MLWerke | 1843 | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 480-496.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999

Friedrich Engels

Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent

I. Frankreich - II. Deutschland und die Schweiz


[»The New Moral World« Nr. 19 vom 4. November 1843]

|480| Seit ich mit englischen Sozialisten zusammenkomme, ist es immer ein wenig verblüffend für mich gewesen, daß die meisten von ihnen nur sehr wenig mit der sozialen Bewegung vertraut sind, die sich in verschiedenen Teilen des Kontinents entwickelt. Dabei gibt es doch in Frankreich über eine halbe Million Kommunisten, die Fourieristen und andere weniger radikale Sozialreformer gar nicht eingerechnet; in allen Teilen der Schweiz gibt es kommunistische Vereine, die Emissäre nach Italien, Deutschland und sogar nach Ungarn aussenden, und auch die deutsche Philosophie ist nach langen und mühseligen Umwegen schließlich und endgültig beim Kommunismus angelangt.

So sind die drei großen zivilisierten Länder Europas, England, Frankreich und Deutschland, alle zu dem Schluß gekommen, daß eine durchgreifende Revolution der sozialen Verhältnisse auf der Grundlage des Gemeineigentums jetzt zu einer dringenden und unvermeidlichen Notwendigkeit geworden ist. Dies Ergebnis ist um so eindrucksvoller, als jede der drei erwähnten Nationen unabhängig von den anderen dazu gelangt ist; es kann keinen stärkeren Beweis als diesen geben, daß der Kommunismus nicht bloß die Konsequenz aus der besonderen Lage der englischen oder einer beliebigen anderen Nation ist, sondern eine notwendige Folgerung, die aus den Voraussetzungen, wie sie in den allgemeinen Bedingungen der modernen Zivilisation gegeben sind, unvermeidlich gezogen werden muß.

Es wäre daher wünschenswert, daß die drei Nationen einander verstünden, daß sie wüßten, inwieweit sie übereinstimmen und inwieweit sie nicht übereinstimmen, denn es muß auch Meinungsverschiedenheiten geben, da die Doktrin des Kommunismus in jedem der drei Länder einen anderen Ursprung hatte. Die Engländer kamen zu dem Ergebnis praktisch, durch die rasche Zunahme des Elends, der Demoralisierung und des Pauperismus in ihrem |481| Vaterlande; die Franzosen politisch, indem sie zunächst politische Freiheit und Gleichheit forderten und, als sie dies unzureichend fanden, ihren politischen Forderungen auch noch die Forderung nach sozialer Freiheit und sozialer Gleichheit hinzufügten; die Deutschen wurden philosophisch zu Kommunisten, durch Schlußfolgerungen aus ersten Prinzipien. Bei diesem Ursprung des Sozialismus in den drei Ländern muß es in Dingen von untergeordneter Bedeutung Meinungsverschiedenheiten geben; ich glaube aber nachweisen zu können, daß diese Meinungsverschiedenheiten sehr geringfügig und durchaus mit den freundschaftlichsten Gefühlen der Sozialreformer eines jeden Landes für die des anderen Landes vereinbar sind. Sie müßten einander nur noch kennenlernen; wenn das erreicht ist, werden sie alle - dessen bin ich gewiß - ihren ausländischen Bruderkommunisten von Herzen Erfolg wünschen.

I. Frankreich

Seit der Revolution ist Frankreich das ausgesprochen politische Land Europas. Keine Verbesserung, keine Doktrin kann in Frankreich zu nationaler Bedeutung gelangen, wenn sie sich nicht in irgendeiner politischen Gestalt verkörpert. Der französischen Nation scheint im gegenwärtigen Stadium der Menschheitsgeschichte die Rolle bestimmt, alle politischen Entwicklungsformen zu durchlaufen und vom rein Politischen ausgehend zu dem Punkt zu kommen, wo alle Völker, alle verschiedenen Wege beim Kommunismus anlangen müssen. Die Entwicklung der öffentlichen Meinung in Frankreich zeigt das deutlich, und zugleich zeigt sie, wie die zukünftige Geschichte der englischen Chartisten verlaufen muß.

Die französische Revolution war der Ursprung der Demokratie in Europa. Demokratie ist - und so schätze ich alle Regierungsformen ein - ein Widerspruch in sich, eine Unwahrheit, im Grunde nichts als Heuchelei (Theologie, wie wir Deutschen es nennen). Politische Freiheit ist Scheinfreiheit, die schlimmste Art von Sklaverei, der Schein der Freiheit und deshalb die schlimmste Knechtschaft. Ebenso verhält es sich mit der politischen Gleichheit, deshalb muß die Demokratie so gut wie jede andere Regierungsform schließlich in Scherben gehen: Heuchelei kann keinen Bestand haben, der in ihr verborgene Widerspruch muß zutage treten; entweder richtige Sklaverei, das heißt unverhüllter Despotismus, oder echte Freiheit und echte Gleichheit, das heißt Kommunismus. Die französische Revolution hat beide Formen hervorgebracht; Napoleon errichtete die eine, Babeuf die andere. Zum Thema |482| Babeuvismus kann ich mich, denke ich, kurz fassen, da die Geschichte seiner Verschwörung von Buonarotti ins Englische übersetzt worden ist. Der kommunistische Anschlag glückte nicht, weil der damalige Kommunismus selbst noch sehr grobschlächtig und oberflächlich, und andrerseits die öffentliche Meinung noch nicht weit genug entwickelt war.

Der nächste französische Sozialreformer war Graf von St. Simon. Ihm gelang es, eine Sekte und sogar einige Niederlassungen zu gründen, doch führte beides zu keinem Erfolg. Der allgemeine Charakter der Saint-Simonschen Lehren ist dem der Ham-Common Socialists in England sehr ähnlich, wenn auch in Einzelheiten der Systeme und Ideen beträchtliche Unterschiede bestehen. Die Eigentümlichkeiten und Verschrobenheiten der Saint-Simonisten fielen sehr bald dem Witz und der Satire der Franzosen zum Opfer, und was erst einmal lächerlich gemacht, ist in Frankreich unweigerlich verloren. Es gab außerdem aber auch noch andere Gründe für das Mißlingen der Saint-Simonschen Einrichtungen; sämtliche Doktrinen dieser Partei waren in den Nebel unverständlicher Mystik eingehüllt, die anfangs die Aufmerksamkeit der Leute erregen mochte, aber schließlich ihre Erwartungen enttäuschen mußte. Ihre ökonomischen Prinzipien waren ebenfalls nicht unanfechtbar; der Anteil eines Mitglieds ihrer Gemeinden sollte bei der Verteilung der Produkte erstens nach der Menge der von ihm geleisteten Arbeit und zweitens nach der Größe des von ihm gezeigten Talents bemessen werden. Auf dieses Prinzip hat ein deutscher Republikaner, Börne, mit Recht geantwortet, daß Talent, statt belohnt zu werden, eher als natürliche Begünstigung angesehen und daher von dem Anteil der Begabten ein Abzug vorgenommen werden sollte, um die Gleichheit wieder herzustellen.

