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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 4, S. 40 - 57
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972

[Friedrich Engels]

[Der Status quo in Deutschland]

Geschrieben März/April 1847.
Nach der Handschrift.


I

<40> Die deutsche sozialistische Literatur wird von Monat zu Monat schlechter. Sie beschränkt sich immer mehr auf die breiten Expektorationen jener wahren Sozialisten, deren ganze Weisheit sich auf ein Amalgam deutscher Philosophie und deutsch-biedermännischer Sentimentalität mit einigen verkümmerten kommunistischen Stichwörtern beläuft. Sie trägt eine Friedlichkeit zur Schau, die ihr sogar möglich macht, unter Zensur ihre tiefste Herzensmeinung zu sagen. Selbst die deutsche Polizei findet wenig an ihr auszusetzen - Beweis genug, daß sie nicht zu den progressiven, revolutionären, sondern zu den stabilen, reaktionären Elementen der deutschen Literatur gehört.

Zu diesen wahren Sozialisten gehören nicht nur diejenigen, die sich par excellence <gemeinhin> Sozialisten nennen, sondern auch der größte Teil der Schriftsteller in Deutschland, die den Parteinamen Kommunisten akzeptiert haben. Letztere sind sogar womöglich noch schlimmer.

Es versteht sich unter diesen Umständen von selbst, daß diese soi-disant <sogenannten> kommunistischen Schriftsteller die Partei der deutschen Kommunisten keineswegs vertreten. Weder sind sie von der Partei als ihre literarischen Repräsentanten anerkannt, noch repräsentieren sie ihre Interessen. Sie nehmen im Gegenteil ganz andre Interessen wahr, sie verteidigen ganz andre Prinzipien, die denen der kommunistischen Partei in jeder Beziehung entgegengesetzt sind.

Die wahren Sozialisten, wozu wie gesagt auch die meisten deutschen soi-disant kommunistischen Schriftsteller gehören, haben von den französischen Kommunisten gelernt, daß der Übergang von der absoluten Monarchie zum modernen Repräsentativstaat keineswegs die Not der großen Masse des Volks <41> aufhebt, sondern nur eine neue Klasse, die Bourgeoisie, zur Herrschaft bringt. Sie haben ferner von ihnen gelernt, daß gerade diese Bourgeoisie vermittelst ihrer Kapitalien am meisten auf die Masse des Volks drückt und deshalb der Gegner par excellence der Kommunisten, resp. Sozialisten, als der Repräsentanten der Masse des Volks ist. Sie haben sich nicht die Mühe gegeben, die gesellschaftliche und politische Entwicklungsstufe Deutschlands mit der von Frankreich zu vergleichen oder die in Deutschland faktisch vorliegenden Bedingungen zu studieren, von denen alle weitere Entwicklung abhängt; sie haben die im Fluge erworbenen Kenntnisse flugs und ohne langes Besinnen nach Deutschland übertragen. Wären sie Parteimänner gewesen, die auf ein praktisches, handgreifliches Resultat hinarbeiteten, die bestimmte, einer ganzen Klasse gemeinsame Interessen vertreten, so hätten sie wenigstens beachtet, wie die Gegner der Bourgeoisie in Frankreich, von den Redakteuren der "Réforme" bis zu den Ultrakommunisten, wie namentlich der anerkannte Repräsentant der großen Masse der französischen Proletarier, der alte Cabet, sich in seiner Polemik gegen die Bourgeoisie benimmt. Es hätte ihnen schon auffallen müssen, daß diese Parteirepräsentanten sich nicht nur fortwährend auf die Tagespolitik einlassen, sondern selbst politische Maßregeln, z.B. Wahlreformvorschläge, die oft für das Proletariat kein direktes Interesse haben, dennoch ganz anders als mit souveräner Verachtung behandeln. Aber unsre wahren Sozialisten sind keine Parteimänner, sondern deutsche Theoretiker. Es handelt sich für sie nicht um praktische Interessen und Resultate, sondern um die ewige Wahrheit. Die Interessen, die sie zu vertreten streben, sind die "des Menschen", die Resultate, denen sie nachjagen, beschränken sich auf philosophische "Errungenschaften". So brauchten sie ihre neuen Aufklärungen nur mit ihrem eignen philosophischen Gewissen in Einklang zu bringen, um alsdann vor ganz Deutschland auszuposaunen, daß Fortschritt wie alle Politik vom Übel sei, daß namentlich die konstitutionelle Freiheit die dem Volk gefährlichste Klasse, die Bourgeoisie, auf den Thron erhebe und daß die Bourgeoisie überhaupt nicht genug angegriffen werden könne,

In Frankreich herrscht die Bourgeoisie seit siebzehn Jahren so vollständig wie in keinem andern Lande der Welt. Die Angriffe der französischen Proletarier, ihrer Parteichefs und literarischen Repräsentanten auf die Bourgeoisie waren also Angriffe auf die herrschende Klasse, auf das bestehende politische System, sie waren entschieden revolutionäre Angriffe. Wie gut die herrschende Bourgeoisie dies weiß, beweisen die zahllosen Preßprozesse und Verbindungsprozesse, die Aufhebungen von Versammlungen und Banketts, die hundert Polizeischikanen, womit sie die Reformisten und Kommunisten verfolgt. <42> In Deutschland ist das alles anders. In Deutschland ist die Bourgeoisie nicht nur nicht an der Herrschaft, sie ist sogar die gefährlichste Feindin der existierenden Regierungen. Diesen kam die Diversion der wahren Sozialisten gerade recht. Der Kampf gegen die Bourgeoisie, der den französischen Kommunisten nur zu oft Gefängnis oder Exil zuzog, zog unsern wahren Sozialisten nichts anders zu als das Imprimatur. Die revolutionäre Hitze der französischen Proletarierpolemik schwand in der kühlen Brust der deutschen Theoretiker zur lauen Zensurmäßigkeit herab und war in diesem Zustande der Entmannung den deutschen Regierungen ein ganz willkommener Bundesgenosse gegen die andrängende Bourgeoisie. Der wahre Sozialismus hatte es fertiggebracht, die revolutionärsten Sätze, die je aufgestellt wurden, zu einem Schutzwall für den Morast des deutschen Status quo zu verwenden. Der wahre Sozialismus ist durch und durch reaktionär.

