt ein Hagel von Fragen, in dem alle diese weltkundigen Tatsachen aufgezählt werden.

"Zweifelt jemand an dem Treiben der deutschen Aufwiegler in der Schweiz?"

Gewiß niemand, ebensowenig wie an dem Treiben des Herrn Schmerling in Frankfurt. Daß die deutschen Flüchtlinge in der Schweiz meistens irgend etwas "treiben", ist klar. Die Frage ist nur, was sie treiben, und das weiß offenbar Herr Schmerling selbst nicht, sonst würde er's sagen.

"Zweifelt jemand an der Flüchtlingspresse?"

Gewiß niemand. Aber Herr Schmerling selbst erklärt ja, Angriffe gegen die Preßfreiheit könnten nicht von Deutschland kommen. Und wenn sie kämen, die Schweiz würde sie wahrhaftig zurückzuweisen wissen. Was heißt denn diese Frage? Übersetzen wir sie aus der "Sprache der Geradheit" ins Deutsche, so heißt sie weiter nichts als: Die Schweiz soll für die Flüchtlinge die Preßfreiheit aufheben. A un autre, Monsieur de Schmerling! <Erzählen Sie das einem anderen, Herr von Schmerling>

"Soll Deutschland vor Europa die Wallfahrten nach Muttenz beweisen?"

Gewiß nicht, schlaue "Regierung des Reichsverwesers". Aber daß diese Wallfahrten die Ursache des Struveschen Einfalles oder womöglich irgendeiner andern Unternehmung gewesen sind, die mehr Grund zur Klage gegen Schweiz gibt, das zu beweisen, würde der Regierung des Reichsverwesers keine Schande, aber desto mehr Schwierigkeiten machen.

Der Vorort ist abermals so gefällig, mehr zu tun, als "in der Sitte der Völker liegt", und Herrn Schmerling daran zu erinnern, daß die Wallfahrten nach <53> Muttenz gerade Hecker galten, daß Hecker gegen den zweiten Einfall war, er sogar, um allen Zweifel über seine Absichten niederzuschlagen, nach Amerika ging, daß unter den Wallfahrern hervorragende Mitglieder der deutschen Nationalversammlung waren. Der Vorort ist delikat genug, selbst der undelikaten Note des Herrn Schmerling gegenüber den letzten und schlagendsten Grund nicht zu erwähnen: daß nämlich die "Wallfahrer " ja wieder nach Deutschland zurückgingen und dort von der Regierung des Reichsverwesers jeden Augenblick für irgendwelche strafbare Handlung, für all ihr "Treiben" in Muttenz zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Daß dies nicht geschehen, beweist am besten, daß die Regierung des Reichsverwesers keine Data hat, die die Wallfahrer inkriminieren, daß sie also noch viel weniger den schweizerischen Behörden in dieser Beziehung einen Vorwurf machen kann.

"Oder die Versammlungen auf dem Birsfelde?"

Die "Sprache der Geradheit" ist eine schöne Sache. Wer, wie die Regierung des Reichsverwesers, sich diese Sprache "zur Pflicht im Völkerverkehr gemacht hat", der braucht bloß nachzuweisen, daß Versammlungen überhaupt oder auch Versammlungen von Flüchtlingen auf dem Birsfelde stattgefunden haben, um den Schweizer Behörden grobe Verletzung des Völkerrechts vorwerfen zu können. Andre Sterbliche müßten freilich erst nachweisen, was in diesen Versammlungen Völkerrechtwidriges vorgefallen. Aber das sind ja "weltkundige Tatsachen", so weltkundig, daß, ich wette, keine drei unter den Lesern der "N[euen] Rh[einischen] Z[ei]t[un]g" sind, die überhaupt wissen, von welchen Versammlungen Herr Schmerling spricht.

"Oder die Rüstungen der Unheilstifter, die längs der Grenze, in Rheinfelden, Zurzach, Gottlieben und Laufen ihr Wesen treiben dürfen?"

Gottlob! Wir erfahren endlich etwas Näheres über das "Treiben" der Flüchtlinge. Wir haben Herrn von Schmerling unrecht getan, als wir meinten, er wisse nicht, was die Flüchtlinge trieben. Er weiß nicht nur, was sie treiben, er weiß auch, wo sie treiben. Wo treiben sie? In Rheinfelden, Zurzach, Gottlieben und Laufen längs der Grenze. Was treiben sie? "Ihr Wesen!"

"Sie treiben ihr Wesen!" Kolossale Schändung alles Völkerrechts - ihr Wesen l Was treibt denn die Regierung des Reichsverwesers, damit sie das Völkerrecht nicht verletzt - etwa "ihr Unwesen"?

Aber Herr v. Schmerling spricht von "Rüstungen". Und da unter den Städten, wo die Flüchtlinge zum Schrecken des ganzen Reichs ihr Wesen treiben, mehrere sind, die dem Kanton Aargau angehören, so nimmt der Vorort ihn zum Beispiel. Er tut wieder ein übriges, er tut abermals mehr, als "in der <54> Sitte der Völker liegt", und erbietet sich, durch ein "kontradiktorisches Verfahren" nachzuweisen, daß damals im Kanton Aargau nur 25 Flüchtlinge lebten, daß davon nur 10 am zweiten Freischarenzuge Struves teilnahmen und daß auch diese unbewaffnet nach Deutschland hinübergingen. Das waren die ganzen "Rüstungen". Aber was heißt das? Die übrigen 15, die zurückblieben, waren gerade die Gefährlichsten. Sie blieben offenbar nur zurück, um "ihr Wesen" ununterbrochen weiter zu "treiben"!

Das sind die gewichtigen Anklagen der "Regierung des Reichsverwesers" gegen die Schweiz. Weiter weiß sie nichts vorzubringen und braucht es auch nicht, da es "nicht in der Sitte der Völker liegt" usw. Ist die Schweiz schamlos genug, durch diese Anklagen noch nicht niedergeschmettert zu sein, so werden die "Entschließungen" und "Vorkehrungen" der Regierung des Reichsverwesers die niederschmetternde Wirkung nicht verfehlen. Die Welt ist begierig zu erfahren, wie diese Entschließungen und Vorkehrungen beschaffen sein werden, um so begieriger, als Herr Schmerling sie mit dem größten Geheimnis betreibt und selbst der Frankfurter Versammlung nichts Näheres mitteilen will. Die Schweizer Presse hat indes schon nachgewiesen, daß alle Repressalien, die Herr Schmerling ergreifen kann, weit schädlicher auf Deutschland wirken müssen als auf die Schweiz, und nach allen Berichten sehen die Schweizer den "Vorkehrungen und Entschließungen" der reichsverweserlichen Regierung mit dem größten Humor entgegen. Ob die Herren Minister in Frankfurt denselben Humor behaupten werden, besonders wenn englische und französische Noten dazwischenkommen, müssen wir erwarten. Nur eins ist gewiß: Die Sache wird enden wie der dänische Krieg - mit einer neuen Blamage, die diesmal aber nur das offizielle Deutschland treffen wird.

Geschrieben von Friedrich Engels.