Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 463-480
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959


[Friedrich Engels]

Von Paris nach Bern

Geschrieben Ende Oktober bis November 1848. Nach dem Manuskript.
Zum ersten Mal veröffentlicht in der Zeitschrift "Die Neue Zeit", 17. Jahrgang, 1898/99, Bd. 1, Nr. 1 und 2

I - Seine und Loire
II - Burgund




I
Seine und Loire

<463> La belle France! <Schönes Frankreich!> In der Tat, die Franzosen haben ein schönes Land, und sie haben recht, wenn sie stolz darauf sind.

Welches Land in Europa will sich an Reichtum, an Mannigfaltigkeit der Anlagen und Produkte, an Universalität mit Frankreich messen?

Spanien? Aber zwei Drittel seiner Oberfläche sind durch Nachlässigkeit oder von Natur eine heiße Steinwüste, und die atlantische Seite der Halbinsel, Portugal, gehört nicht zu ihm.

Italien? Aber seit die Welthandelsstraße durch den Ozean geht, seit die Dampfschiffe das Mittelmeer durchkreuzen, liegt Italien verlassen da.

England? Aber England ist seit achtzig Jahren aufgegangen in Handel und Industrie, Kohlenrauch und Viehzucht, und England hat einen schrecklich bleiernen Himmel und keinen Wein.

Und Deutschland? Im Norden eine platte Sandebene, vom europäischen Süden durch die granitne Wand der Alpen getrennt, weinarm, Land des Bieres, Schnapses und Roggenbrots, der versandeten Flüsse und Revolutionen!

Aber Frankreich! An drei Meeren gelegen, von fünf großen Strömen in drei Richtungen durchzogen, im Norden fast deutsches und belgisches, im Süden fast italienisches Klima; im Norden der Weizen, im Süden der Mais und Reis; im Norden die Colza <Raps>, im Süden die Olive; im Norden der Flachs, im Süden die Seide, und fast überall der Wein.

Und welcher Wein! Welche Verschiedenheit, vom Bordeaux bis zum Burgunder, vom Burgunder zum schweren St. Georges, Lünel und Frontignan des Südens, und von diesem zum sprudelnden Champagner! Welche Mannigfaltigkeit des Weißen und des Roten, vom Petit Mâcon oder Chablis <464> zum Chambertin, zum Château Larose, zum Sauterne, zum Roussilloner, zum Ai Mousseux! Und wenn man bedenkt, daß jeder dieser Weine einen verschiedenen Rausch macht, daß man mit wenig Flaschen alle Zwischenstufen von der Musardschen Quadrille bis zur "Marseillaise", von der tollen Lust des Cancans bis zur wilden Glut des Revolutionsfiebers durchmachen und sich schließlich mit einer Flasche Champagner wieder in die heiterste Karnevalslaune von der Welt versetzen kann!

Und Frankreich allein hat ein Paris, eine Stadt, in der die europäische Zivilisation zu ihrer vollsten Blüte sich entfaltet, in der alle Nervenfasern der europäischen Geschichte sich vereinigen und von der in gemessenen Zeiträumen die elektrischen Schläge ausgehn, unter denen eine ganze Welt erbebt; eine Stadt, deren Bevölkerung die Leidenschaft des Genusses mit der Leidenschaft der geschichtlichen Aktion wie nie ein andres Volk vereinigt, deren Bewohner zu leben wissen wie der feinste Epikureer Athens und zu sterben wie der unerschrockenste Spartaner, Alcibiades und Leonidas in einem; eine Stadt, die wirklich, wie Louis Blanc sagt, Herz und Hirn der Welt ist.

Wenn man von einem hohen Punkte der Stadt oder vom Montmartre oder der Terrasse von Saint-Cloud Paris überschaut, wenn man die Umgegend der Stadt durchstreift, so meint man, Frankreich wisse, was es an Paris besitze, Frankreich habe seine besten Kräfte verschwendet, um Paris recht zu hegen und zu pflegen. Wie eine Odaliske auf bronzeschillerndem Divan liegt die stolze Stadt an den warmen Rebenhügeln des gewundenen Seinetals. Wo in aller Welt gibt es eine Aussicht wie die von den beiden Versailler Eisenbahnen hinab auf das grüne Tal mit seinen zahllosen Dörfern und Städtchen, und wo gibt es so reizend gelegene, so reinlich und nett gebaute, so geschmackvoll angelegte Dörfer und Städtchen wie Suresnes, Saint-Cloud, Sèvres, Montmorency, Enghien und zahllose andre? Man gehe hinaus zu welcher Barriere man will, man verfolge seinen Weg aufs Geratewohl, und überall wird man auf dieselbe schöne Umgehung, auf denselben Geschmack in der Benutzung der Gegend, auf dieselbe Zierlichkeit und Reinlichkeit stoßen. Und doch ist es wieder nur die Königin der Städte selbst, die sich dies wunderbare Lager geschaffen hat.

Aber freilich gehört auch ein Frankreich dazu, um ein Paris zu schaffen, und erst wenn man den üppigen Reichtum dieses herrlichen Landes kennengelernt hat, begreift man, wie dies strahlende, üppige, unvergleichliche Paris zustande kommen konnte. Man begreift es freilich nicht, wenn man von Norden kommt, auf der Eisenbahn die Blachfelder Flanderns und Artois', die wald- und rebenlosen Hügel der Picardie durchfliegend. Da sieht man nichts als Kornfelder und Weiden, deren Einförmigkeit nur durch sumpfige <465> Flußtäler, durch ferne, gestrüppbewachsene Hügel unterbrochen wird; und erst wenn man bei Pontoise den Kreis der Pariser Atmosphäre betritt, merkt man etwas vom "schönen Frankreich". Man begreift Paris schon etwas mehr, wenn man durch die fruchtbaren Täler Lothringens, über die rebenbekränzten Kreidehügel der Champagne, das schöne Marnetal entlang nach der Hauptstadt zieht; man begreift's noch mehr, wenn man durch die Normandie fährt und von Rouen nach Paris mit der Eisenbahn die Windungen der Seine bald verfolgt, bald durchkreuzt. Die Seine scheint die Pariser Luft auszuhauchen bis an ihre Mündung; die Dörfer, die Städte, die Hügel, alles erinnert an die Umgebung von Paris, nur daß alles schöner, üppiger, geschmackvoller wird, je mehr man sich dem Zentrum Frankreichs nähert. Aber ganz habe ich erst verstanden, wie Paris möglich war, als ich die Loire entlangging und von da übers Gebirg mich nach den burgundischen Rebentälern wandte.