Die Bourgeoisie hat diese reaktionäre Tendenz des wahren Sozialismus längst gemerkt. Sie hat aber diese Richtung ohne weiteres für die literarische Repräsentantin auch des deutschen Kommunismus genommen und den Kommunisten öffentlich und privatim vorgeworfen, daß sie mit ihrer Polemik gegen Repräsentativverfassung, Geschwornengerichte, Preßfreiheit, mit ihrem Geschrei gegen die Bourgeoisie nur den Regierungen, der Bürokratie, dem Adel in die Hände arbeiteten.

Es ist hohe Zeit, daß die deutschen Kommunisten endlich diese ihnen zugemutete Verantwortlichkeit für die reaktionären Taten und Gelüste der wahren Sozialisten ablehnen. Es ist hohe Zeit, daß die deutschen Kommunisten, die das deutsche Proletariat mit seinen sehr deutlichen, sehr handgreiflichen Bedürfnissen repräsentieren, sich aufs allerentschiedenste trennen von jener literarischen Clique - denn weiter ist sie nichts -, die selbst nicht weiß, wen sie repräsentiert, und deshalb wider Willen den deutschen Regierungen in die Arme taumelt, die "den Menschen zu realisieren" glaubt und nichts realisiert als die Vergötterung des deutschen Bürgerjammers. In der Tat, wir Kommunisten haben nichts gemein mit den theoretischen Hirngespinsten und Gewissensskrupeln dieser spitzfindigen Gesellschaft. Unsre Angriffe auf die Bourgeoisie unterscheiden sich ebensosehr von denen der wahren Sozialisten, wie sie sich von denen des reaktionären Adels, z.B. der französischen Legitimisten oder des Jungen Englands, unterscheiden. Unsre Angriffe kann der deutsche Status quo gar nicht exploitieren, weil sie sich noch viel mehr gegen ihn als gegen die Bourgeoisie richten. Wenn die Bourgeoisie, sozusagen, unser natürlicher Feind, der Feind ist, dessen Sturz unsre Partei zur Herrschaft bringt, so ist der deutsche Status quo noch viel mehr unser Feind, weil er zwischen der Bourgeoisie und uns steht, weil er uns <43> hindert, der Bourgeoisie auf den Laib zu rücken. Darum schließen wir uns auch keineswegs aus von der großen Masse der Opposition gegen den deutschen Status quo. Wir bilden nur ihre avancierteste Fraktion - eine Fraktion, die zugleich durch ihre unverhohlene arrière-pensée <Grundhaltung> gegen die Bourgeoisie eine ganz bestimmte Stellung einnimmt.

Mit der Zusammenkunft des preußischen Vereinigten Landtags tritt in dem Kampf gegen den deutschen Status quo ein Wendepunkt ein. Von dem Auftreten dieses Landtags hängt das Fortbestehen oder der Untergang dieses Status quo ab. Die noch sehr unklaren, durcheinanderwogenden und durch ideologische Spitzfindigkeiten zersplitterten Parteien in Deutschland sind hiermit in die Notwendigkeit versetzt, sich über die Interessen, die sie repräsentieren, über die Taktik, die sie befolgen müssen, aufzuklären, sich zu sondern und praktisch zu werden. Die jüngste dieser Parteien, die kommunistische, kann sich dieser Notwendigkeit nicht entziehen. Sie ebenfalls muß sich über ihre Stellung, über ihren Feldzugsplan, über ihre Mittel klarwerden, und der erste Schritt dazu ist die Desavouierung der sich an sie herandrängenden reaktionären Sozialisten. Sie kann diesen Schritt um so eher tun, als sie stark genug ist, um den Beistand aller kompromittierlichen Bundesgenossen zurückweisen zu dürfen.

II

Der Status quo und die Bourgeoisie

Der Status quo in Deutschland ist folgender.

Während in Frankreich und England die Bourgeoisie mächtig genug geworden ist, um den Adel zu stürzen und sich zur herrschenden Klasse im Staat emporzuschwingen, hat die deutsche Bourgeoisie diese Macht bisher noch nicht gehabt. Sie hat zwar einen gewissen Einfluß auf die Regierungen, aber dieser Einfluß muß in allen Fällen, wo die Interessen kollidieren, vor dem des grundbesitzenden Adels zurücktreten. Während in Frankreich und England die Städte das Land beherrschen, beherrscht in Deutschland das Land die Städte, der Ackerbau den Handel und die Industrie. Dies ist der Fall nicht nur in den absoluten, sondern auch in den konstitutionellen Monarchien Deutschlands, nicht nur in Östreich und Preußen, sondern auch in Sachsen, Württemberg und Baden.

Die Ursache hiervon ist die gegen die westlichen Länder zurückgebliebene Zivilisationsstufe Deutschlands. In jenen sind Handel und Industrie, bei uns <44> ist die Agrikultur der entscheidende Nahrungszweig der Masse des Volks. England exportiert gar keine Ackerbauprodukte, sondern hat fortwährend auswärtige Zuführen nötig; Frankreich importiert wenigstens ebensoviel davon, als es ausführt, und beide Länder stützen ihren Reichtum vor allem auf ihre Ausfuhr von Industrieerzeugnissen. Deutschland dagegen exportiert wenig Industrieprodukte, aber große Massen von Korn, Wolle, Vieh usw. Die überwiegende Bedeutung des Ackerbaus war noch viel größer als jetzt zu der Zeit, als Deutschlands politische Verfassung festgesetzt wurde - im Jahre 1815, und wurde damals noch durch den Umstand vermehrt, daß gerade die fast ausschließlich ackerbautreibenden Teile Deutschlands sich am eifrigsten an dem Sturz des französischen Kaiserreichs beteiligt hatten.

Der politische Repräsentant des Ackerbaus ist in Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern der Adel, die Klasse der großen Grundbesitzer. Die der ausschließlichen Herrschaft des Adels entsprechende politische Verfassung ist das Feudalsystem. Das Feudalsystem ist überall in demselben Maße zerfallen, in welchem der Ackerbau aufgehört hat, entscheidender Produktionszweig eines Landes zu sein, in welchem sich neben der ackerbauenden eine gewerbtreibende Klasse, neben den Dörfern Städte gebildet haben.

Diese neben dem Adel und den mehr oder weniger von ihm abhängigen Bauern sich neu bildende Klasse ist nicht die Bourgeoisie, die heute in den zivilisierten Ländern herrscht und in Deutschland nach der Herrschaft strebt, es ist die Klasse der Kleinbürger.