Nachdem der Saint-Simonismus wie ein glänzender Meteor die Aufmerksamkeit der Denkenden erregt hatte, verschwand er wieder vom sozialen Horizont. Kein Mensch denkt heute noch daran oder redet noch davon; seine Zeit ist vorbei.

Fast gleichzeitig mit Saint-Simon wandte noch ein anderer Mann die Tatkraft seines gewaltigen Verstandes dem sozialen Zustand der Menschheit zu - Fourier. Wenn auch Fouriers Schriften nicht so glänzende Funken von Genie aufweisen, wie wir sie bei Saint-Simon und einigen seiner Schüler finden, wenn auch sein Stil schwerfällig ist und in erheblichem Maße die Mühe erkennen läßt, mit welcher der Verfasser ständig arbeitet, um seine Gedanken klar zu formulieren und Dinge auszusprechen, für die in der französischen Sprache keine Worte vorhanden sind - nichtsdestoweniger liest man seine Werke mit mehr Genuß und findet mehr wirklichen Wert in ihnen, als in denen der vorhergehenden Schule. Mystik gibt es zwar auch und so ausgefallen |483|* wie nur möglich, aber das kann man wegschneiden und beiseite werfen, und es wird etwas bleiben, was bei den Saint-Simonisten nicht zu finden ist: wissenschaftliche Forschung, kühles, vorurteilsfreies, systematisches Denken, kurzum Sozialphilosophie, während man den Saint-Simonismus nur Sozialpoesie nennen kann. Fourier war es, der zum ersten Male das große Axiom der Sozialphilosophie aufstellte: Da jedes Individuum eine Neigung oder Vorliebe für eine ganz bestimmte Art von Arbeit habe, müsse die Summe der Neigungen aller Individuen im großen ganzen eine ausreichende Kraft darstellen, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Aus diesem Prinzip folgt: wenn jeder einzelne seiner persönlichen Neigung entsprechend tun und lassen darf, was er möchte, werden doch die Bedürfnisse aller befriedigt werden, und zwar ohne die gewaltsamen Mittel, die das gegenwärtige Gesellschaftssystem anwendet. Diese Behauptung scheint kühn zu sein, und doch ist sie in der Art, wie Fourier sie aufstellt, ganz unanfechtbar, ja fast selbstverständlich - das Ei des Kolumbus. Fourier weist nach, daß jeder mit der Neigung für irgendeine Art von Arbeit geboren wird, daß absolute Untätigkeit Unsinn ist, etwas, was es nie gegeben hat und nicht geben kann, daß das Wesen des menschlichen Geistes darin besteht, selber tätig zu sein und den Körper in Tätigkeit zu bringen, und daß daher keine Notwendigkeit besteht, Menschen zur Tätigkeit zu zwingen, wie im gegenwärtig bestehenden Gesellschaftszustand, sondern nur die, ihren natürlichen Tätigkeitsdrang in die richtige Bahn zu lenken. Er beweist ferner, daß Arbeit und Vergnügen identisch sind, und zeigt die Vernunftwidrigkeit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, die beide voneinander trennt, aus der Arbeit eine Plackerei und das Vergnügen für die Mehrheit der Arbeiter unerreichbar macht; weiter zeigt er, wie bei vernünftigen Vorkehrungen die Arbeit zu dem gemacht werden kann, was sie eigentlich sein soll, nämlich zu einem Vergnügen, wobei jeder seinen eigenen Neigungen folgen darf. Ich kann natürlich nicht Fouriers gesamte Theorie der freien Arbeit durchgehen, und ich denke, dies wird genügen, um den englischen Sozialisten zu zeigen, daß der Fourierismus eine Sache ist, die durchaus ihre Aufmerksamkeit verdient.

Es ist außerdem Fouriers Verdienst, die Vorteile, oder besser gesagt die Notwendigkeit des Zusammenschlusses gezeigt zu haben. Es dürfte genügen, dieses Thema lediglich zu erwähnen, da ich weiß, daß die Engländer sich seiner Wichtigkeit durchaus bewußt sind.

Es gibt jedoch im Fourierismus eine sehr schwerwiegende Inkonsequenz, und zwar die Beibehaltung des Privateigentums. In seinen Phalanstères oder genossenschaftlichen Gemeinden gibt es Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter. Das Eigentum aller Mitglieder wird in einen gemeinsamen Fundus |484| eingebracht, das Unternehmen betreibt Handel, landwirtschaftliche und gewerbliche Tätigkeit, und der Ertrag wird unter die Mitglieder verteilt: ein Teil als Arbeitslohn, ein zweiter Teil als Prämien für Fachkenntnis und Begabung, ein dritter als Verzinsung des Kapitals. So haben wir nach all den schönen Theorien von Genossenschaftsbildung und freier Arbeit, nach einer ganzen Menge entrüsteter Deklamationen gegen Handel, Eigennutz und Konkurrenz, in der Praxis doch wieder das alte Konkurrenzsystem nach einem verbesserten Plan, eine Armengesetz-Bastille mit liberaleren Grundsätzen! Dabei können wir natürlich nicht stehenbleiben, und auch die Franzosen haben hierbei nicht haltgemacht.

Die Fortschritte des Fourierismus in Frankreich waren langsam aber stetig. Es gibt nicht viele Fourieristen, doch findet man unter ihnen einen beträchtlichen Teil der heute in Frankreich wirkenden Intelligenz. Victor Considérant ist einer ihrer geistvollsten Schriftsteller. Sie haben auch eine Zeitung, die »Phalange«, die früher dreimal wöchentlich herauskam und jetzt täglich erscheint.