Ich hatte Paris gekannt in den letzten beiden Jahren der Monarchie, als die Bourgeoisie im Vollgenuß ihrer Herrschaft schwelgte, als Handel und Industrie erträglich gingen, als die große und kleine bürgerliche Jugend noch Geld hatte zum Genießen und zum Verjubeln, und als selbst ein Teil der Arbeiter noch gut genug gestellt war, um mit an der allgemeinen Heiterkeit und Sorglosigkeit teilnehmen zu können. Ich hatte Paris wiedergesehn in dem kurzen Rausch der republikanischen Flitterwochen, im März und April, wo die Arbeiter, die hoffnungsvollen Toren, der Republik mit der sorglosesten Unbedenklichkeit "drei Monate Elend zur Verfügung stellten", wo sie den Tag über trocken Brot und Kartoffeln aßen und den Abend auf den Boulevards Freiheitsbäume pflanzten, Schwärmer abbrannten und die "Marseillaise" jubelten, und wo die Bourgeois, den ganzen Tag in ihren Häusern versteckt, den Zorn des Volks durch bunte Lampen zu besänftigen suchten. Ich kam - unfreiwillig genug, bei Hecker! - im Oktober wieder. Zwischen dem Paris von damals und von jetzt lag der 15. Mai und der 25. Juni, lag der furchtbarste Kampf, den die Welt je gesehen, lag ein Meer von Blut, lagen fünfzehntausend Leichen. Die Granaten Cavaignacs hatten die unüberwindliche Pariser Heiterkeit in die Luft gesprengt; die "Marseillaise" und der "Chant du depart" waren verstummt, nur die Bourgeois summten noch ihr "Mourir pour la patrie" zwischen den Zähnen; die Arbeiter, brotlos und waffenlos, knirschten in verhaltnem Groll; in der Schule des Belagerungszustands war die ausgelassene Republik gar bald honett, zahm, artig und gemäßigt (sage et modérée) geworden. Aber Paris war tot, es war nicht mehr Paris. Auf den Boulevards nichts als Bourgeois <466> und Polizeispione; die Bälle, die Theater verödet; die Gamins <Gassenjungen> in der Mobilgardenjacke untergegangen, für 30 Sous täglich an die honette Republik verkauft, und je dummer sie wurden, desto mehr gefeiert von der Bourgeoisie - kurz, es war wieder das Paris von 1847, aber ohne den Geist, ohne das Leben, ohne das Feuer und das Ferment, das die Arbeiter damals überall hineinbrachten. Paris war tot, und diese schöne Leiche war um so schauerlicher, je schöner sie war.

Es litt mich nicht länger in diesem toten Paris. Ich mußte fort, gleichviel wohin. Also zunächst nach der Schweiz. Geld hatt' ich nicht viel, also zu Fuß. Auf den nächsten Weg kam's mir auch nicht an; man scheidet nicht gern von Frankreich.

Eines schönen Morgens also brach ich auf und marschierte aufs Geratewohl direkt nach Süden zu. Ich verirrte mich zwischen den Dörfern, sobald ich erst aus der Banlieue hinaus war; das war natürlich. Endlich geriet ich auf die große Straße nach Lyon. Ich verfolgte sie eine Strecke, mit Abstechern über die Hügel. Von dort oben hat man wunderschöne Aussichten, die Seine aufwärts und abwärts, nach Paris und nach Fontainebleau. Unendlich weit sieht man den Fluß sich schlängeln im breiten Tal, zu beiden Seiten Rebenhügel, weiter im Hintergrund die blauen Berge, hinter denen die Marne fließt.

Aber ich wollte nicht so direkt nach Burgund hinein; ich wollte erst an die Loire. Ich verließ also am zweiten Tage die große Straße und ging über die Berge nach Orléans zu. Ich verirrte mich natürlich wieder zwischen den Dörfern, da ich nur die Sonne und die von aller Welt abgeschnittenen Bauern, die weder rechts noch links wußten, zu Führern hatte. Ich übernachtete in irgendeinem Dorf, dessen Namen ich nie aus dem Bauernpatois deutlich heraushören konnte, fünfzehn Lieues von Paris, auf der Wasserscheide zwischen Seine und Loire.

Diese Wasserscheide wird gebildet von einem breiten Bergrücken, der sich von Südosten nach Nordwesten entlangzieht. Zu beiden Seiten sind zahlreiche Taleinschnitte, von kleinen Bächen oder Flüssen bewässert. Oben auf der windigen Höhe gedeiht nur Korn, Buchweizen, Klee und Gemüse; an den Talwänden jedoch wächst überall Wein. Die nach Osten zu gelegenen Talwände sind fast alle mit großen Massen jener Kalkfelsblöcke bedeckt, welche die englischen Geologen Bolderstones nennen, und die man im sekundären und tertiären Hügelland häufig findet. Die gewaltigen blauen Blöcke, zwischen denen grünes Gebüsch und junge Bäume emporwachsen, <467> bilden gar keinen üblen Kontrast zu den Wiesen des Tals und den Weinbergen des gegenüberliegenden Abhangs.

Allmählich stieg ich in eins dieser kleinen Flußtäler hinab und verfolgte es eine Zeitlang. Endlich stieß ich auf eine Landstraße und damit auf Leute, von denen zu erfahren war, wo ich mich eigentlich befand. Ich war nah bei Malesherbes, halbwegs zwischen Orléans und Paris. Orléans selbst lag mir zu weit westlich; Nevers war mein nächstes Ziel, und so stieg ich wieder über den nächsten Berg direkt nach Süden zu. Von oben eine sehr hübsche Aussicht: zwischen waldigen Bergen das nette Städtchen Malesherbes, an den Abhängen zahlreiche Dörfer, oben auf einem Gipfel das Schloß Châteaubriand. Und was mir noch lieber war: gegenüber, jenseits einer schmalen Schlucht, eine Departementalstraße, die sich direkt nach Süden zog.

Es gibt nämlich in Frankreich dreierlei Straßen: die Staatsstraßen, früher königliche, jetzt Nationalstraßen genannt, schöne breite Chausseen, die die wichtigsten Städte miteinander verbinden. Diese Nationalstraßen, in der Umgegend von Paris nicht nur Kunst-, sondern wahre Luxusstraßen, prächtige, sechzig und mehr Fuß breite, in der Mitte gepflasterte Ulmenalleen, werden schlechter, schmaler und baumloser, je weiter man sich von Paris entfernt und je weniger Bedeutung die Straße hat. Sie sind dann stellenweise so schlecht, daß sie nach zwei Stunden mäßigen Regens für Fußgänger kaum noch zu passieren sind. Die zweite Klasse sind die Departementalstraßen, die Kommunikationen zweiten Rangs herstellend, aus Departementsfonds bestritten, schmaler und prunkloser als die Nationalstraßen. Die dritte Klasse endlich bilden die großen Vizinalwege <Ortsverbindungswege> (chemins de grande communication), aus Kantonalmitteln <Geldmittel, die aus dem Unterbezirk eines Arrondissements aufgebracht werden> hergestellt, schmale, bescheidne Straßen, aber stellenweise in besserem Zustand als die größeren Chausseen.