Die gegenwärtige Verfassung Deutschlands ist weiter nichts als ein Kompromiß zwischen dem Adel und den Kleinbürgern, der darauf hinausläuft, die Verwaltung in den Händen einer dritten Klasse niederzulegen: der Bürokratie. An der Zusammensetzung dieser Klasse beteiligen sich die beiden hohen kontrahierenden Parteien je nach ihrer gegenseitigen Stellung: Der Adel, der den wichtigeren Produktionszweig vertritt, behält sich die höheren Stellen vor, die Kleinbürgerschaft begnügt sich mit den niederen und bringt nur ausnahmsweise Kandidaten in die höhere Verwaltung. Wo die Bürokratie, wie in den konstitutionellen Staaten Deutschlands, einer direkten Kontrolle unterworfen ist, teilen sich Adel und Kleinbürger auf dieselbe Weise darin; und daß auch hier der Adel sich den Anteil des Löwen vorbehält, ist leicht begreiflich. Die Kleinbürger können den Adel nie stürzen, sich ihm nicht einmal gleichstellen; sie bringen es nur dahin, ihn zu schwächen. Um den Adel zu stürzen, bedarf es einer andern Klasse mit umfassenderen Interessen, größerem Besitz und entschiedenerem Mut: der Bourgeoisie.

Die Bourgeoisie ist in allen Ländern mit der Entwicklung des Welthandels und der großen Industrie, mit der damit eintretenden freien Kon- <45> kurrenz und Zentralisation des Eigentums aus den Kleinbürgern hervorgegangen. Der Kleinbürger repräsentiert den binnenländischen und Küstenhandel, das Handwerk, die auf der Handarbeit beruhende Manufaktur - Erwerbszweige, die sich auf einem beschränkten Terrain bewegen, geringe Kapitalien erfordern, diese Kapitalien langsam umschlagen und nur eine lokale und schläfrige Konkurrenz erzeugen. Der Bourgeois repräsentiert den Welthandel, den direkten Austausch der Produkte aller Zonen, den Handel mit Geld, die große auf Maschinenarbeit beruhende Fabrikindustrie - Erwerbszweige, die ein möglichst großes Terrain, möglichst große Kapitalien und raschen Umschlag erfordern und eine universelle und stürmische Konkurrenz erzeugen. Der Kleinbürger repräsentiert lokale, der Bourgeois universelle Interessen. Der Kleinbürger findet seine Stellung hinreichend gesichert, wenn er bei indirektem Einfluß auf die Staatsgesetzgebung direkt an der Provinzialverwaltung beteiligt und Herr seiner lokalen Munizipalverwaltung ist. Der Bourgeois kann ohne direkte, stete Kontrolle der Zentralverwaltung, der auswärtigen Politik, der Gesetzgebung seines Staats seine Interessen nicht sicherstellen. Die klassische Schöpfung des Kleinbürgers waren die deutschen Reichsstädte; die klassische Schöpfung des Bourgeois ist der französische Repräsentativstaat. Der Kleinbürger ist konservativ, sobald ihm die herrschende Klasse nur einige Konzessionen macht, der Bourgeois ist revolutionär, bis er selbst herrscht.

Wie steht nun die deutsche Bourgeoisie zu den beiden Klassen, die sich in die politische Herrschaft teilen?

Während in England seit dem siebzehnten, in Frankreich seit dem achtzehnten Jahrhundert sich eine reiche und mächtige Bourgeoisie bildete, kann in Deutschland erst seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von einer Bourgeoisie die Rede sein. Bis dahin existierten allerdings einzelne reiche Reeder in den Hansestädten, einige reiche Bankiers im Inlande, aber keine Klasse von großen Kapitalisten, und am allerwenigsten von großen industriellen Kapitalisten. Der Schöpfer der deutschen Bourgeoisie war Napoleon. Sein Kontinentalsystem und die durch seinen Druck in Preußen nötig gemachte Gewerbefreiheit gaben den Deutschen eine Industrie und dehnten ihren Bergbau aus. Diese neuen oder ausgedehnten Produktionszweige wurden schon nach wenig Jahren so wichtig und die durch sie geschaffene Bourgeoisie so einflußreich, daß schon 1818 die preußische Regierung sich genötigt sah, ihnen Schutzzölle zu bewilligen. Dies preußische Zollgesetz von 1818 war die erste offizielle Anerkennung der Bourgeoisie durch die Regierung. Man gestand ein - freilich schweren Herzens und widerwillig genug -, daß die Bourgeoisie eine für das Land unentbehrliche Klasse geworden sei. Die <46> nächste Konzession an die Bourgeoisie war der Zollverein. Die Aufnahme der meisten deutschen Staaten in das preußische Zollsystem wurde zwar ursprünglich durch bloß fiskalische und politische Rücksichten veranlaßt, kam aber niemand zugut als der deutschen, ganz besonders der preußischen Bourgeoisie. Wenn der Zollverein hie und da dem Adel und der Kleinbürgerschaft einige Detailvorteile gebracht hat, so schadete er beiden doch weit mehr im ganzen und großen durch den Aufschwung der Bourgeoisie, die lebhaftere Konkurrenz und die Verdrängung der bisherigen Produktionsmittel. Seitdem hat sich die Bourgeoisie namentlich in Preußen ziemlich schnell entwickelt. Wenn sie auch während der letzten dreißig Jahre bei weitem nicht den Aufschwung genommen hat wie die englische und französische Bourgeoisie, so hat sie doch die meisten Zweige der modernen Industrie eingeführt, in einigen Distrikten den bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Patriarchalismus verdrängt, die Kapitalien einigermaßen konzentriert, einiges Proletariat erzeugt und ziemlich lange Strecken Eisenbahnen gebaut. Sie hat es wenigstens dahin gebracht, daß sie jetzt entweder weitergehen, sich zur herrschenden Klasse machen oder auf ihre bisherigen Eroberungen verzichten muß; dahin, daß sie die einzige Klasse ist, die für den Augenblick in Deutschland einen Fortschritt machen, für den Augenblick Deutschland regieren kann. Sie ist bereits faktisch die leitende Klasse in Deutschland, und ihre ganze Existenz hängt davon ab, daß sie es auch rechtlich wird.

