Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 2, S. 558 - 561
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972
["The Northern Star Nr. 409 vom 13. September 1845]
Das Gemetzel in Leipzig, das Sie in Ihrer letzten Nummer kommentiert und über das Sie vor einigen Wochen einen ausführlichen Bericht gebracht haben, beschäftigt noch immer die Aufmerksamkeit der deutschen Zeitungen. Dieses Gemetzel, das an Niedertracht nur von der Peterloo-Metzelei übertroffen wird, ist bei weitem der schändlichste Schurkenstreich, den der Militärdespotismus in unserem Lande je ersonnen hat. Als das Volk rief: "Es lebe Ronge, nieder mit dem Papsttum", versuchte Prinz Johann von Sachsen, nebenbei bemerkt, einer von unseren vielen reimenden und bücherschreibenden Prinzen, der eine sehr schlechte Übersetzung der "Hölle" des italienischen Dichters Dante veröffentlicht hat - dieser "höllische" Übersetzer also versuchte, seinem literarischen Ruf militärischen Ruhm hinzuzufügen, indem er eine höchst heimtückische Kampagne gegen die unbewaffneten Massen in die Wege leitete. Er befahl dem von der Obrigkeit herbeigerufenen Schützenbataillon, sich in mehrere Abteilungen aufzuteilen und die Zugänge zu dem Hotel zu besetzen, in dem seine literarische "königliche Hoheit" ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Die Soldaten gehorchten, sie preßten die Menschen in einem kleinen Ring zusammen und gingen in der Richtung auf den Hoteleingang gegen sie vor; und dieses unvermeidliche Eindringen der Leute in den geheiligten Eingang der königlichen Residenz, das durch die von Prinz Johann befohlene militärische Handlung verursacht worden war -, eben dieser Umstand wurde zum Vorwand genommen, auf die Menschen zu schießen; mit eben diesem Umstand haben die Regierungszeitungen die Schießerei zu rechtfertigen versucht! Das ist noch nicht alles; die Menschen wurden zwischen den einzelnen Abteilungen zusammengedrängt, und der Plan seiner königlichen Hoheit wurde durch ein <559> Kreuzfeuer auf die wehrlosen Massen ausgeführt; wohin sie sich auch wandten, wurden sie von wiederholten Gewehrsalven empfangen; und hätten nicht die Soldaten, die menschlicher waren als Prinz Johann, zumeist über die Köpfe der Menschen geschossen, hätte es ein fürchterliches Blutbad gegeben. Die Empörung, die dieser Schurkenstreich hervorgerufen hat, ist allgemein; die loyalsten Untertanen, die wärmsten Anhänger der gegenwärtigen Ordnung teilen sie und wenden sich mit Abscheu gegen diese Vorgänge. Die Sache wird eine sehr starke Wirkung in Sachsen haben, dem Teil Deutschlands, der mehr als alle anderen stets eine Neigung zum Reden an den Tag gelegt hat, während Taten bitter nötig waren. Die Sachsen, mit ihrer kleinen konstitutionellen Regierung, mit ihrem schwatzenden Parlament, ihren liberalen Abgeordneten, liberalen und aufgeklärten Pfaffen etc., waren in Norddeutschland die Vertreter des gemäßigten Liberalismus, des deutschen Whiggismus, und bei alledem mehr die Sklaven des Königs von Preußen als die Preußen selbst. Was die preußische Regierung auch immer beschloß, mußte das sächsische Ministerium ausführen; ja, kürzlich hat sich die preußische Regierung nicht einmal die Mühe gemacht, sich an das sächsische Ministerium zu wenden, sondern wandte sich direkt an die unteren sächsischen Behörden, als ob es sich nicht um sächsische, sondern um ihre eigenen Beamten handelte! Sachsen wird von Berlin regiert, nicht von Dresden! Und bei ihrem ganzen Reden und Prahlen wissen die Sachsen sehr gut, daß die bleierne Hand Preußens schwer genug auf ihnen lastet. All diesem Reden und Prahlen, all diesem Eigendünkel und dieser Selbstzufriedenheit, das die Sachsen zu einer besonderen, gegen Preußen in Opposition stehenden Nation machen möchte etc., wird das Leipziger Gemetzel ein Ende bereiten. Die Sachsen müssen jetzt einsehen, daß sie sich unter der gleichen Militärherrschaft befinden wie alle anderen Deutschen, und daß trotz aller Verfassung, liberalen Gesetze, liberalen Zensur und liberalen Reden des Königs das Kriegsrecht das einzige Recht ist, das in ihrem kleinen Lande wirklich existiert. Und noch etwas anderes trägt dazu bei, daß diese Leipziger Affäre den Geist der Rebellion in Sachsen verbreitet: Trotz allen Geredes der sächsischen Liberalen fängt die Mehrheit des sächsischen Volkes erst zu reden an; Sachsen ist ein Industrieland, und unter seinen Leinewebern, Strumpfwirkern, Baumwollspinnern, Spitzenklöpplern, Kohlen- und Erzbergleuten herrscht seit undenklichen Zeiten ein entsetzliches Elend. Die proletarische Bewegung, die sich seit den schlesischen Aufständen, der sogenannten Weberschlacht im Juni 1844, über ganz Deutschland verbreitet hat, ist an Sachsen nicht spurlos vorübergegangen. Vor einiger Zeit hat es an verschiedenen Orten Unruhen unter den Arbeitern beim <560> Eisenbahnbau und auch unter den Kattundruckern gegeben, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß der Kommunismus, obwohl bis jetzt noch keine positiven Beweise dafür angeführt werden können, hier ebenso wie überall sonst unter den Arbeitern Fortschritte macht; und wenn die sächsichen Arbeiter das Kampffeld betreten, werden sie sich bestimmt nicht mit Gerede zufriedengeben wie ihre Arbeitgeber, die liberalen "Bourgeois".
Lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit etwas mehr auf die Bewegung der Arbeiterklasse in Deutschland lenken. In der vergangenen Woche haben Sie unserem Lande in Ihrer Zeitung eine glorreiche Revolution - keine wie die von 1688 - vorausgesagt. Damit haben Sie vollkommen recht, nur möchte ich Ihre Äußerung, daß es die Jugend Deutschlands sei, die eine solche Änderung zustande bringen werde, berichtigen oder vielmehr klarer definieren. Diese Jugend darf man nicht im Bürgertum suchen. Die revolutionäre Tat wird in Deutschland aus der Mitte der Arbeiterschaft heraus ihren Anfang nehmen. Es stimmt, daß es in unserem Bürgertum eine beträchtliche Anzahl Republikaner und sogar Kommunisten gibt sowie auch junge Menschen, die, wenn es jetzt zu einem allgemeinen Aufstand käme, in der Bewegung sehr nützlich wären, aber diese Menschen sind "Bourgeois", Profitmacher, berufsmäßige Fabrikanten; und wer gibt uns die Garantie, daß sie nicht durch ihren Beruf, durch ihre soziale Stellung demoralisiert werden, die sie zwingen, von der Arbeit anderer Menschen zu leben und die fett werden als Blutsauger, als "Exploiteurs" der Arbeiterklasse? Und sofern sie der Gesinnung nach Proletarier bleiben, obwohl sie dem Beruf nach Bourgeois sind, so wird ihre Zahl unendlich klein sein, im Vergleich zur wirklichen Zahl der Angehörigen des Bürgertums, die ihres Interesses wegen an der bestehenden Ordnung festhalten und deren einzige Sorge es ist, sich die Taschen zu füllen. Glücklicherweise rechnen wir mit dem Bürgertum überhaupt nicht. Die Bewegung der Proletarier hat sich mit so erstaunlicher Geschwindigkeit entwickelt, daß wir in ein oder zwei Jahren eine glorreiche Heerschau über Demokraten und Kommunisten aus der Arbeiterschaft werden abhalten können - denn hierzulande sind Demokratie und Kommunismus, soweit es sich um die Arbeiterklasse handelt, völlig identisch. Die schlesischen Weber gaben im Jahre 1844 das Signal; die böhmischen und sächsischen Kattundrucker und Eisenbahnarbeiter, die Berliner Kattundrucker und tatsächlich die Industriearbeiter in fast allen Teilen Deutschlands antworteten mit Streiks und Teilrevolten; die letzteren wurden fast immer durch die gesetzlichen Verbote von Vereinigungen hervorgerufen. Die Bewegung hat jetzt fast das ganze Land ergriffen und nimmt ruhig, aber stetig ihren Fortgang, während das Bürgertum seine Zeit mit der Agitation für "Verfassungen", <561> "Preßfreiheit", "Schutzzölle", "Deutschkatholizismus" und "protestantische Kirchenreform" verbringt. Obwohl alle diese bürgerlichen Bewegungen nicht ganz ohne Verdienste sind, berühren sie die arbeitenden Klassen überhaupt nicht; sie haben ihre eigene Bewegung - a knife-and-fork movement <eine Messer und Gabel-Bewegung>. Mehr darüber in meinem nächsten Brief.