Marrast und Thiers | Inhalt | Verhaftungen

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 159-164
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971


Vereinbarungsdebatten

["Neue Rheinische Zeitung Nr. 34 vom 4. Juli 1848]

<159> **Köln, 2. Juli. Nach der Tragödie die Idylle, nach dem Donner der Pariser Junitage das Getrommel der Berliner Vereinbarer. Wir hatten die Herren ganz aus dem Aug verloren und finden nun, daß in demselben Augenblick, wo Cavaignac das Faubourg St. Antoine kanonierte, Herr Camphausen eine wehmütige Abschiedsrede hielt und Herr Hansemann das Programm des neuen Ministeriums unterbreitete.

Wir bemerken zuerst mit Vergnügen, daß Herr Hansemann unsern Rat angenommen hat <Siehe "Das Kabinett Hansemann"> und nicht Ministerpräsident geworden ist. Er hat erkannt, daß es größer ist, Ministerpräsidenten zu machen als Ministerpräsident zu sein.

Das neue Ministerium ist und bleibt, trotz des Namenborgens (prêtenom) Auerswald, das Ministerium Hansemann. Es gibt sich als solches, indem es sich als das Ministerium der Tat, der Ausführung hinstellt. Herr Auerswald hat wahrhaftig keinen Anspruch darauf, Minister der Tat zu sein!

Das Programm des Herrn Hansemann ist bekannt. Wir gehen auf seine politischen Punkte nicht ein, sie sind bereits zum Futter der mehr oder minder kleinen deutschen Blätter geworden. Nur an einen Punkt hat man sich nicht gewagt, und damit Herr Hansemann nicht zu kurz kommt, wollen wir ihn nachnehmen.

Herr Hansemann erklärt:

"Zur Belebung der Erwerbtätigkeit, also zur Beseitigung der Not der handarbeitenden Volksklassen, gibt es für jetzt kein wirksameres Mittel als die Herstellung des geschwächten Vertrauens auf Erhaltung der gesetzlichen Ordnung und der baldigen festen Begründung der konstitutionellen Monarchie. Indem wir mit allen Kräften dies Ziel verfolgen, wirken wir also der Erwerbslosigkeit und Not am sichersten entgegen."

<160> Im Anfange seines Programms hatte Herr Hansemann schon gesagt, daß er zu diesem Zweck neue Repressionsgesetze vorlegen werde, soweit die alte (polizeistaatliche!) Gesetzgebung nicht ausreiche.

Das ist deutlich genug. Die alte despotische Gesetzgebung reicht nicht aus! Nicht der Minister der öffentlichen Arbeiten, nicht der Finanzminister, sondern der Kriegsminister ist es, zu dessen Ressort die Hebung der Not der arbeitenden Klassen gehört! Repressivgesetze in erster, Kartätschen und Bajonette in zweiter Linie - in der Tat, "es gibt kein wirksameres Mittel"! Sollte Herr Schreckenstein, dessen bloßer Name nach jener westfälischen Adresse den Wühlern Schrecken einflößt, Lust haben, seine Trierer Heldentaten fortzusetzen und ein Cavaignac nach verjüngtem preußischen Maßstab zu werden?

Doch Herr Hansemann hat noch andre als dies "wirksamste" Mittel:

"Aber die Beschaffung von Beschäftigung durch öffentliche Arbeiten, die dem Lande wahren Nutzen bringen, ist hierzu ebenfalls notwendig."

Herr Hansemann wird hier also "noch weit umfassendere Arbeiten zum Heil aller erwerbenden Volksklassen anordnen" als Herr Patow. Aber er wird dies tun, "sobald es dem Ministerium gelingt, die durch Unruhen und Aufreizungen genährten Besorgnisse vor dem Umsturz der staatlichen Verhältnisse zu beseitigen und das zur Beschaffung der erforderlichen Geldmittel notwendige allgemeine Vertrauen wiederherzustellen".

Herr Hansemann kann für den Augenblick keine Arbeiten vornehmen lassen, weil er kein Geld bekommen kann. Er kann erst Geld bekommen, sobald das Vertrauen hergestellt ist. Aber sobald das Vertrauen hergestellt ist, sind, wie er selbst sagt, die Arbeiter beschäftigt, und die Regierung braucht keine Beschäftigung mehr zu beschaffen.

In diesem keineswegs lasterhaften, sondern sehr bürgerlich-tugendhaften Kreislauf drehen sich die Maßregeln des Herrn Hansemann zur Hebung der Not. Für den Augenblick hat Herr Hansemann den Arbeitern nichts zu bieten als Septembergesetze und einen verkleinerten Cavaignac. In der Tat, das ist ein Ministerium der Tat!

Auf die Anerkennung der Revolution im Programm gehen wir nicht weiter ein. Der "wohlunterrichtete G-Korrespondent" der "Kölnischen Zeitung" hat es dem Publikum bereits angedeutet, inwiefern Herr Hansemann den Rechtsboden zum Besten benachbarter Publizisten gerettet hat. Herr Hansemann hat an der Revolution das anerkannt, daß sie im Grunde keine Revolution war.