In der Tat fällt mit dem Emporkommen und dem wachsenden Einfluß der Bourgeoisie zusammen die steigende Impotenz der bisher offiziell herrschenden Klassen. Der Adel ist seit der napoleonischen Zeit immer mehr verarmt und verschuldet. Die Ablösung der Frondienste vermehrte die Produktionskosten seines Korns und setzte ihn der Konkurrenz einer neuen Klasse unabhängiger Kleinbauern aus - Nachteile, die durch die Übervorteilung der Bauern bei der Ablösung keineswegs auf die Dauer aufgewogen wurden. Den Absatz seines Korns beschränkt die russische und amerikanische, den seiner Wolle die australische und in einzelnen Jahren die südrussische Konkurrenz. Und je mehr die Produktionskosten und die Konkurrenz stiegen, desto mehr trat die Unfähigkeit des Adels an den Tag, seine Güter mit Vorteil zu bebauen, sich die neuesten Fortschritte der Agrikultur anzueignen. Wie der französische und englische Adel des vorigen Jahrhunderts benutzte er die steigende Zivilisation nur dazu, sein Vermögen in den großen Städten herrlich und in Freuden zu verjubeln. Zwischen Adel und Bourgeoisie trat jene Konkurrenz der gesellschaftlichen und intellektuellen Bildung, des Reichtums und des Aufwandes ein, die der politischen Herrschaft der Bourgeoisie überall vorhergeht und die wie jede andere Konkurrenz mit dem Siege des <47> reicheren Teils endigt. Der Landadel verwandelte sich in Hofadel, um desto rascher und sicherer ruiniert zu werden. Die drei Prozent Einkünfte des Adels erlagen vor den fünfzehn Prozent Profit der Bourgeoisie; die drei Prozent nahmen Zuflucht zu Hypothekengeldern, zu ritterschaftlichen Kreditkassen usw., um den standesmäßigen Aufwand machen zu können, und ruinierten sich nur um so schneller. Die wenigen Landjunker, die weise genug waren, sich nicht zu ruinieren, bildeten mit den neu aufkommenden bürgerlichen Gutsbesitzern die neue Klasse der industriellen Grundeigentümer. Diese Klasse betreibt den Ackerbau ohne feudalistische Illusionen und ohne ritterliche Nonchalance als ein Geschäft, eine Industrie, mit den bürgerlichen Hilfsmitteln Kapital, Sachkenntnis und Arbeit. Sie ist so wenig unverträglich mit der Herrschaft der Bourgeoisie, daß sie in Frankreich ganz ruhig neben ihr steht und nach Verhältnis ihres Reichtums an ihrer Herrschaft teilnimmt. Sie ist die den Ackerbau exploitierende Fraktion der Bourgeoisie.

Der Adel ist also so impotent geworden, daß er teilweise selbst schon zur Bourgeoisie übergegangen ist.

Die Kleinbürger waren schon dem Adel gegenüber schwach; der Bourgeoisie gegenüber können sie noch viel weniger sich halten. Die Kleinbürgerschaft ist nächst den Bauern die miserabelste Klasse, die zu irgendeiner Zeit in die Geschichte hineingepfuscht hat. Mit ihren kleinlichen Lokalinteressen brachte sie es in ihrer glorreichsten Zeit, im späteren Mittelalter, nur zu lokalen Organisationen, lokalen Kämpfen und lokalen Fortschritten, zu einer geduldeten Existenz neben dem Adel, nirgends zur allgemeinen, politischen Herrschaft. Mit dem Entstehen der Bourgeoisie verliert sie selbst den Schein historischer Initiative. Zwischen Adel und Bourgeoisie eingeklemmt, von dem politischen Übergewicht des ersteren, von der Konkurrenz der schweren Kapitalien der zweiten gleich gedrückt, teilt sie sich in zwei Fraktionen. Die eine, die der reicheren und großstädtischen Kleinbürger, schließt sich der revolutionären Bourgeoisie mit mehr oder weniger Zaghaftigkeit an, die andre, die sich aus den ärmeren Bürgern, besonders der Landstädtchen, rekrutiert, klammert sich an das Bestehende und unterstützt den Adel mit dem ganzen Gewicht ihrer Trägheitskraft. Je weiter die Bourgeoisie sich entwickelt, desto schlimmer wird die Lage der Kleinbürger. Allmählich sieht auch diese zweite Fraktion ein, daß bei den bestehenden Verhältnissen ihr Ruin sicher ist, während sie unter der Herrschaft der Bourgeoisie neben der Wahrscheinlichkeit des gleichen Ruins wenigstens die Möglichkeit genießt, zur Bourgeoisie zu avancieren. Je sichrer ihr Ruin wird, desto mehr stellt sie sich unter die Fahnen der Bourgeoisie. Kaum ist die Bourgeoisie zur Herrschaft gekommen, <48> so spalten sich die Kleinbürger wieder. Jeder Fraktion der Bourgeoisie liefert sie Rekruten und bildet außerdem zwischen der Bourgeoisie und dem nun mit seinen Interessen und Forderungen hervortretenden Proletariat eine Kette von mehr oder weniger radikalen politischen und sozialistischen Sekten, die man in der englischen oder französischen Deputiertenkammer und Tagespresse des näheren studieren kann. Je schärfer die Bourgeoisie mit dem schweren Geschütz ihrer Kapitalien, mit den geschlossenen Kolonnen ihrer Aktiengesellschaften auf diese undisziplinierten und schlechtbewehrten Kleinbürgerschwärme eindringt, desto ratloser werden sie, desto unordentlicher wird ihre Flucht, bis ihnen kein andrer Rettungsweg übrigbleibt, als sich entweder hinter den langen Linien des Proletariats zu sammeln und seinen Fahnen sich anzuschließen - oder sich der Bourgeoisie auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Dies ergötzliche Schauspiel kann man in England bei jeder Handelskrisis, in Frankreich in diesem Augenblick beobachten. In Deutschland sind wir erst bei jener Phase angelangt, wo die Kleinbürgerschaft in einem Moment der Verzweiflung und Geldklemme den heroischen Entschluß faßt, den Adel aufzugeben und sich der Bourgeoisie anzuvertrauen.

Die Kleinbürger sind also ebensowenig imstande wie der Adel, sich zur herrschenden Klasse in Deutschland aufzuwerfen. Im Gegenteil, auch sie stellen sich täglich mehr und mehr unter das Kommando der Bourgeoisie.

Bleiben noch die Bauern und die besitzlosen Klassen.