Ich stieg querfeldein direkt auf meine Departementalstraße los und fand zu meiner größten Freude, daß sie mit der unabänderlichsten Geradlinigkeit direkt nach Süden ging. Dörfer und Wirtshäuser waren selten; nach mehrstündigem Marsch traf ich endlich einen großen Pachthof, wo man mir mit der größten Bereitwilligkeit einige Erfrischungen vorsetzte, wofür ich den Kindern des Hauses einige Fratzen auf ein Blatt Papier zeichnete und sehr ernsthaft erklärte: dies sei der General Cavaignac, das sei Louis Napoleon, das Armand Marrast, Ledru-Rollin usw. zum Sprechen ähnlich. Die Bauern starrten die verzerrten Gesichter mit großer Ehrfurcht an, bedankten sich hoch erfreut und schlugen die frappant ähnlichen Porträts sogleich an die <468> Wand. Von diesen braven Leuten erfuhr ich auch, daß ich mich auf der Straße von Malesherbes nach Châteauneuf an der Loire befinde, bis wohin ich noch etwa zwölf Lieues habe.

Ich marschierte durch Puyseaux und ein andres kleines Städtchen, dessen Namen ich vergessen, und kam des Abends spät in Bellegarde an, einem hübschen und ziemlich großen Ort, wo ich übernachtete. Der Weg über das Plateau, das hier übrigens an vielen Orten Wein produziert, war ziemlich einförmig.

Den nächsten Morgen ging's nach Châteauneuf, noch fünf Lieues, und von da die Loire entlang auf der Nationalstraße von Orléans nach Nevers.

Unter blüh'nden Mandelbäumen,
An der Loire grünem Strand,
O wie lieblich ist's zu träumen,
Wo ich meine Liebe fand -

so singt gar mancher deutsche schwärmerische Jüngling und manche zarte germanische Jungfrau in den schmelzenden Worten Helmine von Chezys und der geschmolzenen Weise Carl Maria von Webers. Aber wer an der Loire Mandelbäume und sanfte, liebliche Liebesromantik sucht, wie sie anno zwanzig in Dresden Mode war, der macht sich schreckliche Illusionen, wie sie eigentlich nur einem deutschen Erbblaustrumpf in der dritten Generation erlaubt sind.

Von Châteauneuf über les Bordes nach Dampierre bekommt man diese romantische Loire fast gar nicht zu sehn. Die Straße geht in einer Entfernung von zwei bis drei Lieues vom Flusse über die Höhen, und nur selten sieht man in der Ferne das Wasser der Loire in der Sonne aufleuchten. Die Gegend ist reich an Wein, Getreide, Obst; nach dem Flusse zu sind üppige Weiden; der Anblick des waldlosen, nur von wellenförmigen Hügeln umgebnen Tals ist jedoch ziemlich einförmig.

Mitten auf der Straße, nah bei einigen Bauernhäusern, traf ich eine Karawane von vier Männern, drei Weibern und mehreren Kindern, die drei schwerbeladene Eselskarren mit sich führten und auf offner Landstraße bei einem großen Feuer ihr Mittagsmahl kochten. Ich blieb einen Augenblick stehn: Ich hatte mich nicht getäuscht, sie sprachen deutsch, im härtesten oberdeutschen Dialekt. Ich redete sie an; sie waren entzückt, mitten in Frankreich ihre Muttersprache zu hören. Es waren übrigens Elsässer aus der Gegend von Straßburg, die jeden Sommer in dieser Weise ins Innere Frankreichs zogen und sich mit Korbflechten ernährten. Auf meine Frage, ob sie davon leben könnten, hieß es: "Ja schwerlich, wenn mer alles kaufe müscht'; das Mehrscht werd g'bettelt." Allmählich kroch noch ein ganz alter Mann <469> aus einem der Eselskarren hervor, wo er ein vollständiges Bett hatte. Die ganze Bande hatte etwas sehr Zigeunerartiges in ihren zusammengebettelten Kostümen, von denen kein Stück zum andern paßte. Dabei schauten sie indes recht gemütlich drein und plauderten mir unendlich viel von ihren Fahrten vor, und mitten in der heitersten Schwatzhaftigkeit gerieten sich die Mutter und die Tochter, ein blauäugiges sanftes Geschöpf, beinahe in die struppigen roten Haare. Ich mußte bewundern, mit welcher Allgewalt sich die deutsche Gemütlichkeit und Innigkeit auch durch die zigeunerhaftesten Lebens- und Kleidungsverhältnisse Bahn bricht, wünschte guten Tag und setzte meine Reise fort, eine Strecke lang begleitet von einem der Zigeuner, der sich vor Tisch das Vergnügen eines Spazierrittes auf der spitzknochigen Croupe eines magern Esels erlaubte.

Den Abend kam ich nach Dampierre, einem kleinen Dorf nicht weit von der Loire. Hier ließ die Regierung durch 300 bis 400 Pariser Arbeiter, Trümmer der ehemaligen Nationalwerkstätten, einen Damm gegen die Überschwemmungen ausführen. Es waren Arbeiter aller Art, Goldarbeiter, Metzger, Schuhmacher, Schreiner, bis herab zum Lumpensammler der Pariser Boulevards. Ich fand ihrer an die zwanzig im Wirtshause, wo ich die Nacht blieb. Ein robuster Metzger, der bereits zu einer Art Aufseherstelle vorgerückt war, sprach mit großem Entzücken von dem Unternehmen. Man verdiene 30 bis 100 Sous täglich, je nachdem man arbeite, 40 bis 60 Sous seien leicht zu machen, wenn man nur etwas anstellig sei. Er wollte mich gleich in seine Brigade einrangieren; ich werde mich bald hineinfinden und gewiß schon in der zweiten Woche 50 Sous den Tag verdienen, ich könne mein Glück machen, und es sei wenigstens noch für sechs Monat Arbeit da. Ich hatte nicht übel Lust, zur Abwechslung auf einen oder zwei Monate die Feder mit der Schaufel zu vertauschen; aber ich hatte keine Papiere, und da wäre ich schön angelaufen.