Da die Fourieristen jetzt durch Mr. Doherty auch in England vertreten sind, glaube ich wohl genug über sie gesagt zu haben und gehe nun zu der wichtigsten und radikalsten Partei in Frankreich über, zu den Kommunisten.

Ich erwähnte schon, daß in Frankreich alles, was nationale Bedeutung beansprucht, politischen Charakter tragen muß; sonst hat es keinen Erfolg. Saint-Simon und Fourier berührten die Politik überhaupt nicht; ihre Pläne wurden daher auch nicht zum Gemeinbesitz der Nation, sondern nur zum Gegenstand privater Diskussion. Wir haben gesehen, wie Babeufs Kommunismus aus der Demokratie der ersten Revolution erwuchs. Die zweite Revolution - die Revolution von 1830 - brachte einen neuen und mächtigeren Kommunismus hervor. Es kam zu der »Großen Woche« von 1830 durch das Bündnis der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, der Liberalen und der Republikaner. Als die Arbeit getan war, wurde die Arbeiterklasse nach Hause geschickt, und die Früchte der Revolution wurden allein von der Bourgeoisie eingeheimst. Die Arbeiter erhoben sich in mehreren Aufständen, um das politische Monopol zu brechen und eine Republik zu errichten, wurden aber immer wieder geschlagen, da die Bourgeoisie nicht nur die Armee auf ihrer Seite hatte, sondern auch selbst die Nationalgarde bildete. Während dieser Zeit (1834/35) kam unter den republikanischen Arbeitern eine neue Doktrin auf. Sie erkannten, daß sie sogar im Falle des Gelingens ihrer demokratischen Pläne auch weiterhin von ihren begabteren und gebildeteren Anführern geprellt werden würden und daß ihre soziale Lage, die Ursache ihrer politischen Unzufriedenheit, sich durch keinerlei politischen Wechsel verbessern würde. |485| Sie gingen auf die Geschichte der großen Revolution zurück und griffen begierig Babeufs Kommunismus auf. Das ist alles, was man mit Sicherheit über den Ursprung des modernen Kommunismus in Frankreich sagen kann; zuerst wurde die Sache in den dunklen Straßen und übervölkerten Gassen der Pariser Vorstadt Saint-Antoine erörtert, bald darauf in den Geheimversammlungen von Verschwörern. Wer mehr über seinen Ursprung weiß, behält sein Wissen wohlweislich für sich, um dem »starken Arm des Gesetzes« zu entgehen. Jedenfalls breitete der Kommunismus sich schnell über Paris, Lyon, Toulouse und die anderen großen Industriestädte des Reiches aus. Verschiedenartige Geheimgesellschaften lösten einander ab; darunter waren die »Travailleurs Egalitaires«, das heißt etwa Arbeiterbund der Gleichmacher, und die Humanitarier die wichtigsten. Die Gleichmacher waren genau wie die Babouvisten der großen Revolution ein ziemlich »rauher Schlag«; sie hatten vor, aus der Welt eine Arbeitergemeinschaft zu machen und dabei jede Verfeinerung der Kultur, Wissenschaft, schönen Künste usw. als unnützen, gefährlichen und aristokratischen Luxus abzutun; ein Vorurteil, das sich mit Notwendigkeit aus ihrer völligen Unkenntnis der Geschichte und der politischen Ökonomie ergab. Die Humanitarier waren besonders für ihre Angriffe auf Ehe, Familie und andere ähnliche Einrichtungen bekannt. Sowohl diese beiden als auch noch zwei oder drei andere Parteien waren sehr kurzlebig, und die Hauptmasse der französischen Arbeiterklasse nahm sehr bald die von Cabet - »Père Cabet« (Vater Cabet), wie man ihn nennt - verkündeten Grundsätze an, die auf dem Kontinent unter dem Namen Ikarischer Kommunismus bekannt sind.

Dieser Abriß der Geschichte des Kommunismus in Frankreich zeigt bis zu einem gewissen Grade, worin sich der französische vom englischen Kommunismus unterscheiden muß. Die Sozialreformbewegung in Frankreich ist politischen Ursprungs; man stellt fest, daß die Demokratie keine echte Gleichheit zu geben vermag, und deshalb wird das Kommunesystem zu Hilfe gerufen. Die Masse der französischen Kommunisten sind daher außerdem Republikaner; sie wünschen einen kommunistischen Aufbau der Gesellschaft unter republikanischer Regierungsform. Nun glaube ich nicht, daß die englischen Sozialisten dagegen ernstliche Einwände hätten; denn obwohl sie mehr für eine Wahlmonarchie sind, kenne ich sie doch als zu aufgeklärt, als daß sie ihre Regierungsform einem Volke aufzwingen wollten, das ihr völlig ablehnend gegenübersteht. Es liegt auf der Hand, daß ein derartiger Versuch das betreffende Volk in viel größere Unruhen und Schwierigkeiten verwickeln würde, als sich aus seiner eigenen demokratischen Regierungsform ergäben, vorausgesetzt sogar, sie wäre schlecht.