Die Bauern, worunter wir hier nur die kleinen Ackerwirte, Pächter oder Eigentümer mit Ausschluß der Landtaglöhner und Ackerknechte verstehen - die Bauern bilden eine ähnliche hilflose Klasse wie die Kleinbürger, von denen sie sich übrigens vorteilhaft durch größeren Mut unterscheiden. Dafür sind sie aber auch aller historischen Initiative durchaus unfähig. Selbst ihre Befreiung aus den Ketten der Leibeigenschaft kommt nur unter dem Schutz der Bourgeoisie zustande. Wo die Abwesenheit von Adel und Bourgeoisie ihnen die Herrschaft gestattet, wie in den Bergkantonen der Schweiz und in Norwegen, herrscht mit ihnen vorfeudale Barbarei, Lokalborniertheit, dumpfe, fanatische Bigotterie, Treu und Redlichkeit. Wo, wie in Deutschland, der Adel neben ihnen bestehenbleibt, werden sie ganz wie die Kleinbürger zwischen Adel und Bourgeoisie eingeklemmt. Um die Interessen des Ackerbaus gegenüber der steigenden Macht des Handels und der Industrie zu schützen, müssen sie sich an den Adel anschließen. Um sich vor der überwiegenden Konkurrenz des Adels und namentlich der bürgerlichen Grundbesitzer zu sichern, müssen sie sich der Bourgeoisie anschließen. Auf welche Seite sie sich definitiv schlagen, hängt von der Beschaffenheit ihres Besitzes ab. Die <49> großen Bauern des östlichen Deutschlands, die selbst eine gewisse Feudalhoheit über ihre Ackerknechte ausüben, hängen in allen ihren Interessen zu sehr mit dem Adel zusammen, als daß sie sich ernstlich von ihm lossagen sollten. Die kleinen, aus der Zersplitterung adliger Güter hervorgegangenen Grundbesitzer des Westens und die der Patrimonialgerichtsbarkeit und zum Teil noch den Fronden unterworfenen Kleinbauern des Ostens werden zu direkt vom Adel gedrückt oder stehen zu sehr im Gegensatz zu ihm, um sich nicht auf die Seite der Bourgeoisie zu schlagen. Daß dies auch wirklich der Fall ist, beweisen die preußischen Provinziallandtage.

An eine Herrschaft der Bauern ist also glücklicherweise auch nicht zu denken. Die Bauern selbst denken so wenig daran, daß sie sich größtenteils schon jetzt zur Verfügung der Bourgeoisie gestellt haben.

Und die besitzlosen, vulgo <gemeinhin> arbeitenden Klassen? Wir werden bald ausführlicher auf diese zu sprechen kommen; einstweilen genügt, auf ihre Zersplitterung hinzuweisen. Diese Zersplitterung in Ackerknechte, Tagelöhner, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und Lumpenproletariat, verbunden mit ihrer Zerstreuung über eine große, dünnbevölkerte Landfläche mit wenigen und schwachen Zentralpunkten, macht es ihnen schon unmöglich, sich gegenseitig über die Gemeinschaftlichkeit ihrer Interessen klarzuwerden <in der Handschrift: klarzumachen>, sich zu verständigen, sich zu einer Klasse zu konstituieren. Diese Zersplitterung und Zerstreuung läßt ihnen nichts anderes übrig, als die Beschränkung auf ihre nächsten, alltäglichen Interessen, auf den Wunsch nach gutem Lohn für gute Arbeit. Das heißt, sie beschränkt die Arbeiter darauf, ihr Interesse in dem ihrer Arbeitgeber zu sehen, und macht so jede einzelne Fraktion der Arbeiter zu einer Hilfsarmee für die sie beschäftigende Klasse. Der Ackerknecht und Tagelöhner unterstützt die Interessen des Adligen oder Bauern, auf dessen Gut er arbeitet. Der Gesell steht in der intellektuellen und politischen Botmäßigkeit seines Meisters. Der Fabrikarbeiter läßt sich vom Fabrikanten in der Schutzzollagitation benutzen. Der Lump ficht für ein paar Taler die Häkeleien zwischen Bourgeoisie, Adel und Polizei mit seinen Fäusten aus. Und wo zwei Klassen von Arbeitgebern widersprechende Interessen durchzusetzen haben, da existiert derselbe Kampf auch unter den von ihnen beschäftigten Klassen von Arbeitern.

So wenig ist die Masse der Arbeiter in Deutschland darauf vorbereitet, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten zu übernehmen.

Fassen wir zusammen. Der Adel ist zu heruntergekommen, die Kleinbürger und Bauern sind ihrer ganzen Lebensstellung nach zu schwach, die <50> Arbeiter sind noch lange nicht reif genug, um in Deutschland als herrschende Klasse auftreten zu können. Bleibt nur die Bourgeoisie.

Die Misere des deutschen Status quo besteht hauptsächlich darin, daß keine einzige Klasse bisher stark genug gewesen ist, ihren Produktionszweig zum nationalen Produktionszweig par excellence und damit sich selbst zur Vertreterin der Interessen der ganzen Nation aufzuwerfen. Alle Stände und Klassen, die seit dem zehnten Jahrhundert in der Geschichte aufgetaucht sind, Adel, Leibeigne, Fronbauern, freie Bauern, Kleinbürger, Gesellen, Manufakturarbeiter, Bourgeois und Proletarier existieren nebeneinander. Diejenigen dieser Stände oder Klassen, die vermöge ihres Besitzes einen Produktionszweig vertreten, nämlich Adel, freie Bauern, Kleinbürger und Bourgeois, haben sich in die politische Herrschaft geteilt, nach Verhältnis ihrer Anzahl, ihres Reichtums und ihres Anteils an der Gesamtproduktion des Landes. Das Resultat dieser Teilung ist, daß, wie gesagt, der Adel den Anteil des Löwen, die Kleinbürgerschaft den geringeren Anteil bekommen haben, daß offiziell die Bourgeois nur als Kleinbürger und die Bauern als Bauern gar nicht zählen, weil sie sich mit ihrem geringen Einfluß auf die übrigen Klassen repartieren. Dies durch die Bürokratie vertretene Regime ist die politische Zusammenfassung der allgemeinen Ohnmacht und Verächtlichkeit, der dumpfen Langeweile und des Schmutzes der deutschen Gesellschaft. Ihm entspricht die Zerlumpung Deutschlands in achtunddreißig Lokal- und Provinzialstaaten, nebst der Zerlumpung von Österreich und Preußen in selbständige Provinzen nach innen, die schmähliche Hilflosigkeit gegen Exploitation und Fußtritte nach außen. Der Grund dieser allgemeinen Misere liegt in dem allgemeinen Mangel an Kapitalien. Jede einzelne Klasse hat in dem pauvren Deutschland von Anfang an den Stempel der bürgerlichen Mittelmäßigkeit getragen, ist im Vergleich mit derselben Klasse andrer Länder pauvre und gedrückt gewesen. Wie kleinbürgerlich steht der hohe und niedrige deutsche Adel seit dem zwölften Jahrhundert da neben dem reichen, sorglosen, lebenslustigen und in seinem ganzen Auftreten entschiedenen französischen und englischen Adel! Wie winzig, wie unbedeutend und lokalborniert erscheinen die deutschen reichsstädtischen und hanseatischen Bürger neben den rebellischen Pariser Bürgern des vierzehnten und fünfzehnten, neben den Londoner Puritanern des siebzehnten Jahrhunderts! Wie kleinbürgerlich nehmen sich noch jetzt unsre ersten Größen der Industrie, der Finanz, der Seefahrt aus neben den Börsenfürsten von Paris, Lyon, London, Liverpool und Manchester! Selbst die arbeitenden Klassen sind in Deutschland durchaus kleinbürgerlich. So hat die Kleinbürgerschaft bei ihrer gedrückten gesellschaftlichen und politischen Stellung wenigstens den Trost, die Normalklasse von Deutschland zu <51> sein und allen übrigen Klassen ihre spezifische Gedrücktheit und ihre Nahrungssorgen mitgeteilt zu haben.