Diese Pariser Arbeiter hatten ganz ihre alte Lustigkeit behalten. Sie betrieben ihre Arbeit, zehn Stunden täglich, unter Lachen und Scherzen, ergötzten sich in den Freistunden mit tollen Streichen und amüsierten sich abends damit, die Bauernmädchen zu "déniaisieren" <"übertölpeln">. Aber sonst waren sie durch ihre Isolierung auf ein kleines Dorf gänzlich demoralisiert. Von Beschäftigung mit den Interessen ihrer Klasse, mit den die Arbeiter so nahe berührenden politischen Tagesfragen keine Spur. Sie schienen gar keine Journale mehr zu lesen. Alle Politik beschränkte sich bei ihnen auf die Erteilung von Spitznamen; der eine, ein großer, starker Lümmel, hieß Caussidière, <470> der andre, ein schlechter Arbeiter und arger Trunkenbold, hörte auf den Namen Guizot, usw. Die anstrengende Arbeit, die verhältnismäßig gute Lebenslage und vor allem die Lostrennung von Paris und die Versetzung nach einem abgeschlossenen, stillen Winkel Frankreichs hatte ihren Gesichtskreis merkwürdig beschränkt. Sie standen schon im Begriff zu verbauern, und sie waren erst zwei Monate dort.

Den nächsten Morgen kam ich nach Gien, und damit endlich ins Loiretal selbst. Gien ist ein kleines, winkliges Städtchen mit einem hübschen Quai und einer Brücke über die Loire, die hier an Breite kaum dem Main bei Frankfurt gleichkommt. Sie ist überhaupt sehr seicht und voller Sandbänke.

Von Gien nach Briare geht der Weg durch das Tal, ungefähr eine Viertelmeile von der Loire entfernt. Die Richtung geht nach Südost, und die Gegend nimmt allmählich einen südlichen Charakter an. Ulmen, Eschen, Akazien oder Kastanienbäume bilden die Allee; üppige Weiden und fruchtbare Felder, zwischen deren Stoppeln eine Nachernte des fettesten Klees aufschoß, mit langen Pappelreihen besetzt, machen die Talsohle aus; jenseits der Loire in duftiger Ferne eine Hügelreihe, diesseits dicht neben der Landstraße eine zweite, ganz mit Weinstöcken bepflanzte Kette von Anhöhen. Das Tal der Loire ist hier durchaus nicht auffallend schön oder romantisch, wie man zu sagen pflegt, aber es macht einen höchst angenehmen Eindruck; man sieht der ganzen reichen Vegetation das milde Klima an, dem sie ihr Gedeihen verdankt. Selbst in den fruchtbarsten Gegenden Deutschlands habe ich nirgends einen Pflanzenwuchs gefunden, der sich mit dem auf der Strecke von Gien bis Briare vergleichen könnte.

Eh ich die Loire verlasse, noch ein paar Worte über die Bewohner der durchstreiften Gegend und ihre Lebensart.

Die Dörfer bis vier, fünf Stunden von Paris können keinen Maßstab für die Dörfer des übrigen Frankreichs abgeben. Ihre Anlage, die Bauart der Häuser, die Sitten der Bewohner sind viel zu sehr von dem Geist der großen Metropole beherrscht, von der sie leben. Erst zehn Lieues von Paris, auf den abgelegnen Höhen, fängt das eigentliche Land an, sieht man wirkliche Bauernhäuser. Es ist bezeichnend für die ganze Gegend bis zu der Loire und bis nach Burgund hinein, daß der Bauer den Eingang seines Hauses möglichst vor der Landstraße versteckt. Auf den Höhen ist jeder Bauernhof von einer Mauer umgeben; man tritt ein durch ein Tor und muß im Hofe selbst die meist nach hinten zu gelegne Haustür erst suchen. Hier, wo die meisten Bauern Kühe und Pferde haben, sind die Bauernhäuser ziemlich groß; an der Loire dagegen, wo viel Gartenkultur getrieben wird und selbst wohlhabende Bauern wenig oder gar kein Vieh besitzen und die Viehzucht als <471> besondrer Erwerbszweig den größeren Grundbesitzern oder Pächtern überlassen bleibt, werden die Bauernhäuser immer kleiner, oft so klein, daß man nicht begreift, wie eine Bauernfamilie mit ihrem Gerät und ihren Vorräten darin Platz findet. Auch hier indes ist der Eingang auf der der Straße abgekehrten Seite, und in den Dörfern haben fast nur die Schenken und Läden Türen nach der Straße zu.

Die Bauern dieser Gegend führen meist trotz ihrer Armut ein recht gutes Leben. Der Wein ist, wenigstens in den Tälern, meist eignes Produkt, gut und wohlfeil (dies Jahr zwei bis drei Sous die Flasche), das Brot überall, mit Ausnahme der höchsten Gipfel, gutes Weizenbrot, dazu vortrefflicher Käse und herrliches Obst, das man in Frankreich bekanntlich überall zum Brote ißt. Wie alle Landbewohner verzehren sie wenig Fleisch, dagegen viel Milch, vegetabilische Suppen und überhaupt eine vegetabilische Nahrung von ausgezeichneter Qualität. Der norddeutsche Bauer, selbst wenn er bedeutend wohlhabender ist, lebt nicht den dritten Teil so gut wie der französische zwischen Seine und Loire.

Diese Bauern sind ein gutmütiges, gastfreies, heiteres Geschlecht, dem Fremden auf jede mögliche Weise gefällig und zuvorkommend und im schlechtesten Patois noch echte, höfliche Franzosen. Trotz ihres im höchsten Grade entwickelten Eigentumssinnes für die von ihren Vätern dem Adel und den Pfaffen aberoberte Scholle, sind sie noch immer die Träger gar mancher patriarchalischen Tugend, besonders in den von den großen Straßen abseits gelegnen Dörfern.

Aber Bauer bleibt Bauer, und die Lebensverhältnisse der Bauern hören keinen Augenblick auf, ihren Einfluß geltend zu machen. Trotz aller Privattugenden des französischen Bauern, trotz der entwickelteren Lebenslage, in der er sich gegen den ostrheinischen Bauern befindet, ist der Bauer in Frankreich, wie in Deutschland, der Barbar mitten in der Zivilisation.

Die Isolierung des Bauern auf ein abgelegenes Dorf mit einer wenig zahlreichen, nur mit den Generationen wechselnden Bevölkerung, die anstrengende, einförmige Arbeit, die ihn mehr als alle Leibeigenschaft an die Scholle bindet und die vom Vater auf den Sohn stets dieselbe bleibt, die Stabilität und Einförmigkeit aller Lebensverhältnisse, die Beschränkung, in der die Familie das wichtigste, entscheidendste gesellschaftliche Verhältnis für ihn wird - alles das reduziert den Gesichtskreis des Bauern auf die engsten Grenzen, die in der modernen Gesellschaft überhaupt möglich sind. Die großen Bewegungen der Geschichte gehen an ihm vorüber, reißen ihn von Zeit zu Zeit mit sich fort, aber ohne daß er eine Ahnung hat von der Natur der bewegenden Kraft, von ihrer Entstehung, von ihrem Ziel.