|486| Doch gibt es andere Einwände, die man gegen die französischen Kommunisten geltend machen könnte. Sie beabsichtigen, die jetzige Regierung ihres Landes mit Gewalt zu stürzen und haben das durch ihre ständige Politik der Geheimbündelei bewiesen. Das stimmt. Sogar die Ikarier, die zwar in ihren Veröffentlichungen erklären, daß sie gewaltsame Revolutionen und Geheimbünde verabscheuen, sogar sie sind in dieser Weise organisiert und würden mit Freuden jede Gelegenheit ergreifen, gewaltsam eine Republik zu errichten. Dagegen werden sich wahrscheinlich Einwände erheben und mit Recht: weil Geheimbünde jedenfalls immer gegen die elementarsten Vorsichtsmaßregeln verstoßen und dadurch die Beteiligten unnötigen gesetzlichen Verfolgungen aussetzen. Ich bin nicht gesonnen, eine derartige Politik zu verteidigen; aber sie muß erklärt werden, damit sie verständlich ist, und sie erklärt sich vollauf durch den Unterschied zwischen Engländern und Franzosen im Nationalcharakter und in der Regierungsform. Die englische Verfassung ist jetzt schon seit ungefähr hundertfünfzig Jahren ohne Unterbrechung das Gesetz des Landes; jede Veränderung ist mit legalen Mitteln, in verfassungsmäßigen Formen durchgeführt worden; daher müssen die Engländer vor ihren Gesetzen hohe Achtung haben. In Frankreich aber folgte in den letzten fünfzig Jahren ein erzwungener Wechsel dem anderen; alle Verfassungen, von der radikalen Demokratie bis zum offenen Despotismus, und alle möglichen Gesetze wurden nach kurzem Bestehen beiseite geworfen und durch andere ersetzt. Wie kann da das Volk Achtung vor seinen Gesetzen haben? Und das Ergebnis all dieser Erschütterungen, das jetzt in der französischen Verfassung und in den Gesetzen niedergelegt ist, ist die Unterdrückung der Armen durch die Reichen, eine Unterdrückung, die mit Gewalt aufrechterhalten wird; wie kann man dabei erwarten, daß die Unterdrückten ihren staatlichen Einrichtungen Liebe entgegenbringen, daß sie nicht wieder zu den alten Methoden von 1792 ihre Zuflucht nehmen? Sie wissen, wenn sie etwas sind, sind sie es nur, weil sie auf Gewalt mit Gewalt antworten, und da sie gegenwärtig keine anderen Mittel haben, warum sollten sie da auch und nur da einen Augenblick zögern, diese Mittel anzuwenden? Ferner wird man sagen, warum gründen die französischen Kommunisten keine Kommunen wie die englischen? Meine Antwort lautet: Weil sie es nicht wagen. Täten sie es, so würde schon der erste Versuch von Soldaten unterdrückt werden. Und dürften sie es auch tun, so würde es ihnen doch nichts nützen. Die Ansiedlung in »Harmony« habe ich immer bloß als Experiment aufgefaßt, das die praktische Durchführbarkeit von Owens Plänen zeigen sollte, um der öffentlichen Meinung eine günstigere Vorstellung von den sozialistischen Plänen zur Linderung des Massenelends aufzunötigen |487|*. Nun, wenn das zutrifft, würde so ein Experiment in Frankreich keinen Zweck haben. Zeigt den Franzosen nicht, daß eure Pläne praktisch sind, denn das würde sie kalt und gleichgültig lassen. Zeigt ihnen vielmehr, daß eure Kommunen die Menschheit nicht einem »eisernen Despotismus« unterstellen werden, wie der Chartist Mister Bairstow neulich in seiner Diskussion mit Mister Watts gesagt hat. Zeigt ihnen, daß wirkliche Freiheit und wirkliche Gleichheit nur unter den Bedingungen der Kommune möglich sind, zeigt ihnen, daß die Gerechtigkeit solche Bedingungen erfordert, dann werdet ihr sie alle auf eurer Seite haben.

Aber zurück zu den sozialen Lehren der ikarischen Kommunisten. Ihre »heilige Schrift« ist die »Voyage en Icarie« (Reise nach Ikarien) von Vater Cabet, der, nebenbei gesagt, früher Generalprokurator und Mitglied der Deputiertenkammer war. Die allgemeinen Richtlinien für ihre Kommunen unterscheiden sich von denen Owens nur sehr wenig. Sie haben alles Vernünftige, was sie bei Saint-Simon und Fourier fanden, in ihre Pläne mit aufgenommen und sind daher den alten französischen Kommunisten sehr weit überlegen. In bezug auf die Ehe stimmen sie vollkommen mit den Engländern überein. Alles Menschenmögliche wird getan, um die Freiheit des Individuums zu gewährleisten. Strafen sollen abgeschafft und durch Erziehung der Jugend und vernünftige geistige Einwirkung auf die Erwachsenen ersetzt werden.

Eines ist jedoch sonderbar; während die englischen Sozialisten im allgemeinen gegen das Christentum sind und daher unter all den religiösen Vorurteilen eines wirklich christlichen Volkes leiden müssen, sind die französischen Kommunisten, obwohl Teil einer Nation, die für ihren Unglauben berühmt ist, selber Christen. Einer ihrer Lieblingsgrundsätze heißt: Christentum ist Kommunismus, »le Christianisme c'est le Communisme«. Das versuchen sie durch die Bibel zu beweisen und dadurch, daß die ersten Christen in Gütergemeinschaft gelebt haben sollen usw. Aber all das zeigt nur, daß diese braven Leute nicht eben die besten Christen sind, wenn sie sich auch so nennen; denn wären sie es wirklich, so würden sie die Bibel besser kennen und finden, daß zwar einige wenige Bibelstellen den Kommunismus zu begünstigen scheinen, der allgemeine Geist ihrer Lehren ihm aber dennoch völlig zuwiderläuft, genau wie jeder anderen vernünftigen Maßnahme.

Das Anwachsen des Kommunismus ist von den meisten hervorragenden Geistern Frankreichs begrüßt worden; Pierre Leroux, der Metaphysiker, George Sand, die mutige Verteidigerin der Rechte ihres Geschlechts, Abbé de Lamennais, der Verfasser der »Worte eines Gläubigen«, und noch sehr viele andere sind den kommunistischen Doktrinen mehr oder minder zugetan |488|*. Der bedeutendste Schriftsteller auf diesem Gebiet ist jedoch Proudhon, ein junger Mann, der vor zwei oder drei Jahren sein Werk veröffentlichte: Was ist Eigentum? (»Qu'est ce que la propriété?«); seine Antwort, die er darauf gab, lautet: »La propriété c'est le vol«, Eigentum ist Diebstahl. Das ist auf seiten der Kommunisten das philosophischste Werk in französischer Zunge, und wenn ich irgendein französisches Buch ins Englische übersetzt sehen möchte, so ist es dieses. Das Recht des Privateigentums, die Folgen dieser Institution, Konkurrenz, Unmoral und Elend, werden hier mit einer Kraft des Verstandes und in wirklich wissenschaftlicher Forschung entwickelt, wie ich sie seither nie wieder in einem Bande vereint gefunden habe. Daneben macht er sehr wichtige Bemerkungen über die Regierungsformen, und nachdem er bewiesen hat, daß jede Regierungsform gleichermaßen anfechtbar ist, ob es sich nun um die Demokratie, die Aristokratie oder die Monarchie handelt, daß alle mit Gewalt regieren, und daß selbst im besten aller möglichen Fälle die Stärke der Mehrheit die Schwäche der Minderheit unterdrückt, kommt er schließlich zu dem Resultat: »Nous voulons l'anarchie!« Was wir brauchen, ist Anarchie, Niemandsherrschaft, die Verantwortung jedes einzelnen vor niemandem als sich selbst.