Wie ist aus dieser Misere herauszukommen? Es ist nur ein Weg möglich. Eine Klasse muß stark genug werden, um von ihrem Emporkommen das der ganzen Nation, von dem Fortschritt und der Entwicklung ihrer Interessen den Fortschritt der Interessen aller andern Klassen abhängig zu machen. Das Interesse dieser einen Klasse muß für den Augenblick Nationalinteresse, diese Klasse selbst für den Augenblick Repräsentantin der Nation werden. Von diesem Augenblick an befindet sich diese Klasse, und mit ihr die Majorität der Nation, im Widerspruch mit dem politischen Status quo. Der politische Status quo entspricht einem Zustande, der aufgehört hat zu existieren: dem Widerstreit der Interessen der verschiedenen Klassen. Die neuen Interessen finden sich beengt, und selbst ein Teil der Klassen, zu deren Gunsten der Status quo eingesetzt war, sieht seine Interessen nicht mehr in ihm repräsentiert. Die Aufhebung des Status quo, auf friedlichem oder gewaltsamem Wege, ist die notwendige Folge davon. An seine Stelle tritt die Herrschaft der Klasse, welche für den Augenblick die Majorität der Nation vertritt, und unter ihrer Herrschaft beginnt eine neue Entwicklung.

Wie der Mangel an Kapitalien der Grund des Status quo, der allgemeinen Schwäche ist, so kann nur der Besitz von Kapitalien, ihre Konzentration in den Händen einer Klasse dieser Klasse die Macht geben, den Status quo zu verdrängen.

Existiert nun diese Klasse, die den Status quo stürzen kann, in Deutschland? Sie existiert, allerdings verglichen mit der entsprechenden Klasse in England und Frankreich, in etwas sehr kleinbürgerlicher Weise, aber sie existiert doch, und zwar in der Bourgeoisie.

Die Bourgeoisie ist die Klasse, die in allen Ländern den in der bürokratischen Monarchie etablierten Kompromiß zwischen Adel und Kleinbürgerschaft stürzt und dadurch zunächst für sich die Herrschaft erobert.

Die Bourgeoisie ist die einzige Klasse in Deutschland, die wenigstens einen großen Teil der industriellen Grundeigentümer, der Kleinbürger, der Bauern, der Arbeiter und selbst eine Minorität des Adels an ihren Interessen beteiligt und unter ihren Fahnen vereinigt hat.

Die Partei der Bourgeoisie ist die einzige in Deutschland, die bestimmt weiß, was sie an die Stelle des Status quo zu setzen hat; die einzige, die sich nicht auf abstrakte Prinzipien und historische Deduktionen beschränkt, sondern sehr bestimmte, handgreifliche und sofort ausführbare Maßregeln durchsetzen will; die einzige, die wenigstens lokal und provinziell einigermaßen organisiert ist und eine Art von Feldzugsplan hat; kurz, diejenige <52> Partei, die gegen den Status quo in erster Linie kämpft und direkt an seinem Sturz beteiligt ist.

Die Partei der Bourgeoisie ist also die einzige, die zunächst Chance auf Erfolg hat.

Es fragt sich hiernach nur: Ist die Bourgeoisie in die Notwendigkeit versetzt, sich durch den Sturz des Status quo die Herrschaft zu erobern, und ist sie durch ihre eigne Macht und durch die Schwäche ihrer Gegner stark genug, um den Status quo stürzen zu können?

Wir wollen zusehen.

Die entscheidende Fraktion der deutschen Bourgeoisie sind die Fabrikanten. Von dem Aufblühen der Industrie hängt das Aufblühen des ganzen Binnenhandels, des Hamburger und Bremer und zum Teil des Stettiner Seehandels, des Bankgeschäfts, hängt der Ertrag der Eisenbahnen und damit der bedeutendste Teil des Börsengeschäfts ab. Unabhängig von der Industrie sind nur die Korn- und Wollexporteurs der Ostseestädte und die unbedeutende Klasse der Importeurs fremder Industrieprodukte. Die Bedürfnisse der Fabrikanten repräsentieren also die Bedürfnisse der ganzen Bourgeoisie und der von der Bourgeoisie augenblicklich abhängigen Klassen.

Die Fabrikanten teilen sich wieder in zwei Sektionen: Die eine gibt dem Rohstoff die erste Verarbeitung und bringt ihn halbfertig in den Handel, die zweite übernimmt den halbfertigen Rohstoff und bringt ihn als fertige Ware auf den Markt. Zu der ersten Sektion gehören die Spinner, zu der zweiten die Weber. Der ersten Sektion schließen sich in Deutschland ebenfalls die Eisenproduzenten an.

... <Hier fehlen vier Seiten des Manuskripts> neuerfundnen Hilfsmittel möglich zu machen, gute Kommunikationen herzustellen, wohlfeile Maschinen und Rohstoffe zu bekommen, geschickte Arbeiter zu bilden, dazu gehört ein ganzes industrielles System; dazu gehört das Ineinandergreifen sämtlicher Industriezweige, dazu gehören Seestädte, die dem industriellen Binnenland tributär sind und einen blühenden Handel betreiben. Dieser Satz ist von den Nationalökonomen längst nachgewiesen. Zu einem solchen industriellen System gehört aber auch heutzutage, wo fast allein die Engländer keine Konkurrenz zu scheuen haben, ein vollständiges, alle durch auswärtige Konkurrenz gefährdeten Branchen umfassendes Schutzzollsystem, dessen Modifikationen sich stets nach dem Stande der Industrie richten müssen. Ein solches System kann die bestehende preu- <53> ßische Regierung, können sämtliche Zollvereinsregierungen nicht geben. Ein solches System ist nur einzurichten und zu handhaben durch die regierende Bourgeoisie selbst. Und auch deshalb kann die deutsche Bourgeoisie die politische Macht nicht länger entbehren.

