MLWerke | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 413-432.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999

Friedrich Engels

Briefe aus dem Wuppertal

Geschrieben im März 1839.


I

[»Telegraph für Deutschland«, März 1839]

|413| Bekanntlich begreift man unter diesem bei den Freunden des Lichtes sehr verrufenen Namen die beiden Städte Elberfeld und Barmen, die das Tal in einer Länge von fast drei Stunden einnehmen. Der schmale Fluß ergießt bald rasch, bald stockend seine purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebäuden und garnbedeckten Bleichen hindurch; aber seine hochrote Farbe rührt nicht von einer blutigen Schlacht her, denn hier streiten nur theologische Federn und wortreiche alte Weiber gewöhnlich um des Kaisers Bart; auch nicht von Scham über das Treiben der Menschen, obwohl dazu wahrlich Grund genug vorhanden ist, sondern einzig und allein von den vielen Türkischrot-Färbereien. Kommt man von Düsseldorf her, so tritt man bei Sonnborn in das heilige Gebiet; die Wupper kriecht träg und verschlammt vorbei und spannt durch ihre jämmerliche Erscheinung, dem eben verlassenen Rheine gegenüber, die Erwartungen bedeutend herab. Die Gegend ist ziemlich anmutig; die nicht sehr hohen, bald sanft steigenden, bald schroffen Berge, über und über waldig, treten keck in die grünen Wiesen hinein, und bei schönem Wetter läßt der blaue, in der Wupper sich spiegelnde Himmel ihre rote Farbe ganz verschwinden. Nach einer Biegung um einen Abhang sieht man die verschrobenen Türme Elberfelds (die demütigen Häuser verstecken sich hinter den Gärten) dicht vor sich, und in wenigen Minuten ist das Zion der Obskuranten erreicht. Fast noch außerhalb der Stadt stößt man auf die katholische Kirche; sie steht da, als wäre sie verbannt aus den heiligen Mauern. Sie ist im byzantinischen Stil nach einem sehr guten Plan von einem sehr unerfahrenen Baumeister sehr schlecht ausgeführt; die alte katholische Kirche ist abgebrochen, um dem linken noch nicht gebauten Flügel des Rathauses Platz zu machen; nur der Turm ist stehengeblieben und dient dem allgemeinen Wohl auf seine Art, nämlich als Gefängnis. Gleich darauf kömmt man |414| an ein großes Gebäude - auf Säulen ruht sein Dach, aber diese Säulen sind von ganz merkwürdiger Beschaffenheit; ihrer Dicke nach sind sie unten ägyptisch, in der Mitte dorisch und oben ionisch, und außerdem verachten sie alles überflüssige Beiwerk, als Piedestal und Kapitäl, aus sehr triftigen Gründen. Dieses Gebäude hieß früher das Museum; die Musen aber blieben weg und eine große Schuldenlast blieb da, so daß vor einiger Zeit das Gebäude verauktioniert wurde und den Namen Kasino annahm, der auch, um alle Erinnerungen an den ehemaligen poetischen Namen zu entfernen, auf das leere Frontispice gesetzt wurde. Übrigens ist das Gebäude so plump in allen Dimensionen, daß man es abends für ein Kamel hält. Von nun an beginnen die langweiligen, charakterlosen Straßen; das schöne neue Rathaus, erst halb vollendet, ist aus Mangel an Raum so verkehrt gesetzt, daß die Fronte nach einer engen, häßlichen Gasse geht. Endlich gelangt man wieder an die Wupper, und eine schöne Brücke zeigt, daß man nach Barmen kommt, wo wenigstens auf architektonische Schönheit mehr gegeben wird. Sowie die Brücke passiert ist, nimmt alles einen freundlicheren Charakter an; große, massive Häuser in geschmackvoller, moderner Bauart vertreten die Stelle jener mittelmäßigen Elberfelder Gebäude, die weder altmodisch noch modern, weder schön noch karikiert sind; überall entstehen neue, steinerne Häuser, das Pflaster hört auf, und ein grader chaussierter Weg, an beiden Seiten bebaut, setzt die Straße fort. Zwischen den Häusern sieht man auf die grünen Bleichen; die hier noch klare Wupper, und die sich dicht herandrängenden Berge, welche durch leicht geschwungene Umrisse und durch mannigfaltige Abwechselung von Wäldern, Wiesen und Gärten, aus denen überall rote Dächer hervorschauen, die Gegend immer anmutiger machen, je weiter man kommt. Halbweg der Allee sieht man gegen die Fronte der etwas zurückliegenden Unterbarmer Kirche; sie ist das schönste Gebäude des Tals, im edelsten byzantinischen Stil sehr gut ausgeführt. Bald aber tritt das Pflaster wieder ein, die grauen Schieferhäuser drängen sich eins an das andre; doch herrscht hier weit mehr Abwechselung als in Elberfeld, indem bald eine frische Bleiche, bald ein modernes Haus, bald ein Stückchen vom Fluß, bald eine Reihe Gärten dicht an der Straße das ewige Einerlei unterbrechen. Dadurch bleibt man im Zweifel, ob man Barmen für eine Stadt oder für ein bloßes Konglomerat von allerlei Gebäuden halten soll; auch ist es nur eine Vereinigung vieler Ortschaften, die durch das Band städtischer Institutionen zusammengehalten werden. Die bedeutendsten dieser Ortschaften sind: Gemarke, von jeher der Mittelpunkt reformierter Konfession; Unterbarmen, nach Elberfeld zu, unweit Wupperfeld, oberhalb Gemarke, und noch weiter Rittershausen, welches links Wichlinghausen, und rechts Hekinghausen mit dem wunderschönen |417| Rauhental neben sich hat; alle lutherisch in zwei Kirchen; die Katholiken, zwei- bis dreitausend höchstens, sind im ganzen Tal zerstreut. Nachdem der Durchreisende nun Rittershausen passiert hat, verläßt er am Ende der Welt das Bergische und tritt durch den Schlagbaum in das altpreußische, westfälische Gebiet ein.