Über dieses Thema werde ich noch mehr zu sagen haben, wenn ich zu den deutschen Kommunisten komme. Ich habe jetzt nur noch hinzuzufügen, daß man die französischen ikarischen Kommunisten zahlenmäßig auf etwa eine halbe Million schätzt, Frauen und Kinder nicht gerechnet. Eine recht ansehnliche Phalanx, nicht wahr? Sie haben eine Monatsschrift, den »Populaire«, die Vater Cabet herausgibt, und außerdem läßt P. Leroux eine Zeitschrift erscheinen, die »Revue Indépendante«, worin die Grundsätze des Kommunismus philosophisch verfochten werden.

Manchester, den 23. Oktober 1843

[»The New Moral World« Nr. 21 vom 18. November 1843]

II. Deutschland und die Schweiz

Deutschland hatte seine Sozialreformer schon zur Zeit der Reformation. Bald nachdem Luther begonnen hatte, für die Kirchenreform zu agitieren und das Volk gegen die geistliche Herrschaft aufzuwiegeln, erhob sich die Bauernschaft Süd- und Mitteldeutschlands in einem allgemeinen Aufstand gegen ihre weltlichen Herren. Luther erklärte stets, sein Ziel sei die Rückkehr zum ursprünglichen Christentum in Lehre und Leben; die Bauern wollten |489| das gleiche und forderten deshalb die Erneuerung des Urchristentums nicht bloß in der Kirche, sondern auch im gesellschaftlichen Leben. Sie hielten den Zustand der Leibeigenschaft und Knechtschaft, in dem sie lebten, für unvereinbar mit den Lehren der Bibel. Sie wurden von einem Haufen hochmütiger Barone und Grafen unterdrückt, Tag für Tag ausgeplündert und wie das Vieh behandelt; kein Gesetz schützte sie, und gab es eines, so fand sich niemand, der ihm Geltung verschafft hätte. Ein derartiger Zustand stach sehr ab von dem Gemeinwesen der ersten Christen und von den Lehren Christi, wie sie in der Bibel niedergelegt sind. So erhoben sie sich zum Krieg gegen ihre Herren, der nur ein Vernichtungskrieg sein konnte. Der Prediger Thomas Münzer, den sie an ihre Spitze stellten, erließ einen Aufruf, der natürlich voll des religiösen und abergläubischen Unsinns seiner Zeit war, der aber unter anderem auch Grundsätze wie diese enthielt: Nach der Bibel habe kein Christ das Recht, irgendwelches Eigentum ausschließlich für sich zu behalten; Eigentumsgemeinschaft sei der einzig geeignete Zustand für eine Gesellschaft von Christen; keinem guten Christen sei es erlaubt, irgendeine Herrschaft oder Befehlsgewalt über andere Christen auszuüben, auch nicht irgendein Regierungsamt oder erbliche Macht innezuhaben, sondern im Gegenteil, so, wie vor Gott alle Menschen gleich sind, sollten sie es auch auf Erden sein. Diese Lehren waren nichts weiter als logische Schlüsse aus der Bibel und aus Luthers eigenen Schriften: aber der Reformator war nicht bereit, so weit zu gehen wie das Volk. Trotz des Mutes, den er gegenüber den geistlichen Behörden bewies, hatte er sich nicht von den politischen und sozialen Vorurteilen seiner Zeit befreit. So fest wie er an die Bibel glaubte, glaubte er an das göttliche Recht der Fürsten und Grundherren, das Volk mit Füßen zu treten. Da er außerdem den Schutz des Adels und der protestantischen Fürsten bedurfte, schrieb er ein Pamphlet gegen die Aufständischen, worin er nicht nur jede Verbindung mit ihnen von sich wies, sondern auch noch den Adel aufhetzte, sie als Rebellen gegen die Gesetze Gottes mit der äußersten Strenge niederzuzwingen. »Schlagt sie tot wie Hunde!« rief er. Das ganze Pamphlet ist mit solcher Gehässigkeit, ja mit einer solchen fanatischen Wut gegen das Volk geschrieben, daß es für immer ein Makel auf Luthers Charakterbild sein wird; es zeigt, daß er, der seine Laufbahn als Mann des Volkes begonnen hatte, nun ganz im Dienste seiner Unterdrücker stand. Der Aufstand wurde nach überaus blutigem Bürgerkrieg niedergeworfen und die Bauern in ihre alte Knechtschaft zurückgeführt.

Sehen wir von einigen vereinzelten Fällen ab, von denen die Öffentlichkeit keine Kenntnis nahm, so hat es vom Bauernkriege an bis in die allerjüngste Zeit in Deutschland keine Partei von Sozialreformern gegeben. Die |490| öffentliche Meinung war während der letzten fünfzig Jahre zu sehr durch Fragen von nur politischer oder nur metaphysischer Art in Anspruch genommen - Fragen, die beantwortet sein mußten, ehe die soziale Frage mit der nötigen Ruhe und Kenntnis erörtert werden konnte. Dennoch haben Männer, die sich einem kommunistischen System entschieden widersetzt hätten, wenn man ihnen ein solches vorgeschlagen hätte, seiner Einführung den Weg geebnet. Neuerdings ist die Sozialreform wieder zum Gegenstand der Erörterung gemacht worden, diesmal aber in der deutschen Arbeiterklasse. Da Deutschland verhältnismäßig wenig Fabrikindustrie hat, besteht die Masse der Arbeiterklasse aus Handwerksgesellen, die ein paar Jahre lang durch Deutschland, die Schweiz, sehr oft auch durch Frankreich wandern, bevor sie sich als kleine Meister niederlassen. So ist eine große Zahl deutscher Arbeiter ständig auf dem Wege von oder nach Paris und mußte dort natürlich mit den politischen und sozialen Bewegungen der französischen Arbeiterklasse bekannt werden. Einer von diesen Männern, Wilhelm Weitling, ein einfacher Schneidergeselle aus Magdeburg in Preußen, faßte den Entschluß, in seinem Vaterlande kommunistische Gemeinden einzurichten.

