MLWerke | 1842 | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 454/455.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999

Karl Marx/Friedrich Engels

Englische Ansicht über die innern Krisen


[»Rheinische Zeitung« Nr. 342 vom 8. Dezember 1842]

|454|*** London, 29. November. Wenn man sich im stillen eine Zeitlang mit den englischen Zuständen beschäftigt, wenn man sich über die schwache Grundlage, auf der das ganze künstliche Gebäude der sozialen und politischen Wohlfahrt Englands ruht, Klarheit verschafft hat, und nun auf einmal mitten in das englische Treiben hineinversetzt wird, so staunt man über die merkwürdige Ruhe und Zuversicht, womit hier jedermann der Zukunft entgegensieht. Die herrschenden Klassen, gleichviel ob Mittelstand oder Aristokratie, Whigs oder Tories, haben nun schon so lange das Land regiert, daß das Aufkommen einer andern Partei ihnen eine Unmöglichkeit scheint. Man mag ihnen ihre Sünden, ihre Haltlosigkeit, ihre schwankende Politik, ihre Blindheit und Verstocktheit, man mag ihnen den schwindelnden Zustand des Landes, der eine Frucht ihrer Prinzipien ist, noch so sehr vorhalten, sie bleiben bei ihrer unerschütterlichen Sicherheit und trauen sich die Kraft zu, das Land einer bessern Lage zuzuführen. Und wenn eine Revolution in England unmöglich ist, wie sie wenigstens behaupten, so haben sie allerdings für ihre Herrschaft wenig zu fürchten. Wenn der Chartismus sich so lange geduldet, bis er die Majorität im Unterhause für sich gewonnen hat, kann er noch manches Jahr Meetings halten und die sechs Punkte der Volks-Charte verlangen; die Mittelklasse wird sich nie durch Bewilligung des allgemeinen Stimmrechts von der Besetzung des Unterhauses ausschließen, da sie, eine notwendige Konsequenz der Nachgiebigkeit in diesem Punkte, alsdann von der Unzahl der Nichtbesitzenden überstimmt werden würde. Daher hat der Chartismus unter den Gebildeten in England noch gar keine Wurzel schlagen können und wird es auch so bald noch nicht. Wenn man hier von Chartisten und Radikalen spricht, so versteht man fast durchgängig die Hefe des Volkes, die Masse der Proletarier darunter, und es ist wahr, die wenigen gebildeten Stimmführer der Partei verschwinden unter der Masse.

|455| Auch abgesehen vom politischen Interesse, kann der Mittelstand nur Whig oder Tory, nie Chartist sein. Sein Prinzip ist die Aufrechthaltung des Bestehenden; der »gesetzliche Fortschritt« und das allgemeine Stimmrecht würde bei der jetzigen Lage Englands eine Revolution unfehlbar nach sich ziehen. So ist es denn ganz natürlich, daß der praktische Engländer, dem die Politik ein Zahlenverhältnis oder gar ein Handelsgeschäft ist, von der im stillen furchtbar anwachsenden Macht des Chartismus gar keine Notiz nimmt, weil sie sich nicht in Zahlen ausdrücken läßt oder doch nur in solchen, die in Beziehung auf die Regierung und das Parlament Nullen vor der Eins sind. Es gibt aber Dinge, die über das Zahlenverhältnis hinausgehen, und daran wird die Superklugheit des englischen Whiggismus und Toryismus schon scheitern, wenn ihre Zeit gekommen sein wird.


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