Das ist die äußere Erscheinung des Tals, die im allgemeinen, mit Ausnahme der trübseligen Straßen Elberfelds, einen sehr freundlichen Eindruck macht; daß dieser aber für die Bewohner verlorengegangen ist, zeigt die Erfahrung. Ein frisches, tüchtiges Volksleben, wie es fast überall in Deutschland existiert, ist hier gar nicht zu spüren; auf den ersten Anblick scheint es freilich anders, denn man hört jeden Abend die lustigen Gesellen durch die Straßen ziehen und ihre Lieder singen, aber es sind die gemeinsten Zotenlieder, die je über branntweinentflammte Lippen gekommen sind; nie hört man eins jener Volkslieder, die sonst in ganz Deutschland bekannt sind und auf die wir wohl stolz sein dürfen. Alle Kneipen sind, besonders Sonnabend und Sonntag, überfüllt, und abends um elf Uhr, wenn sie geschlossen werden, entströmen ihnen die Betrunkenen und schlafen ihren Rausch meistens im Chausseegraben aus. Die gemeinsten unter diesen sind die sogenannten Karrenbinder, ein gänzlich demoralisiertes Volk, ohne Obdach und sichern Erwerb, die mit Tagesanbruch aus ihren Schlupfwinkeln, Heuböden, Ställen etc. hervorkriechen, wenn sie nicht auf Düngerhaufen oder den Treppen der Häuser die Nacht überstanden hatten. Durch Beschränkung ihrer früher unbestimmten Zahl ist diesem Wesen von der Obrigkeit jetzt einigermaßen ein Ziel gesetzt worden.

Die Gründe dieses Treibens liegen auf der Hand. Zuvörderst trägt das Fabrikarbeiten sehr viel dazu bei. Das Arbeiten in den niedrigen Räumen, wo die Leute mehr Kohlendampf und Staub einatmen als Sauerstoff, und das meistens schon von ihrem sechsten Jahre an, ist grade dazu gemacht, ihnen alle Kraft und Lebenslust zu rauben. Die Weber, die einzelne Stühle in ihren Häusern haben, sitzen vom Morgen bis in die Nacht gebückt dabei und lassen sich vom heißen Ofen das Rückenmark ausdörren. Was von diesen Leuten dem Mystizismus nicht in die Hände gerät, verfällt ins Branntweintrinken. Dieser Mystizismus muß in der frechen und widerwärtigen Gestalt, wie er dort herrscht, notwendig das entgegengesetzte Extrem hervorrufen, und daher kommt es hauptsächlich, daß das Volk dort nur aus »Feinen« (so heißen die Mystiker) und liederlichem Gesindel besteht. Schon diese Spaltung in zwei feindselige Parteien wäre, abgesehn von der Beschaffenheit derselben, allein imstande, die Entwicklung alles Volksgeistes zu zerstören, und was ist da zu hoffen, wo auch das Verschwinden der einen Partei nichts helfen würde, weil |418| beide gleich schwindsüchtig sind? Die wenigen kräftigen Gestalten, die man dort sieht, sind fast nur Schreiner oder andre Handwerker, die alle aus fremden Gegenden her sind; unter den eingebornen Gerbern sieht man auch kräftige Leute, aber drei Jahre ihres Lebens reichen hin, sie körperlich und geistig zu vernichten; von fünf Menschen sterben drei an der Schwindsucht, und alles das kommt vom Branntweintrinken. Dies aber hätte wahrlich nicht auf eine so furchtbare Weise überhandgenommen, wenn nicht der Betrieb der Fabriken auf eine so unsinnige Weise von den Inhabern gehandhabt würde, und wenn der Mystizismus nicht in der Art bestände, wie er besteht, und wie er immer mehr um sich zu greifen droht. Aber es herrscht ein schreckliches Elend unter den niedern Klassen, besonders den Fabrikarbeitern im Wuppertal; syphilitische und Brustkrankheiten herrschen in einer Ausdehnung, die kaum zu glauben ist; in Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kinde gibt. Die reichen Fabrikanten aber haben ein weites Gewissen, und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen, bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht. Denn das ist ausgemacht, daß unter den Fabrikanten die Pietisten am schlechtesten mit ihren Arbeitern umgehen, ihnen den Lohn auf alle mögliche Weise verringern, unter dem Vorwande, ihnen Gelegenheit zum Trinken zu nehmen, ja bei Predigerwahlen immer die ersten sind, die ihre Leute bestechen.