Ein solches Schutzzollsystem ist aber in Deutschland um so nötiger, als dort die Manufaktur im Sterben liegt. Ohne systematische Schutzzölle erliegt die Manufaktur der Konkurrenz der englischen Maschinen, und die bisher von ihr unterhaltenen Bourgeois, Kleinbürger und Arbeiter gehen zugrunde. Grund genug für die deutschen Bourgeois, den Rest der Manufaktur lieber durch deutsche Maschinen zu ruinieren.

Die Schutzzölle sind der deutschen Bourgeoisie also nötig und können nur durch sie selbst eingeführt werden. Schon deshalb also muß sie sich der Staatsgewalt bemächtigen.

Die Fabrikanten werden aber nicht nur durch ungenügende Zölle an der vollständigen Verwertung ihrer Kapitalien gehindert, sie werden es auch durch die Bürokratie. Stoßen sie in der Zollgesetzgebung auf die Gleichgültigkeit, so stoßen sie hier, in ihren Beziehungen zur Bürokratie, auf die direkteste Feindseligkeit der Regierung.

Die Bürokratie ist eingesetzt worden, um Kleinbürger und Bauern zu regieren. Diese Klassen, in kleinen Städten oder Dörfern zersplittert, mit Interessen, die nicht über den engsten Lokalkreis hinausreichen, haben notwendig einen ihren beschränkten Lebensverhältnissen entsprechenden beschränkten Gesichtskreis. Sie können keinen großen Staat regieren, sie können weder Überblick noch Kenntnisse genug besitzen, um die verschiedenen miteinander kollidierenden Interessen gegenseitig auszugleichen. Und gerade auf der Zivilisationsstufe, in die die Blüte der Kleinbürgerschaft fällt, laufen die verschiednen Interessen am allerverwickeltsten durcheinander (man denke nur an die Zünfte und ihre Kollisionen). Die Kleinbürger und Bauern können also eine mächtige und zahlreiche Bürokratie nicht entbehren. Sie müssen sich bevormunden lassen, um der größten Verwirrung zu entgehen, um sich nicht durch Hunderte und Tausende von Prozessen zu ruinieren.

Die Bürokratie, die den Kleinbürgern Bedürfnis ist, wird aber den Bourgeois sehr bald zur unerträglichen Fessel. Schon bei der Manufaktur wird die Beamtenüberwachung und Einmischung sehr lästig; die Fabrikindustrie ist kaum möglich unter einer solchen Aufsicht. Die deutschen Fabrikanten haben sich bisher die Bürokratie durch Bestechung möglichst vom Halse gehalten, was ihnen gar nicht zu verdenken ist. Aber dies Mittel befreit sie doch nur von der geringeren Hälfte der Last; abgesehen von der Unmöglichkeit, alle <54> Beamte, mit denen ein Fabrikant in Berührung kommt, zu bestechen, befreit ihn die Bestechung nicht von Sporteln, Honoraren für Juristen, Architekten, Mechaniker und sonstigen durch die Überwachung hervorgerufenen Ausgaben, von Extraarbeiten und Zeitverlust. Und je weiter sich die Industrie entwickelt, desto mehr "pflichttreue Beamte" tauchen auf, d.h. solche, die entweder aus purer Borniertheit oder aus bürokratischem Haß gegen die Bourgeoisie den Fabrikanten die ärgsten Schikanen antun.

Die Bourgeoisie ist also genötigt, die Macht dieser übermütigen und schikanensüchtigen Bürokratie zu brechen. Von dem Augenblick an, da <in der Handschrift: daß> die Staatsverwaltung und Gesetzgebung unter die Kontrolle der Bourgeoisie gerät, fällt die Selbständigkeit der Bürokratie zusammen; ja, von diesem Augenblick an verwandeln sich die Plagegeister der Bourgeois in ihre untertänigen Knechte. Die bisherigen Reglements und Reskripte, die nur dazu dienten, den Beamten die Arbeit auf Unkosten der industriellen Bourgeois zu erleichtern, machen neuen Reglements Platz, wodurch den Industriellen die Arbeit auf Unkosten der Beamten erleichtert wird.

Die Bourgeoisie ist um so eher gezwungen, dies so bald als möglich zu tun, als, wie wir gesehen haben, alle ihre Fraktionen direkt an der möglichst raschen Hebung der Fabrikindustrie beteiligt sind und die Fabrikindustrie sich unter dem Regime der bürokratischen Trakasserie unmöglich heben kann.