<472> Im Mittelalter, im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert ging der Bewegung der Bürger in den Städten eine Bauernbewegung zur Seite, die aber fortwährend reaktionäre Forderungen aufstellte und, ohne für die Bauern selbst große Resultate herbeizuführen, nur die Städte in ihren Emanzipationskämpfen unterstützte.

In der ersten französischen Revolution traten die Bauern gerade solange revolutionär auf, als ihr allernächstes, handgreiflichstes Privatinteresse dies erforderte; solange, bis ihnen das Eigentumsrecht auf ihre bisher in feudalen Verhältnissen bebaute Scholle, die unwiederbringliche Abschaffung dieser Feudalverhältnisse und die Entfernung der fremden Armeen von ihrer Gegend gesichert war. Als dies erreicht, kehrten sie sich mit der ganzen Wut blinder Habgier gegen die unverstandene Bewegung der großen Städte und namentlich gegen die Pariser Bewegung. Zahllose Proklamationen des Wohlfahrtsausschusses, zahllose Dekrete des Konvents, vor allem die über das Maximum und die Akkapareurs, mobile Kolonnen und ambulante Guillotinen mußten gegen die eigensinnigen Bauern gerichtet werden. Und doch kam die Schreckensherrschaft, die die fremden Armeen vertrieb und den Bürgerkrieg erstickte, keiner Klasse so sehr zugut wie grade den Bauern.

Als Napoleon die Bourgeoisherrschaft des Direktoriums stürzte, die Ruhe wiederherstellte, die neuen Besitzverhältnisse der Bauern befestigte und in seinem Code civil sanktionierte und die fremden Armeen immer weiter von den Grenzen trieb, schlossen die Bauern sich ihm mit Begeisterung an und wurden seine Hauptstütze. Denn der französische Bauer ist national bis zum Fanatismus; la France <Frankreich> hat für ihn eine hohe Bedeutung, seit er ein Stück Frankreich erbeigentümlich besitzt; die Fremden kennt er nur in der Gestalt verheerender Invasionsarmeen, die ihm den meisten Schaden zufügen. Daher der unbegrenzte nationale Sinn des französischen Bauern, daher sein ebenso unbegrenzter Haß gegen l'étranger <den Fremden>. Daher die Leidenschaft, mit der er 1814 und 1815 in den Krieg zog.

Als die Bourbonen 1815 wiederkamen, als die vertriebne Aristokratie wieder Ansprüche auf den in der Revolution verlornen Grundbesitz erhob, sahen die Bauern ihre ganze revolutionäre Eroberung bedroht. Daher ihr Haß gegen die Bourbonenherrschaft, ihr Jubel, als die Julirevolution ihnen die Sicherheit des Besitzes und die dreifarbige Fahne wiederbrachte.

Von der Julirevolution an hörte aber auch die Beteiligung der Bauern an den allgemeinen Interessen des Landes wieder auf. Ihre Wünsche waren erfüllt, ihr Grundbesitz war nicht länger bedroht, auf der Mairie <dem Bürgermeisteramt> des Dorfes <473> wehte wieder dieselbe Fahne, unter der sie und ihre Väter ein Vierteljahrhundert gesiegt.

Aber wie immer genossen sie wenig Früchte ihres Sieges. Die Bourgeois begannen sogleich, ihre ländlichen Verbündeten mit aller Macht zu exploitieren. Die Früchte der Parzellierung und der Teilbarkeit des Bodens, die Verarmung der Bauern und die Hypothezierung ihrer Grundstücke hatten schon unter der Restauration angefangen zu reifen; nach 1830 traten sie in immer allgemeinerer, immer drohenderer Weise hervor. Aber der Druck, den das große Kapital auf den Bauern ausübte, blieb für ihn ein bloßes Privatverhältnis zwischen ihm und seinem Gläubiger; er sah nicht und konnte nicht sehen, daß diese immer allgemeiner, immer mehr zur Regel werdenden Privatverhältnisse allmählich zu einem Klassenverhältnis zwischen der Klasse der großen Kapitalisten und der der kleinen Grundbesitzer sich entwickelten. Es war nicht mehr derselbe Fall wie mit den Feudallasten, deren Entstehung längst vergessen, deren Sinn längst verloren, die nicht mehr Gegenleistung gegen erwiesene Dienste, die längst eine bloße, den einen Teil bedrückende Last geworden. Hier, bei der Hypothekarschuld, hat der Bauer oder doch sein Vater die Summe in harten Fünffrankentalern ausbezahlt erhalten; der Schuldschein und das Hypothekenbuch erinnern ihn vorkommendenfalls an den Ursprung der Last; der Zins, den er zahlen muß, selbst die stets sich erneuernden, drückenden Nebenvergütungen für den Wucherer sind moderne bürgerliche Gefälle, die in ähnlicher Form alle Schuldner treffen; die Bedrückung geschieht in ganz moderner, zeitgemäßer Gestalt, und der Bauer wird genau nach denselben Rechtsprinzipien ausgesogen und ruiniert, unter denen allein ihm sein Besitz gesichert ist. Sein eigner Code civil, seine moderne Bibel, wird zur Zuchtrute für ihn. Der Bauer kann in dem Hypothekarwucher kein Klassenverhältnis sehn, er kann seine Aufhebung nicht verlangen, ohne zugleich seinen eignen Besitz zu gefährden. Der Druck des Wuchers, statt ihn in die Bewegung zu schleudern, macht ihn vollends verwirrt. Worin er allein Erleichterung sehen kann, ist Verminderung der Steuern.