Dieser Mann, der als Begründer des deutschen Kommunismus anzusehen ist, ging nach ein paar Jahren Aufenthalts in Paris in die Schweiz, arbeitete dort in einem Schneideratelier in Genf und predigte dabei seinen Arbeitskollegen sein neues Evangelium. Er bildete kommunistische Vereine in allen kleineren und größeren Städten auf der schweizerischen Seite des Genfer Sees und gewann die meisten Deutschen, die dort arbeiteten, für seine Ideen. Nachdem er auf diese Weise die öffentliche Meinung vorbereitet hatte, gab er zwecks breiterer Agitation im Lande eine Zeitschrift »Die Junge Generation« heraus. Obwohl ausschließlich für Arbeiter und von einem Arbeiter geschrieben, ist dieses Blatt von Anfang an besser als die meisten französischen kommunistischen Publikationen gewesen, besser sogar als Vater Cabets »Populaire«. Man merkt ihm an, daß sein Herausgeber sehr schwer gearbeitet haben muß, um sich das historische und politische Wissen anzueignen, ohne das ein Publizist nun einmal nicht auskommt und das eine mangelhafte Bildung ihm vorenthalten hatte. Das Blatt zeigt zugleich, daß Weitling sich ständig bemühte, seine verschiedenen Ideen und Gedanken über die Gesellschaft zu einem geschlossenen System des Kommunismus zusammenzufügen. »Die Junge Generation« erschien erstmals im Jahre 1841; im nächsten Jahr veröffentlichte Weitling ein Werk: »Garantien der Harmonie und Freiheit«, worin er die alte Gesellschaftsordnung kritisierte und die Grundzüge einer neuen umriß. Ich werde vielleicht bei Gelegenheit ein paar Auszüge aus diesem Buche bringen.

|491| Nachdem er so den Kern einer kommunistischen Partei in Genf und Umgebung geschaffen hatte, ging er nach Zürich, wo einige seiner Freunde, genau wie in anderen Städten der Nordschweiz, schon begonnen hatten, auf die Arbeiter einzuwirken. Er begann nun, seine Partei in diesen Städten zu organisieren. Unter der Bezeichnung »Gesangvereine« wurden Vereine zur Erörterung der sozialen Neugestaltung gebildet. Gleichzeitig kündigte Weitling seine Absicht an, ein Buch zu veröffentlichen: »Das Evangelium des armen Sünders«. Da aber mischte sich die Polizei in seine Tätigkeit ein.

Im vergangenen Juni wurde Weitling in Haft genommen, seine Papiere und sein Buch wurden beschlagnahmt, ehe es aus der Presse kam. Die Regierung der Republik ernannte eine Kommission, die die Angelegenheit untersuchen und dem Großen Rat, den Volksvertretern, Bericht erstatten sollte. Dieser Bericht ist vor einigen Monaten gedruckt worden. Daraus ersieht man, daß es in allen Teilen der Schweiz sehr viele kommunistische Vereine gab, die hauptsächlich aus deutschen Arbeitern bestanden; daß Weitling als Führer der Partei galt und von Zeit zu Zeit Berichte über ihre Fortschritte erhielt; daß er mit ähnlichen deutschen Vereinen in Paris und London in Briefwechsel stand, und daß all diese Gesellschaften, da ihre Mitglieder sehr häufig ihren Wohnsitz wechselten, ebensoviele Brutstätten für die bewußten »gefährlichen und utopischen Lehren« waren, die ihre älteren Mitglieder nach Deutschland, Ungarn und Italien aussandten und jeden Arbeiter, der in ihren Einflußbereich kam, mit ihrem Geiste erfüllten. Der Bericht wurde von Dr. Bluntschli verfaßt, einem Mann von aristokratischen und fanatisch christlichen Überzeugungen; das ganze ist daher eher im Stile einer parteiischen Schmähschrift als im Stil eines sachlichen, amtlichen Berichts geschrieben. Der Kommunismus wird als eine im höchsten Grade gefährliche Lehre angeprangert, die jede bestehende Ordnung untergrabe und alle geheiligten Bande der Gesellschaft zerstöre. Der fromme Doktor findet darüber hinaus keine Worte, die stark genug wären, um seinen Gefühlen über die frivole Lästerung Ausdruck zu geben, womit diese infamen und ungebildeten Leute versuchen, ihre bösartigen und revolutionären Lehren durch Stellen aus der Heiligen Schrift zu rechtfertigen. Weitling und seine Partei gleichen in dieser Hinsicht ganz den Ikariern in Frankreich und behaupten, Christentum sei Kommunismus.

Das Ergebnis des Weitling-Prozesses trug herzlich wenig dazu bei, die Erwartungen der Züricher Regierung zufriedenzustellen. Wenn auch Weitling und seine Freunde in ihren Ausdrücken manchmal sehr unvorsichtig waren, konnte doch die Anklage wegen Hochverrats und Verschwörung gegen ihn nicht aufrechterhalten werden. Das Kriminalgericht verurteilte |492| ihn zu sechs Monaten Gefängnis und zur Ausweisung aus der Schweiz für immer; die Mitglieder der Züricher Vereine wurden aus dem Kanton ausgewiesen; der Bericht wurde den Regierungen der anderen Kantone und den ausländischen Gesandtschaften mitgeteilt, doch wurden die Kommunisten in anderen Teilen der Schweiz nur sehr wenig behindert. Die Verfolgung kam zu spät und wurde von den anderen Kantonen zu wenig unterstützt; zur Zerstörung des Kommunismus leistete sie nicht das mindeste, sie nützte ihm sogar durch das große Interesse, das sie in allen deutschsprechenden Ländern hervorrief. Der Kommunismus war in Deutschland fast unbekannt, hierdurch aber wurde er zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit.

Außer dieser Partei gibt es in Deutschland noch eine andere, die ebenfalls für den Kommunismus eintritt. Die erstere wird, da sie eine wirklich volkstümliche Partei ist, zweifellos sehr bald die ganze Arbeiterklasse Deutschlands vereinigen; die Partei, auf die ich jetzt zu sprechen komme, ist eine philosophische, hat in ihrem Ursprung weder mit französischen noch englischen Kommunisten zu tun und geht aus der Philosophie hervor, auf die Deutschland seit den letzten fünfzig Jahren so stolz ist.