Kaum hatte Herr Hansemann geendigt, so erhob sich der Ministerpräsi- <161> dent Auerswald, der doch auch etwas sagen mußte. Er nahm einen beschriebenen Zettel heraus und verlas ungefähr folgendes, aber ungereimt:

M. H.! Ich bin glücklich, heut
In Eurer Mitte zu weilen,
Wo so viel' edle Gemüter mir
Mit Liebe entgegenheulen.

Was ich in diesem Augenblick
Empfinde, ist unermeßlich;
Ach! Diese schöne Stunde bleibt
Mir ewig unvergeßlich.
<H. Heine, "Deutschland. Ein Wintermärchen", Kaput XII>

Wir bemerken, daß wir hierin dem ziemlich unverständlichen Zettel des Herrn Ministerpräsidenten noch die günstigste Deutung gegeben haben.

Kaum ist Herr Auerswald fertig, so springt unser Hansemann wieder auf, um durch eine Kabinettsfrage zu beweisen, daß er immer noch der alte ist. Er verlangt, der Adreßentwurf <Siehe "Die Adreßfrage"> solle an die Kommission zurückgehen, und sagt:

"Die Aufnahme, welche dieser erste Antrag bei der Versammlung findet, wird einen Maßstab geben von dem größern oder kleinem Vertrauen, womit die hohe Versammlung das neue Ministerium aufnimmt."

Das war denn doch zu arg. Der Abgeordnete Weichsel, ohne Zweifel ein Leser der "Neuen Rheinischen Zeitung" <Siehe "Lebens- und Sterbensfragen">, rennt erbost nach der Tribüne und spricht einen entschiedenen Protest gegen diese unveränderliche Methode der Kabinettsfrage aus. Soweit ganz hübsch. Aber wenn ein Deutscher einmal das Wort ergriffen hat, so läßt er's sich so bald nicht wieder nehmen, und so erging sich Herr Weichsel nun in einem langen Diskurs über dieses und jenes, über die Revolution, das Jahr 1807 und das Jahr 1815, über ein warmes Herz unter einem Kittel und mehrere andere Gegenstände. Alles dies, weil "es notwendig sei, daß er sich ausspreche". Ein furchtbarer Lärm, mit einigen Bravos der Linken vermischt, zwang den braven Mann, von der Tribüne zu steigen.

Herr Hansemann versicherte die Versammlung, es sei keineswegs die Absicht des Ministeriums, leichtsinnig Kabinettsfragen zu erheben. Auch sei es diesmal keine ganze, sondern nur eine halbe Kabinettsfrage, also nicht der Mühe wert, davon weiter zu sprechen.

Jetzt entspinnt sich eine Debatte, wie sie selten vorkommt. Alles spricht durcheinander, und die Verhandlung geht vom Hundertsten ins Tausendste. <162> Kabinettsfrage, Tagesordnung, Geschäftsordnung, polnische Nationalität, Vertagung mit resp. Bravos und Lärmen kreuzten sich eine Zeitlang. Endlich bemerkt Herr Parrisius, Herr Hansemann habe im Namen des Ministeriums einen Antrag gestellt, während das Ministerium als solches gar keine Anträge stellen, sondern bloß Mitteilungen machen könne.

Herr Hansemann erwidert: Er habe sich versprochen; der Antrag sei im Grunde kein Antrag, sondern bloß ein Wunsch des Ministeriums.

Die großartige Kabinettsfrage reduziert sich also auf einen bloßen "Wunsch" der Herren Minister!

Herr Parrisius springt von der linken Seite auf die Tribüne. Herr Ritz von der rechten. Oben begegnen sie sich. Eine Kollision ist unvermeidlich - keiner der beiden Helden will nachgeben -, da ergreift der Vorsitzende, Herr Esser, das Wort, und beide Helden kehren um.

Herr Zachariä macht den Antrag des Ministeriums zu dem seinigen und verlangt sofortige Debatte.

Herr Zachariä, der dienstwillige Handlanger dieses wie des vorigen Ministeriums, der auch bei dem Berendsschen Antrage mit einem im rechten Moment gestellten Amendement als rettender Engel auftrat <Siehe "Die Berliner Debatte über die Revolution", S. 74>, findet zur Motivierung seines Antrags nichts mehr zu sagen. Was der Herr Finanzminister gesagt hat, genügt vollständig.

Es entspinnt sich nun eine längere Debatte mit den unentbehrlichen Amendements, Unterbrechungen, Trommeln, Poltern und Reglementsspitzfindigkeiten. Es ist nicht zu verlangen, daß wir unsre Leser durch dies Labyrinth geleiten, wir können ihnen bloß einige der anmutigsten Perspektiven in diesem Wirrwarr eröffnen.

1. Der Abgeordnete Waldeck belehrt uns: Die Adresse kann nicht an die Kommission zurückgehen, denn die Kommission existiert nicht mehr.