Als im Februar dieses Jahres zum erstenmal eine Revolution gemacht wurde, in der das Proletariat mit selbständigen Forderungen auftrat, begriffen die Bauern nicht das mindeste davon. Wenn die Republik einen Sinn für sie hatte, so war es nur der: Verminderung der Steuern und hie und da vielleicht auch etwas von Nationalehre, Eroberungskrieg und Rheingrenze. Als aber in Paris am Morgen nach dem Sturz Louis-Philippes der Krieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie losbrach, als die Stockung in Handel und Industrie auf das Land zurückwirkte, die Produkte des Bauern, in einem fruchtbaren Jahr ohnehin entwertet, noch mehr im Preise fielen und unverkäuflich <474> wurden, als vollends die Junischlacht bis in die entferntesten Winkel Frankreichs Schrecken und Angst verbreitete, da erhob sich unter den Bauern ein allgemeiner Schrei der fanatischsten Wut gegen das revolutionäre Paris und die nie zufriedenen Pariser. Natürlich! Was wußte auch der starrköpfige, bornierte Bauer von Proletariat und Bourgeoisie, von demokratisch-sozialer Republik, von Organisation der Arbeit, von Dingen, deren Grundbedingungen, deren Ursachen in seinem engen Dorf nie vorkommen konnten! Und als er hie und da durch die unsauberen Kanäle der Bourgeoisblätter eine trübe Ahnung von dem erhielt, worum es sich in Paris handelte, als die Bourgeois ihm das große Schlagwort gegen die Pariser Arbeiter zugeschleudert hatten: ce sont les partageurs <das sind die Teiler>, es sind Leute, die alles Eigentum, allen Grund und Boden teilen wollen, da verdoppelte sich der Wutschrei, da kannte die Entrüstung der Bauern keine Grenzen mehr. Ich habe Hunderte von Bauern gesprochen in den verschiedensten Gegenden Frankreichs, und bei allen herrschte dieser Fanatismus gegen Paris und namentlich gegen die Pariser Arbeiter. "Ich wollte, dies verdammte Paris würde morgen am Tage in die Luft gesprengt" - das war noch der mildeste Segenswunsch. Es versteht sich, daß für die Bauern die alte Verachtung gegen die Städter durch die Ereignisse dieses Jahres nur noch vermehrt und gerechtfertigt wurde. Die Bauern, das Land muß Frankreich retten; das Land produziert alles, die Städte leben von unserm Korn, kleiden sich von unserm Flachs und unsrer Wolle, wir müssen die rechte Ordnung der Dinge wiederherstellen; wir Bauern müssen die Sache in unsre Hand nehmen - das war der ewige Refrain, der mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger bewußt durch alles verworrene Gerede der Bauern durchklang.

Und wie wollen sie Frankreich retten, wie wollen sie die Sache in ihre Hand nehmen? Indem sie Louis Napoleon Bonaparte zum Präsidenten der Republik wählen, einen großen Namen, getragen von einem winzigen, eitlen, verworrenen Toren! Bei allen Bauern, die ich gesprochen, war der Enthusiasmus für Louis Napoleon ebenso groß wie der Haß gegen Paris. Auf diese beiden Leidenschaften und auf das gedankenloseste, tierischste Verwundern über die ganze europäische Erschütterung beschränkt sich die ganze Politik des französischen Bauern. Und die Bauern haben über sechs Millionen Stimmen, über zwei Drittel aller Stimmen bei den Wahlen in Frankreich.

Es ist wahr, die provisorische Regierung hat es nicht verstanden, die Interessen der Bauern an die Revolution zu fesseln, sie hat in dem Zuschlag von 45 Centimen auf die Grundsteuer, die hauptsächlich die Bauern traf, <475> einen unverzeihlichen, nie gutzumachenden Fehler begangen. Aber hätte sie auch die Bauern auf ein paar Monate für die Revolution gewonnen, im Sommer wären sie doch abgefallen. Die gegenwärtige Stellung der Bauern zur Revolution von 1848 ist nicht Folge von etwaigen Fehlern und zufälligen Verstößen; sie ist naturgemäß, sie ist in der Lebenslage, in der gesellschaftlichen Stellung des kleinen Grundeigentümers begründet. Das französische Proletariat, ehe es seine Forderungen durchsetzt, wird zuerst einen allgemeinen Bauernkrieg zu unterdrücken haben, einen Krieg, der selbst durch Niederschlagung aller Hypothekarschulden sich nur um kurze Zeit wird hinausschieben lassen.

Man muß während vierzehn Tagen fast nur mit Bauern, Bauern der verschiedensten Gegenden, zusammengekommen sein, man muß Gelegenheit gehabt haben, überall dieselbe vernagelte Borniertheit, dieselbe totale Unkenntnis aller städtischen, industriellen und kommerziellen Verhältnisse, dieselbe Blindheit in der Politik, dasselbe Raten ins Blaue über alles, was jenseits des Dorfes liegt, dasselbe Anlegen des Maßstabs der Bauernverhältnisse an die gewaltigsten Verhältnisse der Geschichte wiederzufinden - man muß, mit einem Wort, die französischen Bauern gerade im Jahr 1848 kennengelernt haben, um den ganzen niederschlagenden Eindruck zu empfinden, den diese störrische Dummheit hervorbringt.

II
Burgund

Briare ist ein altertümliches Städtchen an der Mündung des Kanals, der die Loire mit der Seine verbindet. Hier orientierte ich mich über die Route und fand es angemessener, statt über Nevers, über Auxerre nach der Schweiz zu gehn. Ich verließ also die Loire und wandte mich über die Berge nach Burgund zu.

Der fruchtbare Charakter des Loiretals nimmt allmählich, aber ziemlich langsam ab. Man steigt unmerkbar und kommt erst fünf bis sechs Meilen von Briare, bei Saint-Sauveur und Saint-Fargeau, in die Anfänge des waldigen, viehzuchttreibenden Gebirgslandes. Der Bergrücken zwischen Yonne und Loire ist hier schon höher, und diese ganze westliche Seite des Yonne-Departements ist überhaupt ziemlich gebirgig.

In der Gegend von Toucy, sechs Lieues von Auxerre, hörte ich zuerst den eigentümlichen naiv-breiten Burgunder Dialekt, ein Idiom, das hier und im ganzen eigentlichen Burgund noch einen liebenswürdigen, angenehmen <476> Charakter hat, dagegen in den höheren Gegenden der Franche Comté einen schwerfälligen, plumpen, fast doktoralen Klang annimmt. Es ist wie der naive östreichische Dialekt, der sich allmählich in den groben oberbayrischen verwandelt. Das burgundische Idiom betont auf eine merkwürdig unfranzösische Weise stets die Silbe vor derjenigen, welche im guten Französisch den Hauptakzent hat, sie verwandelt das jambische Französisch in ein trochäisches und verdreht dadurch merkwürdig die feine Akzentuierung, die der gebildete Franzose seiner Sprache zu geben weiß. Aber wie gesagt, im eigentlichen Burgund klingt es noch recht nett und im Munde eines hübschen Mädchens sogar reizend: Mais, mâ foi, monsieur, je vous demande ûn peu ...

Wenn man vergleichen kann, so ist überhaupt der Burgunder der französische Östreicher. Naiv, gutmütig, zutraulich im höchsten Grade, mit viel Mutterwitz innerhalb des gewohnten Lebenskreises, voll naiv komischer Vorstellungen über alles, was darüber hinausgeht, possierlich ungeschickt in ungewohnten Verhältnissen, stets unverwüstlich heiter - so sind diese guten Leute fast einer wie der andre. Man verzeiht dem liebenswürdig gutherzigen burgundischen Bauern noch am allerersten seine gänzliche politische Nullität und seine Schwärmerei für Louis Napoleon.