In den niedern Ständen herrscht der Mystizismus am meisten unter den Handwerkern (zu denen ich die Fabrikanten nicht rechne). Es ist ein trauriger Anblick, wenn man solch einen Menschen, gebückten Ganges, in einem langen, langen Rock, das Haar auf Pietistenart gescheitelt, über die Straßen gehen sieht. Aber wer dies Geschlecht wahrhaft kennen will, der muß in eine pietistische Schmiede- oder Schusterwerkstatt eintreten. Da sitzt der Meister, rechts neben ihm die Bibel, links, wenigstens sehr häufig - der Branntwein. Von Arbeiten ist da nicht viel zu sehen; der Meister liest fast immer in der Bibel, trinkt mitunter eins und stimmt zuweilen mit dem Chore der Gesellen ein geistlich Lied an; aber die Hauptsache ist immer das Verdammen des lieben Nächsten. Man sieht, diese Richtung ist hier dieselbe wie überall. Ihre Bekehrungswut bleibt auch nicht ohne Früchte. Besonders werden viele gottlose Säufer etc. bekehrt, meist auf wunderbare Weise. Aber das hat sich wohl; diese Proselyten sind alle entnervte, geistlose Menschen, die zu überzeugen eine Kleinigkeit ist; diese bekehren sich, lassen sich jede Woche mehrere Male zu Tränen rühren, und treiben ihr ehemaliges Leben |419| im geheimen fort. Vor mehreren Jahren kam diese Wirtschaft einmal ans Tageslicht, zum Schrecken aller Mucker. Es fand sich nämlich ein amerikanischer Spekulant unter dem Namen Pastor Jürgens ein; er predigte mehrere Male und hatte sehr viel Zulauf, weil die meisten Leute glaubten, er müsse als Amerikaner notwendig braun oder gar schwarz sein. Aber wie erstaunten sie, als er nicht nur ein Weißer war, sondern auch dergestalt predigte, daß die ganze Kirche in Tränen zerfloß; das hatte übrigens seinen Grund darin, daß er selbst, wenn alle Mittel der Rührung fehlschlugen, zu wimmern anfing. Nun war eine Stimme des Staunens unter den Gläubigen; zwar opponierten einige Vernünftige, aber da wurden sie recht als Gottlose verschrien; bald hielt Jürgens Konventikel, bekam reiche Geschenke von seinen angesehnen Freunden und lebte herrlich und in Freuden. Seine Predigten wurden so stark besucht wie keine andern; seine Konventikel waren überfüllt, jedes seiner Worte ließ Männer und Weiber weinen. Jetzt glaubten alle, er sei zum wenigsten ein halber Prophet und werde das neue Jerusalem bauen, aber auf einmal war der Spaß vorbei. Es wird plötzlich offenbar, was für Dinge in seinen Konventikeln getrieben werden; Herr Jürgens wird festgesetzt und hat ein paar Jahre in Hamm auf dem Inquisitoriat Buße getan für seine Frömmigkeit. Nachher ist er mit dem Versprechen der Besserung entlassen und wieder nach Amerika spediert worden. Auch erfuhr man, daß er seine Künste schon in Amerika angewandt, deshalb von da weitergeschickt, in Westfalen schon, um nicht aus der Übung zu kommen, eine Repetition angestellt, wo er aus Gnade oder vielmehr Schwachheit der Behörden ohne weitere Nachforschungen entlassen, und sodann in Elberfeld seinem liederlichen Leben durch nochmalige Wiederholung die Krone aufgesetzt. Als nun offenbar wurde, was da war geschehen in den Versammlungen dieses Edlen, siehe, da erhob sich wider ihn alles Volk, und war keiner, der etwas von ihm wissen wollte; sie sind alle von ihm abgefallen, vom Libanon bis an das Salzmeer, das heißt vom Rittershauser Berg bis an das Wehr zu Sonnborn in der Wupper.

Der eigentliche Mittelpunkt alles Pietismus und Mystizismus ist aber die reformierte Gemeinde in Elberfeld. Von jeher zeichnete sie sich durch streng calvinistischen Geist aus, der in den letzten Jahren durch die Anstellung der bigottesten Prediger - jetzt wirtschaften ihrer viere zugleich dort - zur schroffsten Intoleranz geworden ist und dem papistischen Sinn wenig nachsteht. Da werden komplette Ketzergerichte in den Versammlungen gehalten; da wird der Wandel eines jeden, der diese nicht besucht, rezensiert, da heißt es: Der und der liest Romane, auf dem Titel steht zwar christlicher Roman, aber der Pastor Krummacher hat gesagt, Romanenbücher seien gottlose Bücher; oder der und der schiene doch auch vor dem Herrn zu wandeln, aber er ist vorgestern |420|* im Konzert gesehen - und sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen vor Schreck über die greuliche Sünde. Und steht nun erst ein Prediger im Ruf eines Rationalisten (darunter verstehen sie jeden, der nicht mit ihrer Ansicht aufs Haar übereinstimmt), so wird er hergenommen, und sie sehen genau zu, ob sein Rock auch ganz schwarz und seine Hose recht von orthodoxer Farbe war; und wehe ihm, wo er sich in einem etwas ins Blaue fallenden Rock oder mit einer rationalistischen Weste betreten läßt! Kommt nun gar einer, der die Prädestination nicht glaubt, so heißt's gleich: Der ist beinahe so schlimm als ein Lutheraner, ein Lutheraner ist nicht viel besser als ein Katholik, ein Katholik und ein Götzenanbeter aber ist von Natur verdammt. Und was sind das für Leute, die so reden? Unwissendes Volk, die kaum wissen, ob die Bibel chinesisch oder hebräisch oder griechisch geschrieben, und nach den Worten eines einmal als orthodox anerkannten Predigers alles beurteilen, es mag dahin gehören oder nicht.