2. Der Abgeordnete Hüffer entwickelt: Die Adresse ist eine Antwort nicht an die Krone, sondern an die Minister. Die Minister, die die Thronrede gemacht haben, existieren nicht mehr; wie sollen wir also jemanden antworten, der nicht mehr existiert?

3. Der Abgeordnete d'Ester zieht hieraus in Form eines Amendements folgenden Schluß: Die Versammlung wolle die Adresse fallenlassen.

4. Dies Amendement wird vom Vorsitzenden, Esser, folgendermaßen beseitigt: Dieser Vorschlag scheint ein neuer Antrag und kein Amendement zu sein.

<163> Das ist das ganze Skelett der Debatte. Um dies dünne Skelett gruppiert sich aber eine Masse schwammiges Fleisch in Gestalt von Reden der Herren Minister Rodbertus und Kühlwetter, der Herren Abgeordneten Zachariä, Reichensperger II usw.

Die Situation ist im höchsten Grade befremdend. Wie Herr Rodbertus selbst sagt, ist es "in der Geschichte der Parlamente unerhört, daß ein Ministerium abtrat, während der Adreßentwurf vorlag und die Debatte darüber beginnen sollte"! Preußen hat überhaupt das Glück, daß in seinen ersten parlamentarischen sechs Wochen fast nur "in der Geschichte der Parlamente unerhörte" Dinge vorgekommen sind.

Herr Hansemann ist in derselben Klemme wie die Kammer. Die Adresse, ostensibel eine Antwort auf die Thronrede Camphausen-Hansemann, soll der Sache nach eine Antwort auf das Programm Hansemann-Auerswald sein. Die gegen Camphausen gefällige Kommission soll deshalb eine gleiche Gefälligkeit gegen Herrn Hansemann beweisen. Die Schwierigkeit ist nur, diese "in der Geschichte der Parlamente unerhörte" Forderung den Leuten beizubringen. Alle Mittel werden aufgeboten. Rodbertus, diese Äolsharfe des linken Zentrums, säuselt seine lindesten Töne. Kühlwetter beschwichtigt nach allen Seiten hin; es sei ja möglich, daß man bei der neuen Prüfung des Adreßentwurfs "zu der Überzeugung gelangen könne, daß auch jetzt keine Veränderung vorzunehmen ist (!), aber um diese Überzeugung zu gewinnen" (!!), müsse der Entwurf noch einmal an die Kommission zurück! Herr Hansemann endlich, den diese lange Debatte wie immer ennuyiert, durchhaut den Knoten, indem er gradezu ausspricht, weshalb der Entwurf an die Kommission zurückgehen soll: Er will nicht, daß die neuen Veränderungen als ministerielle Amendements zur Hintertür hineinschlüpfen, sie sollen als Kommissionsvorschläge zur großen Flügeltür und mit weitgeöffneten Flügeln in den Saal hineinstolzieren.

Der Ministerpräsident erklärt, es sei nötig, daß "das Ministerium in verfassungsmäßiger Weise beim Adreßentwurf mitwirke". Was das heißen soll und was Herr Auerswald dabei für Verfassungen im Auge hat, sind wir selbst nach langem Nachdenken zu sagen nicht imstande. Um so weniger, als Preußen in diesem Augenblick gar keine Verfassung hat.

Von der entgegengesetzten Seite sind nur zwei Reden zu erwähnen: die der Herren d'Ester und Hüffer. Herr d'Ester hat das Programm des Herrn Hansemann mit vielem Glück persifliert, indem er dessen frühere wegwerfende Äußerungen über Abstraktionen, nutzlose Prinzipstreitigkeiten usw. auf das sehr abstrakte Programm anwandte. D'Ester forderte das Ministerium der Tat auf, "endlich zur Tat zu schreiten und die Prinzipienfragen beiseite zu <164> lassen". Seinen Antrag, den einzig vernünftigen des Tages, erwähnten wir schon oben.

Herr Hüffer, der den richtigen Gesichtspunkt in betreff der Adresse am schärfsten ausgesprochen, formulierte ihn auch am schärfsten in bezug auf die Forderung des Herrn Hansemann: Das Ministerium verlangt, wir sollen im Vertrauen zu ihm die Adresse an die Kommission zurückverweisen, und macht von diesem Beschluß seine Existenz abhängig. Nun aber kann das Ministerium ein Vertrauensvotum nur für Handlungen, welche es selbst ausübt, in Anspruch nehmen, nicht aber für Handlungen, welche es der Versammlung zumutet.

Kurz und gut: Herr Hansemann forderte ein Vertrauensvotum, und die Versammlung, um Herrn Hansemann eine Unannehmlichkeit zu ersparen, votierte ihrer Adreßkommission einen indirekten Tadel. Die Herren Abgeordneten werden unter dem Ministerium der Tat bald lernen, was die berühmte Treasury-Whip (Ministerialpeitsche) für ein Ding ist.

Geschrieben von Friedrich Engels.