Die politische Revolution Frankreichs wurde von einer philosophischen Revolution in Deutschland begleitet. Kant begann sie, indem er das alte System der Metaphysik von Leibniz stürzte, das Ende des vorigen Jahrhunderts an allen Universitäten des Festlandes eingeführt wurde. Fichte und Schelling begannen mit dem Neuaufbau, und Hegel vollendete das neue System. Noch nie, seit der Mensch überhaupt denken kann, hat es ein so umfassendes philosophisches System wie das Hegelsche gegeben. Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, Geistesphilosophie, Rechts-, Religions- und Geschichtsphilosophie sind sämtlich in einem System vereinigt und auf ein Grundprinzip zurückgeführt. Dieses System erschien von außen her ganz unangreifbar und war es auch; gestürzt wurde es nur von innen heraus; von jenen, die selbst Hegelianer waren. Ich kann hier natürlich keine vollständige Entwicklung des Systems oder seiner Geschichte geben und muß mich daher auf die folgenden Bemerkungen beschränken. Der Fortschritt der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel war so konsequent, so logisch und, wenn ich das sagen darf, so notwendig, daß neben den von mir genannten Systemen kein anderes bestehen konnte. Es gibt zwei oder drei, aber sie fanden keine Beachtung; sie wurden für so unbedeutend gehalten, daß ihnen nicht einmal jemand die Ehre erwies, sie zu stürzen. Hegel war trotz seiner gewaltigen Gelehrsamkeit und der Tiefe seiner Gedanken so stark mit abstrakten Fragen beschäftigt, daß er es versäumte, sich von den Vorurteilen seiner Zeit frei zu machen - einer Zeit der Restauration alter |493| Regierungs- und Religionssysteme. Aber seine Schüler hatten ganz andere Ansichten über diese Dinge. Hegel starb 1831, und schon 1835 erschien das »Leben Jesu« von Strauß, das erste Werk, das einen Fortschritt über die Grenzen des orthodoxen Hegelianismus hinaus zeigte. Andere folgten, und 1837 erhoben sich die Christen gegen die von ihnen so genannten Neuhegelianer, verschrien sie als Atheisten und forderten den Staat zum Eingreifen auf. Der Staat jedoch griff nicht ein, und der Streit ging weiter. Zu diesem Zeitpunkt waren sich die Neu- oder Junghegelianer so wenig der Konsequenzen aus ihren eigenen Gedankengängen bewußt, daß sie alle die Beschuldigung des Atheismus zurückwiesen und sich Christen und Protestanten nannten, wenn sie auch die Existenz eines Gottes, der nicht Mensch war, bestritten und die Geschichte der Evangelien für reine Mythologie erklärten. Erst im vergangenen Jahr wurde in einer Flugschrift von dem Schreiber dieser Zeilen der Vorwurf des Atheismus als berechtigt anerkannt. Aber die Entwicklung ging weiter. Die Junghegelianer von 1842 waren erklärte Atheisten und Republikaner; die Zeitschrift der Partei, die »Deutschen Jahrbücher«, war radikaler und offener als je zuvor; eine politische Zeitung wurde gegründet, und sehr bald war die gesamte deutsche liberale Presse gänzlich in unseren Händen. Wir hatten Freunde in fast jeder wichtigen Stadt Deutschlands; wir versorgten alle liberalen Zeitungen mit dem notwendigen Stoff und machten sie auf diese Weise zu unseren Organen; wir überschwemmten das Land mit Flugschriften und beherrschten sehr bald in jeder Frage die öffentliche Meinung. Eine zeitweilige Lockerung der Preßzensur vermehrte die Energie dieser Bewegung, die für einen beträchtlichen Teil des deutschen Publikums ganz neu war. Zeitungen, die mit Genehmigung eines Regierungszensors erschienen, enthielten Dinge, die selbst in Frankreich als Hochverrat bestraft worden wären, und andere Dinge, die in England nicht hätten ausgesprochen werden können, ohne daß ein Verfahren wegen Gotteslästerung die Folge gewesen wäre. Die Bewegung war so plötzlich, so rapide, wurde so energisch vorgetrieben, daß Regierung und Publikum von ihr eine Zeitlang mitgezogen wurden. Doch diese Heftigkeit der Agitation bewies nur, daß sie sich nicht auf eine starke Partei im Publikum gründete und daß ihre Macht nur durch die Überraschung und Verwirrung ihrer Gegner erzeugt wurde. Als die Regierungen wieder zur Besinnung kamen, machten sie ihr durch äußerst despotische Unterdrückung der Redefreiheit ein Ende. Flugschriften, Zeitungen, Zeitschriften, wissenschaftliche Werke wurden dutzendweise verboten, und der Erregungszustand im Lande ging bald zurück. Es ist selbstverständlich, daß ein so tyrannisches Eingreifen den Fortschritt der öffentlichen Meinung nicht aufhalten und die |494| Grundsätze nicht ersticken wird, die von den Agitatoren verteidigt werden; die ganze Verfolgung ist für die herrschenden Mächte nicht von dem geringsten Nutzen gewesen, denn wenn sie die Bewegung nicht niedergeworfen hätten, wäre ihr durch die Gleichgültigkeit des breiten Publikums Einhalt geboten worden, eines Publikums, das auf radikale Veränderungen sowenig wie das eines jeden anderen Landes vorbereitet war; und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wäre die republikanische Agitation doch von den Agitatoren selber aufgegeben worden, die jetzt durch immer weitere Entwicklung der Konsequenzen ihrer Philosophie zu Kommunisten wurden. Die Fürsten und Herrscher Deutschlands sahen gerade in dem Augenblick, als sie die republikanischen Bestrebungen für immer niedergeworfen zu haben glaubten, die Erhebung des Kommunismus aus der Asche der politischen Agitation, und diese neue Lehre erscheint ihnen sogar noch gefährlicher und fürchterlicher als die, über deren scheinbare Vernichtung sie sich freuten.