Dieser Geist war vorhanden, seit die Reformation hier die Oberhand bekam, blieb aber unbeachtet, bis der vor einigen Jahren verstorbene Prediger G. D. Krummacher an eben dieser Gemeinde anfing, ihn recht zu hegen und zu pflegen; bald war der Mystizismus in der schönsten Blüte, aber K[rummacher] starb, ehe die Frucht reif wurde; dies ist erst geschehen, seit sein Bruderssohn, Dr. Friedrich Wilhelm Krummacher, die Lehre so scharf ausgebildet und bestimmt hat, daß man nicht weiß, ob man das Ganze für Unsinn oder für Blasphemie halten soll. Nun, die Frucht ist reif; es wird sich keiner verstehen, sie zu pflücken, und so wird sie wohl mit der Zeit elendiglich faul abfallen müssen.

Gottfried Daniel Krummacher, Bruder des durch seine Parabeln bekannten Dr. F. A. Krummacher in Bremen, starb vor etwa drei Jahren in Elberfeld nach einer sehr langen Amtstätigkeit. Als vor mehr als zwanzig Jahren in Barmen ein Prediger die Prädestination nicht ganz so scharf wie er von der Kanzel lehrte, fingen sie, unter dem Vorwande, solch eine ungläubige Predigt sei gar keine, an, in der Kirche zu rauchen, Lärm zu machen und ihn am Predigen zu verhindern, so daß die Obrigkeit sich genötigt sah, einzuschreiten. Da schrieb Krummacher einen entsetzlich groben Brief an den Barmer Magistrat, wie Gregor VII. an Heinrich IV. geschrieben haben würde, und befahl, die Mucker ungeschoren zu lassen, da sie nur ihr teures Evangelium verteidigten; auch predigte er davon. Er wurde aber nur verlacht. Dies bezeichnet seinen Geist, den er bis an sein Ende bewahrt hat. Übrigens war er von so merkwürdigen Sitten, daß tausend Anekdoten von ihm zirkulieren, nach denen man ihn entweder für einen kuriosen Sonderling oder einen herzlich groben Menschen halten muß.

|421| Dr. Friedrich Wilhelm Krummacher, ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, groß, stark, von imposanter Gestalt, doch nimmt er, seitdem er in Elberfeld ist, einen nicht unbedeutenden körperlichen Umfang an. Sein Haar trägt er auf ganz absonderliche Weise, worin ihm alle seine Anhänger nachahmen, wer weiß, vielleicht wird es noch einmal Mode, die Haare à la Krummacher zu tragen; doch würde diese Mode alle frühern, sogar die der Puderperücken, an Abgeschmacktheit übertreffen.

Als Student war er Mitarbeiter an der turnenden Demagogie, schrieb Freiheitslieder, trug auf dem Wartburgfeste eine Fahne und hielt eine Rede, die großen Eindruck gemacht haben soll. Dieser flotten Jahre gedenkt er noch häufig auf der Kanzel mit den Worten: Als ich noch unter den Hethitern und Kananitern war. Später wurde er in Barmen von der reformierten Gemeine zum Pfarrer gewählt, und seine eigentliche Reputation datiert sich erst von dieser Zeit. Kaum war er da, so rief er schon durch seine Lehre der strengen Prädestination eine Spaltung nicht nur zwischen Lutheranern und Reformierten, sondern auch unter letztem zwischen strengen und gelinden Prädestinatianern hervor. Einmal kam ein alter steifer Lutheraner ein wenig angetrunken aus einer Gesellschaft und mußte über eine baufällige Brücke gehen. Das mochte ihm in seinem Zustände doch etwas gefährlich dünken, und so begann er zu reflektieren: Gehst du hinüber, und es geht gut, so ist's gut, geht es aber nicht gut, dann fällst du in die Wupper und dann sagen die Reformierten, es hätte so sein sollen; nun soll es aber nicht so sein. Er kehrte also um, suchte eine seichte Stelle, und an dieser watete er, bis an den Leib im Wasser, hindurch, mit dem seligen Gefühl, die Reformierten eines Triumphes beraubt zu haben.

Als in Elberfeld eine Stelle vakant wurde, wählte man Krummacher dahin, und in Barmen schwand alsbald aller Zwist, während er in Elberfeld noch weit stärker erregt wurde. Schon Krummachers Antrittspredigt erzürnte die einen und begeisterte die andern; der Zwist steigerte sich immer mehr, besonders da bald jeder Prediger, wenn auch alle dieselben Ansichten hatten, eine eigne Partei bekam, die sein einziges Auditorium ausmachte. Später wurde man der Sache überdrüssig, und das ewige Schreien: Ich bin krummacherisch, ich bin kohlisch etc. fiel weg, nicht aus Liebe zum Frieden, sondern weil die Parteien sich immer bestimmter schieden.