Die Unterordnung der Douane und der Bürokratie unter das Interesse der industriellen Bourgeoisie sind die beiden Maßregeln, an deren Durchsetzung die Bourgeoisie am direktesten beteiligt ist. Damit aber sind ihre Bedürfnisse noch lange nicht erschöpft. Sie ist genötigt, das ganze Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizsystem fast aller deutschen Länder einer durchgreifenden Revision zu unterwerfen, denn dies ganze System dient der Erhaltung und Stützung eines gesellschaftlichen Zustandes, an dessen Umwälzung die Bourgeoisie fortwährend arbeitet. Die Bedingungen, unter denen Adel und Kleinbürger nebeneinander bestehen können, sind durchaus verschieden von den Lebensbedingungen der Bourgeoisie, und nur die ersteren sind in den deutschen Staaten offiziell anerkannt. Nehmen wir den preußischen Status quo als Beispiel. Wenn die Kleinbürger, wie der administrativen Bürokratie, so auch der juristischen Bürokratie, sich unterwerfen, wenn sie ihr Vermögen und ihre Person der Diskretion und Schläfrigkeit einer "unabhängigen", d.h. bürokratisch-selbständigen Richterklasse anvertrauen konnten, die ihnen dafür Schutz vor den Übergriffen des Feudaladels und <55> zuweilen auch der administrativen Bürokratie gewährte, so können die Bourgeois dies nicht. Die Bourgeois bedürfen für Eigentumsprozesse mindestens des Schutzes der Öffentlichkeit, für Kriminalprozesse außerdem noch der Jury, der steten Kontrolle der Justiz durch eine Deputation von Bourgeois. - Der Kleinbürger kann sich die Exemtion der Adligen und Beamten vom gewöhnlichen Gerichtsstande gefallen lassen, weil diese seine offizielle Erniedrigung seiner niedrigen gesellschaftlichen Stellung vollständig entspricht. Der Bourgeois, der entweder zugrunde gehen oder seine Klasse zur ersten in Gesellschaft und Staat machen muß, kann es nicht. - Der Kleinbürger kann, seinem stillen Lebenswandel unbeschadet, dem Adel die Gesetzgebung über den Grundbesitz allein überlassen; er muß es, weil er genug zu tun hat, seine eignen städtischen Interessen vor dem Einfluß und den Übergriffen des Adels zu schützen. Der Bourgeois kann die Regulierung der Eigentumsverhältnisse auf dem Lande keineswegs dem Gutdünken des Adels anheimstellen, denn die vollständige Entwicklung seiner eignen Interessen fordert die möglichst industrielle Exploitation auch des Ackerbaus, die Herstellung einer Klasse industrieller Ackerwirte, die freie Verkäuflichkeit und Mobilisierung des Grundeigentums. Das Bedürfnis der Grundbesitzer, sich Geld auf Hypothek zu verschaffen, bietet den Bourgeois hier eine Handhabe und zwingt den Adel, der Bourgeoisie wenigstens in Beziehung auf die Hypothekengesetze Einfluß auf die Gesetzgebung über das Grundeigentum zu bewilligen. - Wenn der Kleinbürger bei seinen kleinen Geschäftchen, seinem langsamen Umschlag und der beschränkten Anzahl seiner auf einen kleinen Raum konzentrierten Kunden von der miserablen altpreußischen Handelsgesetzgebung nicht besonders gedrückt wurde, sondern wohl gar noch dankbar war für das bißchen Garantie, das sie bot, so kann der Bourgeois sie nicht mehr ertragen. Der Kleinbürger, dessen höchst einfache Transaktionen selten Geschäfte von Kaufmann zu Kaufmann, fast immer nur Verkäufe vom Detaillisten oder Verfertiger direkt an den Konsumenten sind - der Kleinbürger gerät selten in Bankerotte und kann sich den alten preußischen Bankerottgesetzen leicht fügen. Nach diesem Gesetze werden Wechselschulden vor allen Buchschulden aus der Masse abbezahlt, gewöhnlich aber die ganze Masse von der Justiz gefressen. Sie sind zunächst im Interesse der die Masse verwaltenden juristischen Bürokraten und damit im Interesse aller Nichtbourgeois gegen die Bourgeois entworfen. Der Adel besonders, der für sein abgeschicktes Korn Wechsel auf den Käufer oder Konsignatär zieht oder erhält, wird dadurch gedeckt; überhaupt alle, die nur einmal im Jahre etwas zu verkaufen haben und den Ertrag durch einen Wechsel ein- und aus dem Handel zurückziehen. Von den Handeltreibenden sind wieder die Bankiers und Grossisten geschützt, die <56> Fabrikanten eher vernachlässigt. Der Bourgeois, der nur Geschäfte von Kaufmann zu Kaufmann macht, dessen Kunden zerstreut wohnen, der Wechsel auf alle Welt erhält, der mitten in einem höchst verwickelten System von Transaktionen sich bewegen muß, der jeden Augenblick in einen Bankerott verwickelt ist, der Bourgeois kann sich bei diesen absurden Gesetzen nur ruinieren. - Der Kleinbürger hat nur insofern Interesse an der allgemeinen Politik seines Landes, als er den Frieden wünscht; sein bornierter Lebenskreis macht ihn unfähig, Relationen von Staat zu Staat zu übersehen. Der Bourgeois, der mit dem entferntesten Ausland Geschäfte macht oder zu konkurrieren hat, kann ohne den direktesten Einfluß auf die auswärtige Politik seines Staats sich nicht in die Höhe arbeiten. - Der Kleinbürger konnte sich von der Bürokratie und vom Adel Steuern auflegen lassen, aus denselben Gründen, aus denen er sich der Bürokratie unterwarf; der Bourgeois hat ein ganz direktes Interesse daran, die öffentlichen Lasten so zu verteilen, daß sie seinen Erwerb möglichst wenig treffen.

Kurz, wenn der Kleinbürger sich damit begnügen konnte, dem Adel und der Bürokratie seine träge Masse entgegenzusetzen, sich durch seine vis inertiae <Beharrungsvermögen> einen Einfluß auf die öffentliche Macht zu sichern, so kann der Bourgeois dies nicht. Er muß seine Klasse zur herrschenden, sein Interesse zum entscheidenden machen in Gesetzgebung, Verwaltung, Justiz, Besteuerung und auswärtiger Politik. Die Bourgeoisie muß sich vollständig entwickeln, ihre Kapitalien täglich vermehren, die Produktionskosten ihrer Waren täglich erniedrigen, ihre Handelsverbindungen, ihre Märkte täglich ausdehnen, ihre Kommunikationen täglich verbessern, um nicht zugrunde zu gehen. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt treibt sie dazu. Und um sich frei und vollständig entwickeln zu können, bedarf sie eben der politischen Herrschaft, der Unterordnung aller andern Interessen unter das ihrige.

Daß aber die deutsche Bourgeoisie gerade jetzt der politischen Herrschaft bedarf, um nicht zugrunde zu gehen, haben wir oben in der Schutzzollfrage und in ihrer Stellung zur Bürokratie nachgewiesen. Der schlagendste Beweis dafür ist aber die augenblickliche Lage des deutschen Geld- und Warenmarktes.

Die Prosperität der englischen Industrie im Jahre 1845 und die daraus hervorgehenden Eisenbahnspekulationen übten diesmal eine stärkere Rückwirkung als zu irgendeiner früheren lebhaften Periode auf Frankreich und Deutschland aus. Die deutschen Fabrikanten machten gute Geschäfte, und mit dem ihrigen hob sich das deutsche Geschäft überhaupt. Die Acker- <57> baudistrikte fanden einen willigen Markt für ihr Korn in England. Die allgemeine Prosperität belebte den Geldmarkt, erleichterte den Kredit und lockte eine Menge kleiner Kapitalien, wie ihrer in Deutschland so viele halb brachliegen, auf den Markt. Wie in England und Frankreich, nur etwas später und in etwas <hier bricht das Manuskript ab.>

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