Bereits im August 1842 verfochten einige wenige in der Partei die Ansicht, daß politische Veränderungen unzureichend seien, und erklärten, daß ihrer Meinung nach eine soziale Revolution auf der Grundlage des Gemeineigentums der einzige gesellschaftliche Zustand sei, der sich mit ihren abstrakten Grundsätzen vertrüge. Doch sogar die Führer der Partei, wie zum Beispiel Dr. Bruno Bauer, Dr. Feuerbach und Dr. Ruge, waren damals nicht zu diesem entschiedenen Schritt bereit. Das politische Organ der Partei, die »Rheinische Zeitung«, veröffentlichte einige Abhandlungen, die den Kommunismus vertraten, jedoch ohne den erwünschten Erfolg. Indessen war der Kommunismus eine so notwendige Konsequenz der neuhegelianischen Philosophie, daß keine Opposition ihn niederhalten konnte; und im Verlauf dieses Jahres hatten seine Begründer die Genugtuung, einen Republikaner nach dem anderen sich ihren Reihen anschließen zu sehen. Außer Dr. Heß, einem Redakteur der jetzt verbotenen »Rheinischen Zeitung«, der in der Tat der erste Kommunist in der Partei war, gibt es jetzt noch viele andere, wie Dr. Ruge, Herausgeber der »Deutschen Jahrbücher«, der wissenschaftlichen Zeitschrift der Junghegelianer, die durch Beschluß des deutschen Reichstages verboten wurde, Dr. Marx, ebenfalls ein Redakteur der »Rheinischen Zeitung«, Georg Herwegh, der Dichter, dessen Brief an den König von Preußen im vergangenen Winter von den meisten englischen Zeitungen übersetzt wurde, und andere mehr, und wir hoffen, daß der Rest der republikanischen Partei nach und nach auch zu uns übergehen wird.

So hat der philosophische Kommunismus in Deutschland wohl für immer festen Fuß gefaßt, trotz der Anstrengungen der Regierungen, ihn niederzuhalten. Sie haben in ihren Machtbereichen die Presse vernichtet, |495| aber vergeblich; die Fortschrittsparteien bedienen sich der freien Presse der Schweiz und Frankreichs, und ihre Veröffentlichungen finden in Deutschland genauso weite Verbreitung, als wenn sie im Lande selbst gedruckt würden. Alle Verfolgungen und Verbote haben sich als wirkungslos erwiesen und werden es immer bleiben; die Deutschen sind eine philosophische Nation und wollen und können den Kommunismus nicht aufgeben, sobald er sich auf gesunde philosophische Prinzipien gründet, ganz besonders, wenn er sich als unvermeidliche Schlußfolgerung aus ihrer eigenen Philosophie ergibt. Und das ist die Aufgabe, die jetzt vor uns steht. Unsere Partei muß nachweisen, daß entweder alle philosophischen Anstrengungen der deutschen Nation von Kant bis Hegel nutzlos gewesen sind - schlimmer als nutzlos - oder daß sie im Kommunismus enden müssen; daß die Deutschen entweder ihre großen Philosophen verwerfen müssen, deren Namen sie als den Ruhm ihrer Nation hochhalten, oder daß sie den Kommunismus annehmen müssen. Und das wird bewiesen werden; die Deutschen werden zwangsläufig in dieses Dilemma hineingeraten, und es kann kaum einen Zweifel geben, für welche Seite der Frage das Volk sich entscheiden wird. In Deutschland ist die Aussicht für die Gründung einer kommunistischen Partei unter den gebildeten Klassen der Gesellschaft größer als irgendwo sonst. Die Deutschen sind eine sehr uneigennützige Nation; wenn in Deutschland Grundsätze in Widerstreit mit Interessen geraten, werden fast stets die Grundsätze die Ansprüche der Interessen zum Schweigen bringen. Die gleiche Liebe zu abstrakten Prinzipien, die gleiche Nichtachtung der Wirklichkeit und des Eigeninteresses, welche die Deutschen in einen Zustand der politischen Bedeutungslosigkeit gebracht haben, genau diese gleichen Eigenschaften gewährleisten den Erfolg des philosophischen Kommunismus in diesem Lande. Den Engländern wird es sehr eigenartig erscheinen, daß eine Partei, deren Ziel die Vernichtung des Privateigentums ist, sich hauptsächlich aus Leuten zusammensetzt, die Eigentum besitzen, und doch ist das in Deutschland der Fall. Wir können unsere Reihen nur aus den Klassen auffüllen, die eine recht gute Bildung genossen haben, das heißt aus den Universitäten und aus der handeltreibenden Klasse, und bei beiden sind wir bisher auf keinerlei erhebliche Schwierigkeiten gestoßen.

Was die besonderen Lehren unserer Partei betrifft, stimmen wir mit den englischen Sozialisten erheblich mehr überein als mit irgendeiner anderen Partei. Ihr System ist wie das unsere auf philosophischen Prinzipien gegründet; sie kämpfen wie wir gegen religiöse Vorurteile, während die Franzosen die Philosophie ablehnen und die Religion verewigen, indem sie sie in den geplanten neuen Zustand der Gesellschaft mitschleppen. Die |496| französischen Kommunisten konnten uns nur in den ersten Stadien unserer Entwicklung helfen, und wir fanden bald, daß wir mehr wußten als unsere Lehrer; aber von den englischen Sozialisten werden wir noch viel lernen müssen. Wenn uns auch unsere fundamentalen Prinzipien eine breitere Grundlage geben, insofern wir sie von einem philosophischen System empfangen haben, das sämtliche Gebiete des menschlichen Wissens umfaßt, so finden wir doch in allem, was zur Praxis gehört, zu den Tatsachen des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes, daß uns die englischen Sozialisten weit voraus sind und sehr wenig zu tun übriggelassen haben. Außerdem darf ich sagen, daß ich englischen Sozialisten begegnet bin, mit denen ich fast in jeder Frage übereinstimme.

Ich kann jetzt keine Darstellung dieses kommunistischen Systems geben, ohne meinen Aufsatz zu sehr zu verlängern, aber ich beabsichtige, es bald einmal zu tun, wenn der Herausgeber der »New Moral World« mir den Raum dafür zur Verfügung stellt. Ich schließe daher mit der Feststellung, daß, ungeachtet der Verfolgungen durch die deutschen Regierungen (ich habe gehört, daß in Berlin Herr Edgar Bauer wegen einer kommunistischen Publikation gerichtlich verfolgt wird und in Stuttgart ein anderer Herr wegen des neuartigen Verbrechens »kommunistischer Korrespondenz« verurteilt worden ist), jeder notwendige Schritt unternommen wird, um eine erfolgreiche Agitation für die Sozialreform in Gang zu bringen, um eine neue Zeitschrift zu gründen und die Verbreitung aller Schriften zu sichern, die den Kommunismus vertreten.

F. Engels


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