Krummacher ist unleugbar ein Mann von ausgezeichnetem rhetorischen, auch poetischen Talent; seine Predigten sind nie langweilig, ihr Zusammenhang ist sicher und natürlich; vorzüglich stark ist er in dunkelschattigen Schilderungen - seine Schilderung der Hölle ist stets neu und kühn, wie oft sie auch vorkommt - und in Antithesen. Dagegen hält er sich wieder sehr häufig |422| an der biblischen Phraseologie und an den darin gegebenen Bildern, die, wenn auch ihre Anwendung meistens geistreich ist, zuletzt doch sich wiederholen müssen; dazwischen trifft man denn wieder ein höchst prosaisches Bild aus dem gewöhnlichen Leben oder eine Erzählung aus seinen eignen Schicksalen und seinen unbedeutendsten Erfahrungen. Alles bringt er auf die Kanzel, es mag passen oder nicht; eine Reise nach Württemberg und der Schweiz hat er neulich in zwei Predigten seinen andächtigen Zuhörern zum besten gegeben, darin sprach er von seinen siegreichen vier Disputationen mit Paulus in Heidelberg und Strauß in Tübingen, freilich ganz anders, als Strauß sich in einem Briefe darüber ausdrückt. - Seine Deklamation ist stellenweise sehr gut und seine gewaltsame, handgreifliche Gestikulation oft ganz passend angebracht; zuweilen aber über alle Begriffe manieriert und abgeschmackt. Dann rennt er in allen Richtungen auf der Kanzel umher, beugt sich nach allen Seiten, schlägt auf den Rand, stampft wie ein Schlachtroß und schreit dazu, daß die Fenster klirren und die Leute auf der Straße zusammenfahren. Da beginnen denn die Zuhörer zu schluchzen; zuerst weinen die jungen Mädchen, die alten Weiber fallen mit einem herzzerschneidenden Sopran ein, die entnervten Branntweinpietisten, denen seine Worte durch Mark und Bein gehen würden, wenn sie noch Mark in den Knochen hätten, vollenden die Dissonanz mit ihren Jammertönen, und dazwischen tönt seine gewaltige Stimme durch all das Heulen hin, mit der er der ganzen Versammlung unzählige Verdammungsurteile oder diabolische Szenen vormalt.

Und nun gar seine Lehre! Man begreift nicht, wie ein Mensch dergleichen, was mit der Vernunft und der Bibel im direktesten Widerspruch steht, glauben kann. Demungeachtet hat Krummacher die Doktrin so scharf ausgeprägt und in allen Konsequenzen verfolgt und festgehalten, daß man nichts verwerfen kann, sobald die Grundlage zugegeben ist, nämlich die Unfähigkeit des Menschen, aus eigner Kraft das Gute zu wollen, geschweige zu tun. Daraus folgt die Notwendigkeit einer Befähigung von außen, und da der Mensch das Gute nicht einmal wollen kann, so muß ihm Gott diese Befähigung aufdringen. Aus dem freien Willen Gottes folgt nun die willkürliche Verleihung derselben, die sich auch, wenigstens scheinbar, auf die Schrift stützt. - Auf solcher Konsequenzmacherei beruht die ganze Lehre; die wenigen Erwählten werden nolentes, volentes |ob sie wollen oder nicht| selig, die andern werden also verdammt, auf ewig. »Auf ewig? - Ja, auf ewig!!« (Krummacher). Ferner steht geschrieben: Niemand kommt zum Vater, denn durch mich; die Heiden können aber nicht durch Christum zum Vater kommen, weil sie Christum nicht kennen; also |423| sind sie alle bloß da, um die Hölle zu füllen. - Unter den Christen sind viele berufen und wenige auserwählt; die vielen Berufenen sind aber nur zum Schein berufen, und Gott hütete sich wohl, sie so stark zu berufen, daß sie Folge leisteten, alles zur Ehre Gottes und auf daß sie keine Entschuldigung haben. Dann steht auch geschrieben: Die Weisheit Gottes ist den Klugen dieser Welt eine Torheit; dies ist für die Mystiker ein Befehl, ihren Glauben recht unsinnig auszubilden, damit doch ja dieser Spruch in Erfüllung gehe. Wie das alles mit der Lehre der Apostel stimmt, die vom vernünftigen Gottesdienst und vernünftiger Milch des Evangeliums sprechen, das ist ein Geheimnis, das der Vernunft zu hoch ist.

Solche Lehren verderben alle Krummacherschen Predigten; die einzigen, in denen sie nicht so stark hervortreten, sind die Stellen, wo er von dem Gegensatz der irdischen Üppigkeit und der Niedrigkeit Christi oder des Stolzes der weltlichen Fürsten und Gottes spricht. Da bricht sehr häufig noch ein Strahl von seiner frühern Demagogie durch, und redete er dann nicht so allgemein, so würde die Regierung nicht dazu schweigen.