Die Burgunder haben übrigens unleugbar eine stärkere Beimischung deutschen Bluts als die weiter westlich wohnenden Franzosen; die Haare und der Teint sind heller, die Gestalt etwas größer, namentlich bei den Frauenzimmern, der scharfe kritische Verstand, der schlagende Witz nimmt schon bedeutend ab und wird ersetzt durch ehrlicheren Humor und zuweilen durch einen leisen Anflug von Gemütlichkeit. Aber das französische heitre Element herrscht noch bedeutend vor, und an sorglosem Leichtsinn gibt der Burgunder keinem nach.

Die westliche Berggegend des Yonne-Departements lebt hauptsächlich von der Viehzucht. Aber der Franzose ist überall ein schlechter Viehzüchter, und diese burgundischen Rinder fallen gar dünn und klein aus. Doch wird neben der Viehzucht noch viel Kornbau getrieben und überall ein gutes Weizenbrot gegessen.

Die Bauernhäuser nehmen hier auch schon einen deutschern Charakter an; sie werden wieder größer und vereinigen Wohnung, Scheune und Ställe unter einem Dach; doch ist auch hier die Tür noch meist seitwärts von der Straße oder ganz von ihr abgekehrt.

An dem langen Abhang, der nach Auxerre hinunterführt, sah ich die ersten Burgunder Reben, zum großen Teil noch belastet mit der unerhört reichen Traubenernte des Jahres 1848. An manchen Stöcken sah man fast gar keine Blätter vor lauter Trauben.

<477> Auxerre ist ein kleines, unebenes, von innen nicht sehr ansehnliches Städtchen mit einem hübschen Quai an der Yonne und einigen Ansätzen zu jenen Boulevards, ohne die ein französischer Departementshauptort nun einmal nicht sein kann. Zu gewöhnlichen Zeiten muß es gar still und tot sein, und der Präfekt der Yonne muß die Pflichtbälle und Abendessen, die er unter Ludwig Philipp den Notabeln des Ortes zu geben hatte, mit wenig Kosten bestritten haben. Aber jetzt war Auxerre belebt, wie es nur einmal im Jahre belebt ist. Wenn der Bürger Denjoy, Volksrepräsentant, der sich in der Nationalversammlung so sehr darüber skandalisierte, daß bei dem demokratisch-sozialen Bankett von Toulouse das ganze Lokal rot dekoriert war, wenn dieser brave Bürger Denjoy mit mir nach Auxerre gekommen wäre, er hätte vor Entsetzen Krämpfe bekommen. Hier war nicht ein Lokal, hier war die ganze Stadt rot dekoriert. Und welches Rot! Das unzweifelhafteste, unverhüllteste Blutrot färbte die Mauern und Treppen der Häuser, die Blusen und Hemden der Menschen; dunkelrote Ströme füllten sogar die Rinnsteine und befleckten das Pflaster, und eine unheimlich schwärzliche, rotschäumende Flüssigkeit wurde von bärtigen, unheimlichen Männern in großen Zubern über die Straßen getragen. Die rote Republik schien mit allen ihren Greueln zu herrschen, die Guillotine, die Dampfguillotine schien in Permanenz zu sein, die buveurs de sang <Blutsäufer>, von denen das "Journal des Débats" so schauerliche Sagen zu berichten weiß, feierten hier offenbar ihre kannibalischen Orgien. Aber die rote Republik von Auxerre war sehr unschuldig, es war die rote Republik der burgundischen Weinlese, und die Blutsäufer, die das edelste Erzeugnis dieser roten Republik mit so großer Wollust verzehren, sind niemand anders als die Herren honetten Republikaner selbst, die großen und kleinen Bourgeois von Paris. Und der ehrenwerte Bürger Denjoy hat in dieser Beziehung auch seine roten Gelüste trotz dem Besten.

Wer nur in dieser roten Republik die Taschen voll Geld gehabt hätte! Die Lese von 1848 war so unendlich reich, daß nicht Fässer genug gefunden werden konnten, um all den Wein aufzunehmen. Und dabei von einer Qualität - besser als 46er, ja vielleicht besser als 34er! Von allen Seiten strömten die Bauern herzu, um den noch übrigen 47er zu Spottpreisen - zu 2 Franken die Feuillette <Fäßchen, altfranzösisches Weinmaß> von 140 Litern guten Weins - aufzukaufen; zu allen Toren kamen Wagen auf Wagen mit leeren Fässern herein, und doch wurde man nicht fertig. Ich habe selbst gesehn, wie ein Weinhändler in Auxerre mehrere Fässer 47er, ganz guten Weins, auf die Straße auslaufen ließ, um nur Fassung zu bekommen für den neuen Wein, der der Speku- <478> lation allerdings ganz andre Aussichten bot. Man versicherte mir, dieser Weinhändler habe in wenig Wochen auf diese Weise bis zu vierzig große Fässer (fûts) auslaufen lassen.

Nachdem ich in Auxerre mehrere Schoppen des Alten sowohl wie des Neuen zu mir genommen, zog ich über die Yonne den Bergen des rechten Ufers zu. Die Chaussee geht das Tal entlang; ich nahm indes die alte, kürzere Straße über die Berge. Der Himmel war bedeckt, das Wetter unfreundlich, ich selbst war müde, und so blieb ich im ersten Dorf, einige Kilometer von Auxerre über Nacht.

Am nächsten Morgen brach ich in aller Frühe und mit dem herrlichsten Sonnenschein von der Welt auf. Der Weg führte zwischen lauter Weinbergen hindurch über einen ziemlich hohen Bergrücken. Aber für die Mühe des Steigens belohnte mich oben der prachtvollste Überblick. Vor mir die ganze hügelige Abdachung bis zur Yonne, dann das grüne, wiesenreiche und pappelbepflanzte Yonnetal mit seinen vielen Dörfern und Bauernhöfen; dahinter das steingraue Auxerre, an die jenseitige Bergwand gelehnt; überall Dörfer, und überall, soweit das Auge reichte, Reben, nichts als Reben, und der schimmerndste, warme Sonnenschein, nur in der Ferne durch feinen Herbstduft gemildert, ausgegossen über diesen großen Kessel, in dem die Augustsonne einen der edelsten Weine kocht.

