Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 4, S. 439 - 441
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972

[Friedrich Engels]

[Die Zwangsbill für Irland und die Chartisten]

Geschrieben am 4. Januar 1848.
Aus dem Französischen.

["La Réforme" vom 8. Januar 1848]

<439> Vergangenen Mittwoch ist die Zwangsbill für Irland in Kraft getreten. Der Lord-Statthalter hat nicht viel Zeit vergehen lassen und sich die despotischen Vollmachten zunutze gemacht, mit denen ihn dieses neue Gesetz ausstattet. Die Grafschaften Limerick und Tipperary wurden der Ausnahmegesetzgebung ganz und gar unterworfen; dazu kamen mehrere Baronien der Grafschaften Clare, Waterford, Cork, Roscommon, Leitrim, Cavan, Longford sowie King's County.

Es bleibt abzuwarten, was für eine Wirkung diese verhaßte Maßnahme haben wird. Die Meinung der Klasse, in deren Interesse sie ergriffen worden ist, die Meinung also der irischen Grundbesitzer kennen wir bereits. Die Wirkung werde gleich Null sein, erklären sie laut in ihren Organen. Und dafür hätte man ein ganzes Land in den Belagerungszustand versetzt! dafür wären neun Zehntel der Abgeordneten Irlands von ihrem Posten desertiert!

Es geht hier um Tatsachen. Die Desertion ist allgemein. Zur Zeit der Diskussion der Gesetzvorlage teilte sich sogar die Familie O'Connell; zwei Söhne des verstorbenen Befreiers <Daniel O'Connell>, John und Maurice, blieben ihrem Vaterland treu, während ihr Bruder Morgan O'Connell nicht nur für das Gesetz stimmte, sondern sogar mehrmals zu dessen Gunsten das Wort ergriff. Nur achtzehn Abgeordnete stimmten klar und eindeutig gegen das Gesetz. Nur zwanzig waren für den Abänderungsantrag von Herrn Wakley, dem Chartistenabgeordneten eines Londoner Vororts; er hatte gefordert, gleichzeitig mit der Zwangsbill Maßnahmen zu erlassen, die die Ursachen jener Verbrechen mindern könnten, deren Unterdrückung man anstrebte. Und von diesen achtzehn beziehungsweise zwanzig Abgeordneten waren noch vier oder fünf englische Radikale und zwei Iren, die englische Ortschaften reprä- <440> sentieren, so daß von den hundert Vertretern, die Irland ins Parlament entsendet, nur ein Dutzend der Gesetzvorlage ernsteren Widerstand entgegensetzte.

Es war dies die erste Diskussion über eine wichtige irische Frage seit dem Tode O'Connells. Sie sollte entscheiden, wer den Platz des großen Agitators an der Spitze Irlands einnehmen werde. Bis zur Eröffnung des Parlaments war John O'Connell in Irland stillschweigend als Nachfolger seines Vaters anerkannt worden. Aber bald nach Beginn der Diskussion zeigte es sich, daß er keineswegs die Fähigkeit besitzt, die Partei zu leiten; und andererseits stand John O'Connell in der Person Feargus O'Connors ein gefürchteter Rivale gegenüber. Der Führer der Demokraten-, der gleiche, von dem Daniel O'Connell gesagt hatte: "Herrn F[eargu] O'Connor können die englischen Chartisten gut und gerne behalten" - dieser Mann stellte sich mit einem einzigen Satz an die Spitze der irischen Partei. Er war es, der klar und eindeutig die Ablehnung der Zwangsbill beantragte, der es verstand, die ganze Opposition stützend um sich zu sammeln, der sich jeder Klausel einzeln widersetzte und die Abstimmung soweit irgend möglich verschleppte. Er war es, der in seinen Reden die gesamte Argumentation der Opposition gegen die Gesetzvorlage zum Ausdruck brachte; er schließlich war es, der zum erstenmal seit 1835 erneut den Antrag auf Aufheben der Union einbrachte - einen Antrag, den kein irisches Parlamentsmitglied gestellt hätte.

Die irischen Abgeordneten haben diesen Führer mit recht saurer Miene akzeptiert. Als einfache Whigs, die sie im Grunde ihres Herzens sind, hassen sie von Grund auf O'Connors demokratische Tatkraft. Er wird den Whigs weder gestatten, die Agitation für die Aufhebung der Union weiterhin als Mittel zum Sturz der Tories zu benutzen, noch wird er dulden, daß sie die Aufhebung vergessen oder sogar das Wort aus ihrem Gedächtnis streichen, sobald sie am Ruder sind. Aber die irischen Abgeordneten, die Anhänger der Aufhebung sind, können auf keinen Fall auf einen Führer wie O'Connor verzichten, und wenn sie auch versuchen, seine wiederaufblühende Popularität in Irland zu untergraben, so sind sie doch gezwungen, sich seiner Führung im Parlament zu unterwerfen.

Nach Ablauf der Session des Parlaments wird O'Connor wahrscheinlich ganz Irland bereisen, um die Agitation für die Aufhebung neu zu beleben und um die irische Chartistenpartei zu gründen. Ohne jeden Zweifel wird O'Connor, wenn er das schafft, in weniger als einem halben Jahr an der Spitze des irischen Volkes stehen. Wenn er dann in seiner Hand die Leitung der demokratischen Bewegung der drei Königreiche vereint, wird er eine Position innehaben wie vor ihm kein anderer Agitator, nicht einmal O'Connell.

<441> Wir überlassen es unseren Lesern, die Bedeutung dieses bevorstehenden Bündnisses zwischen den Völkern der beiden Inseln selbst zu bewerten. Wenn die britische demokratische Bewegung sich so um zwei Millionen tapferer und feuriger Iren verstärkt, wird sie um vieles schneller marschieren, und das arme Irland wird endlich einen ernsthaften Schritt vorwärts gemacht haben auf dem Wege zu seiner Befreiung.