Der ästhetische Wert seiner Predigten wird nur von sehr wenigen in Elberfeld gewürdigt; denn wenn man seine drei Kollegen, die fast alle ein gleich starkes Auditorium haben, gegen ihn hält, so erscheint er als Eins, die andern als lauter Nullen dahinter, die nur dazu dienen, seinen Wert zu erhöhen. Die älteste dieser Nullen heißt Kohl, dessen Name zugleich seine Predigten bezeichnet; die zweite Hermann, kein Nachkomme dessen, dem sie jetzt ein Denkmal setzen, das die Geschichte und den Tacitus überleben soll, die dritte Ball - nämlich Krummachers Spielball; alle drei höchst orthodox und in den Predigten Nachtreter der schlechten Seiten Krummachers. Lutherische Pfarrer in Elberfeld sind: Sander und Hülsmann, die früher, als ersterer noch in Wichlinghausen stand und in den bekannten Streit mit Hülsmann in Dahle, jetzt in Lennep, dem Bruder von Sanders jetzigem Kollegen, verwickelt war, sich wütend in den Haaren lagen. In ihrer jetzigen Stellung benehmen sich beide würdig gegeneinander, die Pietisten aber suchen die Zwietracht wieder hervorzulocken, indem sie Hülsmann immer allerlei Vergehen gegen Sander vorzuwerfen haben. Der dritte im Bunde ist Döring, dessen Zerstreutheit sehr originell ist; er kann keine drei Sätze im Zusammenhang sprechen, dagegen aus drei Teilen einer Predigt vier machen, indem er einen wörtlich wiederholt, ohne das geringste zu merken. Probatum est |Es hat sich bewährt|. Von seinen Gedichten wird später die Rede sein.

|424| Unter den Barmer Predigern ist nicht viel Unterschied; alle streng orthodox, mit mehr oder weniger pietistischer Beimischung. Nur Stier in Wichlinghausen ist einigermaßen bemerkenswert. Jean Paul soll ihn als Knaben gekannt und ausgezeichnete Anlagen in ihm entdeckt haben. Er war als Pfarrer in Frankleben bei Halle angestellt und gab in dieser Zeit mehrere poetische und prosaische Schriften heraus, eine Verbesserung des Lutherschen Katechismus, ein Surrogat für denselben, und ein Hülfsbüchlein dazu für stupide Lehrer, nicht weniger auch ein Werklein über die Gesangbuchsnot in der Provinz Sachsen, welches von der »Evangelischen Kirchenzeitung« ausnehmend belobt wurde, und wenigstens vernünftigere Ansichten über Kirchenlieder enthielt, als man im gesegneten Wuppertal vernimmt, wenn auch noch mancher unbegründete Machtspruch darin vorkommt. Seine Gedichte sind höchst langweilig, auch hat er sich das Verdienst erworben, einige heidnische Gedichte Schillers für die Orthodoxen genießbar zu machen. Zum Beispiel aus den Göttern Griechenlands:

Da ihr noch die eitle Welt regiertet,
An der Sünde trügerischem Band,
Lange Zeit manch Menschenalter führtet,
Leere Wesen aus dem Fabelland!
Ach, da euer Sünderdienst noch glänzte,
Wie ganz anders, anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
Venus Amathusia!

Wirklich sehr geistreich, ja wahrhaft mystisch! Seit einem halben Jahre ist Stier in Wichlinghausen an Sanders Stelle, hat die Barmer Literatur indes noch nicht bereichert.

Ein Ort bei Elberfeld, Langenberg, gehört seinem ganzen Wesen nach noch zum Wuppertal. Dieselbe Industrie wie dort, derselbe pietistische Geist. Dort steht Emil Krummacher, Bruder des Friedrich Wilhelm; er ist nicht so schroffer Prädestinatianer wie dieser, ahmt ihm aber sehr nach, wie diese Stelle seiner letzten Weihnachtspredigt zeigt:

»Mit den irdischen Leibern sitzen wir hier zwar noch auf den hölzernen Bänken, aber unsre Geister schwingen sich mit Millionen Gläubigen auf den heiligen Berg, und nachdem sie dort das Jauchzen der himmlischen Heerscharen vernommen, gehen sie hinab in das arme Bethlehem. Und was erblicken sie da? Zuerst einen armen Stall, und in dem armen, armen Stall eine arme Krippe, und in der armen Krippe armes, armes Heu und Stroh, und auf dem armen, armen Heu und Stroh liegt, wie das arme Kind eines Bettlers in armen Windeln der reiche Herr der Welt.«

|425| Nun wäre wohl das Missionshaus noch zu besprechen, aber die in diesen Blättern schon früher erwähnten »Harfenklänge« eines Exmissionärs geben genügend Zeugnis davon, was für ein Geist dort herrscht. Der Inspektor desselben, Dr. Richter, ist übrigens ein gelehrter Mann, bedeutender Orientalist und Naturforscher, gibt auch eine »erklärte Hausbibel« heraus.

Das ist das Treiben der Pietisten im Wuppertal; man begreift nicht, daß zu unsrer Zeit dergleichen noch aufkommen kann; aber es scheint doch, als könne auch dieser Fels des alten Obskurantismus dem rauschenden Strom der Zeit nicht mehr widerstehen; der Sand wird weggespült, der Fels stürzt und tut einen großen Fall.