Ich weiß nicht, was es ist, das diesen französischen, durch keine ungewöhnlich schönen Umrisse ausgezeichneten Landschaften ihren eigentümlich reizenden Charakter verleiht. Es ist freilich nicht diese oder jene Einzelheit, es ist das Ganze, das Ensemble, das ihnen einen Stempel der Sättigung aufdrückt, wie man ihn selten anderswo findet. Der Rhein und die Mosel haben schönere Felsengruppierungen, die Schweiz hat größere Kontraste, Italien ein volleres Kolorit, aber kein Land hat Gegenden von einem so harmonischen Ensemble wie Frankreich. Mit einer ungewöhnlichen Befriedigung schweift das Auge von dem breiten, üppigen Wiesental zu den bis auf den höchsten Gipfel ebenso üppig mit Reben bewachsenen Bergen und zu den zahllosen Dörfern und Städten, die aus dem Laubwerk der Obstbäume sich erheben. Nirgends ein kahler Fleck, nirgends eine störende unwirtbare Stelle, nirgends ein rauher Fels, dessen Wände dem Pflanzenwuchs unzugänglich wären. Überall eine reiche Vegetation, ein schönes sattes Grün, das in eine herbstlich-bronzierte Schattierung übergeht, gehoben durch den Glanz einer Sonne, die noch im halben Oktober heiß genug brennt, um keine Beere am Weinstock unreif zu lassen.

Ich ging noch etwas weiter, und eine zweite, ebenso schöne Aussicht eröffnete sich vor mir. Tief unten, in einem engeren Talkessel, lag Saint-Bris, <479> ein kleines, ebenfalls nur von Weinbau lebendes Städtchen. Dieselben Details wie vorhin, nur näher zusammengerückt. Weiden und Gärten unten im Tal um das Städtchen, Reben ringsum an den Wänden des Kessels, nur an der Nordseite umgeackerte oder mit grünem Stoppelklee bedeckte Felder und Wiesen. Drunten in den Straßen von Saint-Bris dasselbe Getriebe wie in Auxerre; überall Fässer und Keltern, und die ganze Einwohnerschaft unter Lachen und Scherzen beschäftigt, Most zu keltern, in die Fässer zu pumpen oder in großen Kufen über die Straße zu tragen. Dazwischen wurde Markt gehalten; in den breiteren Straßen hielten Bauernwagen mit Gemüse, Korn und andern Felderzeugnissen; die Bauern mit ihren weißen Zipfelmützen, die Bäuerinnen mit ihren Madrastüchern um den Kopf drängten sich schwatzend, rufend, lachend zwischen die Winzer; und das kleine Saint-Bris bot ein lebendiges Getreibe dar, daß man glaubte, in einer großen Stadt zu sein.

Jenseits Saint-Bris ging's wieder einen lang hingezogenen Berg hinauf. Aber diesen Berg erstieg ich mit ganz besonderm Vergnügen. Hier war alles noch in der Weinlese begriffen, und eine burgundische Weinlese ist ganz anders lustig als selbst eine rheinländische. Auf jedem Schritt fand ich die heiterste Gesellschaft, die süßesten Trauben und die hübschesten Mädchen; denn hier, wo von drei zu drei Stunden ein Städtchen liegt, wo die Einwohner vermöge ihres Weinhandels viel mit der übrigen Welt in Verkehr sind, hier herrscht schon eine gewisse Zivilisation, und niemand nimmt diese Zivilisation rascher an als die Frauenzimmer, denn sie haben die nächsten und augenfälligsten Vorteile davon. Es fällt keiner französischen Städterin ein zu singen:

Wenn ich doch so hübsch wär
Wie die Mädchen auf dem Land!
Ich trüg 'nen gelben Strohhut
Und ein rosenrotes Band.
<Goethe, "Kriegserklärung">

Im Gegenteil, sie weiß viel zu gut, daß sie der Stadt, der Entziehung aller groben Arbeiten, der Zivilisation und ihren hundert Reinlichkeitsmitteln und Toilettenkünsten die ganze Ausbildung ihrer Reize verdankt; sie weiß, daß die Mädchen auf dem Land, selbst wenn sie nicht schon von ihren Eltern jene, dem Franzosen so schreckliche Grobknochigkeit ererbt haben, die der Stolz der germanischen Race ist, doch durch die anstrengende Feldarbeit im glühendsten Sonnenschein wie im heftigsten Regen, durch die Erschwerung der Reinlichkeit, durch die Abwesenheit aller Mittel der körperlichen Ausbildung, durch das zwar sehr ehrwürdige, aber ebenso unbeholfene und geschmacklose Kostüm meistens zu plumpen, wackelnden, in grellen Farben <480> komisch aufgeputzten Vogelscheuchen werden. Die Geschmäcke sind verschieden; unsre deutschen Landsleute halten es meist mehr mit der Bauerntochter, und sie mögen nicht unrecht haben: allen Respekt vor dem Dragonertritt einer handfesten Viehmagd und besonders vor ihren Fäusten; alle Ehre dem grasgrün und feuerrot gewürfelten Kleide, das sich um ihre gewaltige Taille schlingt; alle Achtung vor der Tadellosigkeit der Ebene, die von ihrem Nacken bis zu ihren Fersen geht und ihr von hinten das Ansehn eines mit buntem Kattun überzogenen Brettes gibt! Aber die Geschmäcke sind verschieden, und darum möge der von mir differierende, obgleich darum nicht minder ehrenwerte Teil meiner Mitbürger mir verzeihen, wenn die reingewaschenen, glattgekämmten, schlankgewachsenen Burgunderinnen von Saint-Bris und Vermanton einen angenehmeren Eindruck auf mich machten als jene naturwüchsig schmutzigen, struppigen, molossischen Büffelkälber zwischen Seine und Loire, die einen wie vernagelt anstarren, wenn man eine Zigarette dreht, und mit Geheul davonlaufen, wenn man sie in gutem Französisch nach dem rechten Wege fragt.

Man wird mir also gern glauben, daß ich mehr mit den Winzern und Winzermädchen Trauben essend, Wein trinkend, plaudernd und lachend im Grase lag, als den Berg hinaufmarschierte, und daß ich in derselben Zeit wie diesen unbedeutenden Hügelrücken, den Blocksberg oder gar die Jungfrau hätte besteigen können. Um so mehr, als man sich an Weintrauben alle Tage sechzigmal sattessen kann und also an jedem Weinberge den besten Vorwand hat, sich mit diesen ewig lachenden und gefälligen Leuten beiderlei Geschlechts in Verbindung zu setzen. Aber alles hat ein Ende, und so auch dieser Berg. Es war schon Nachmittag, als ich den andern Abhang herunterstieg in das reizende Tal der Cure, eines kleinen Nebenflusses der Yonne, nach dem Städtchen Vermenton, das noch schöner liegt als Saint-Bris.

Bald hinter Vermenton aber hört die schöne Gegend auf. Man nähert sich allmählich dem höheren Rücken des Faucillon, der die Flußgebiete der Seine, Rhone und Loire voneinander scheidet. Von Vermenton steigt man mehrere Stunden, geht über ein langes unfruchtbares Plateau, auf dem schon der Roggen, Hafer und Buchweizen den Weizen mehr oder weniger vertreiben.

Hier bricht das Manuskript ab.