II

[»Telegraph für Deutschland«, April 1839]

In einer Gegend, die so von Pietisterei erfüllt ist, versteht es sich von selbst, daß diese, nach allen Seiten sich ausdehnend, jede einzelne Richtung des Lebens durchdringt und verdirbt. Ihre Hauptgewalt übt sie aus auf das Unterrichtswesen, vor allem auf die Volksschulen. Der eine Teil von diesen liegt ganz in ihren Händen; es sind dies die kirchlichen Schulen, deren jede Gemeinde eine hat. Freier schon, doch auch noch immer unter Aufsicht des kirchlichen Scholarchats, stehen die übrigen Volksschulen da, auf die die Zivilverwaltung einen bedeutenderen Einfluß hat. Und da liegen die hindernden Einwirkungen des Mystizismus auf der Hand; denn während die kirchlichen Schulen noch immer, wie weiland unter dem hochseligen Kurfürsten Karl Theodor, außer Lesen, Schreiben und Rechnen nur den Katechismus ihren Schülern einprägen, werden auf den andern doch die Anfangsgründe einiger Wissenschaften, auch etwas Französisch gelehrt, und viele der Schüler, dadurch angeregt, suchen sich, auch wenn sie die Schule schon verlassen, weiter fortzubilden. Diese Schulen sind in einem starken Fortschreiten begriffen und haben seit dem Eintritte des preußischen Gouvernements die kirchlichen, hinter denen sie damals sehr zurückstanden, weit überholt. Die kirchlichen Schulen werden aber viel stärker besucht, da sie weit weniger Kosten machen und viele Eltern ihre Kinder teils aus Anhänglichkeit, teils weil sie in dem Fortschreiten der Kinder ein Überhandnehmen des weltlichen Sinnes sehen, immer noch dahin schicken.

Von höheren Lehranstalten ernährt das Wuppertal drei: die Stadtschule in Barmen, die Realschule in Elberfeld und das Gymnasium daselbst.

Die Barmer Stadtschule, sehr schwach dotiert und deshalb sehr schlecht mit Lehrern besetzt, tut indes alles, was in ihren Kräften steht. Sie liegt ganz |426| in den Händen eines beschränkten, knickerigen Kuratoriums, das meist auch nur Pietisten zu Lehrern wählt. Der Direktor, der dieser Richtung auch nicht fremd ist, versieht sein Amt indes nach festen Prinzipien und weiß sehr geschickt jedem Lehrer seine Stelle anzuweisen. Auf ihn folgt Herr Johann Jakob Ewich, der nach einem guten Lehrbuche gut unterrichten kann und im Geschichtsunterricht eifriger Anhänger des Nösseltschen Anekdotensystems ist. Er ist Verfasser vieler pädagogischer Schriften, deren größte, d.h. dem Umfange nach, den Titel führt: »Human«, Wesel bei Bagel, zwei Bände, 40 Bogen, Preis 1 Reichstaler. Alle sind voll hoher Ideen, frommer Wünsche und unausführbarer Vorschläge. Man sagt, seine pädagogische Praxis solle hinter der schönen Theorie weit zurückstehn.

Dr. Philipp Schifflin, zweiter Oberlehrer, ist der tüchtigste Lehrer der Schule. Vielleicht ist keiner in Deutschland so tief in die grammatische Struktur des modernen Französischen eingedrungen wie er. Er ging nicht vom Altromanischen aus, sondern faßte die klassische Sprache des vorigen Jahrhunderts, besonders Voltaires, auf und ging von dieser zum Stil der neuesten Autoren über. Die Resultate seiner Forschungen liegen in seiner »Anleitung zur Erlernung der französischen Sprache, in drei Cursen«, vor, von denen der erste und zweite schon in mehreren Auflagen erschienen und der dritte jetzt zu Ostern herauskömmt. Dies ist ohne Zweifel neben der Knebelschen die beste französische Sprachlehre, die wir besitzen; sie fand gleich beim Auftreten des ersten Kursus ungemessenen Beifall und erfreut sich schon jetzt einer fast beispiellosen Verbreitung durch ganz Deutschland, bis nach Ungarn und den russischen Ostseeprovinzen hin.

Die übrigen Lehrer sind junge Seminaristen, von denen sich einige tüchtig herangebildet haben, andre aber mit einem Chaos von allerlei Wissenschaften schwanger gehen. Der beste von diesen jungen Lehrern war Herr Köster, Freiligraths Freund, von dem ein Abriß der Poetik in einem Programme steht, worin er die didaktische Poesie ganz ausschloß und die ihr gewöhnlich zugeteilten Gattungen der Epik oder Lyrik unterordnete; der Aufsatz zeugte von Einsicht und Klarheit. Er wurde nach Düsseldorf berufen, und da die Herren vom Kuratorium ihn als Gegner aller Pietisterei kannten, ließen sie ihn sehr gerne ziehen. Den Gegensatz zu ihm bildet ein anderer Lehrer, der auf die Frage eines Quartaners, wer Goethe gewesen sei, antwortete: »ein gottloser Mann«.

Die Elberfelder Realschule ist sehr gut fundiert und kann deshalb tüchtigere Lehrer wählen und einen vollständigeren Kursus einrichten. Dagegen herrscht auf ihr jene fürchterliche Heftschreiberei, die einen Schüler in einem halben Jahre stumpf machen kann. Nebenbei ist von Direktion wenig zu |427| spüren; der Direktor ist die Hälfte des Jahres verreist und betätigt seine Anwesenheit nur durch übertriebene Strenge. Mit der Realschule ist eine Gewerbschule verbunden, auf der die Schüler ihr halbes Leben verzeichnen. Von den Lehrern ist Herr Dr. Kruse bemerkenswert, der sechs Wochen in England war und ein Werklein über die englische Aussprache schrieb, welches sich durch seine ausgezeichnete Unbrauchbarkeit bemerklich macht; die Schüler stehen in einem sehr schlechten Rufe und sind die Veranlassung zu Diesterwegs Klagen über die Jugend Elberfelds.

Das Gymnasium in Elberfeld ist in sehr bedrängten Verhältnissen, aber anerkannt eins der besten im preußischen Staat. Es ist Eigentum der reformierten Gemeinde, hat von ihrem Mystizismus wenig zu leiden, weil die Prediger sich nicht darum bekümmern und die Scholarchen nichts von Gymnasialsachen verstehen; desto mehr aber von ihrer Knauserei. Diese Herren haben nicht die geringste Idee von der Vorzüglichkeit der preußischen Gymnasialbildung, suchen der Realschule alles, Geld wie Schüler, zuzuwenden und werfen doch dem Gymnasium vor, daß es durch Schulgeld seine Auslagen nicht einmal decken könne. Es wird jetzt unterhandelt, daß die Regierung, der es sehr darum zu tun ist, das Gymnasium übernimmt; käme es nicht dazu, so mußte es in wenigen Jahren aus Mangel an Mitteln suspendiert werden. Die Lehrerwahlen liegen jetzt auch in den Händen der Scholarchen, Leute, die zwar einen Posten sehr korrekt ins Hauptbuch übertragen können, aber von Griechisch, Latein oder Mathematik keine Idee haben. Das Hauptprinzip ihrer Wahl ist: lieber einen reformierten Stümper als einen tüchtigen Lutheraner oder gar Katholiken zu wählen. Da aber unter den preußischen Philologen weit mehr Lutheraner als Reformierte sind, haben sie diesem Prinzipe fast nie recht folgen können.

Dr. Hantschke, königlicher Professor und provisorischer Direktor, ist aus Luckau in der Lausitz, schreibt ein ciceronianisches Latein in Versen und Prosa, ist auch Verfasser mehrerer Predigten, pädagogischer Schriften und eines hebräischen Übungsbuches. Er wäre längst fester Direktor geworden, wenn er nicht lutherisch und das Scholarchat weniger geizig wäre.

Dr. Eichhoff, zweiter Oberlehrer, schrieb mit seinem jüngeren Kollegen, Dr. Beltz, eine lateinische Grammatik, die aber in der »Allgemeinen Litteratur-Zeitung« von F. Haase nicht sehr günstig rezensiert wurde. Seine Hauptforce ist das Griechische.

Dr. Clausen, dritter Oberlehrer, ohne Zweifel der tüchtigste Mann in der ganzen Schule, in allen Fächern bewandert, in der Geschichte und Literatur ausgezeichnet. Sein Vortrag ist von seltener Anmut; er ist der einzige, der den Sinn der Poesie in den Schülern zu wecken weiß, den Sinn, der sonst |428| elendiglich verkümmern müßte unter den Philistern des Wuppertales. Als Schriftsteller ist er meines Wissens nur in einer Programm-Dissertation: »Pindaros der Lyriker« aufgetreten, die ihm einen großen Ruf unter den Gymnasiallehrern in und außerhalb Preußen gemacht haben soll. In den Buchhandel ist sie natürlich nicht gekommen.

Diese drei Schulen sind erst seit 1820 eingerichtet worden; früher bestand nur in Elberfeld und Barmen je eine Rektoratschule und eine Menge von Privatinstituten, die keine gediegene Bildung geben konnten. Ihre Nachwirkungen sind noch an den älteren Kaufleuten Barmens zu spüren. Von Bildung - keine Idee; wer Whist und Billard spielen, etwas politisieren, ein gewandtes Kompliment machen kann, das ist in Barmen und Elberfeld ein gebildeter Mann. Es ist ein schreckliches Leben, was diese Menschen führen, und sie sind doch so vergnügt dabei; den Tag über versenken sie sich in die Zahlen ihrer Konti, und das mit einer Wut, mit einem Interesse, daß man es kaum glauben möchte; abends zur bestimmten Stunde zieht alles in die Gesellschaften, wo sie Karten spielen, politisieren und rauchen, um mit dem Schlage neun nach Hause zurückzukehren. So geht es alle Tage, ohne Veränderung, und wehe dem, der ihnen dazwischenkömmt; er kann der ungnädigsten Ungnade aller ersten Häuser gewiß sein. - Die jungen Leute werden brav von ihren Vätern in die Schule genommen; sie lassen sich auch sehr gut an, ebenso zu werden. Ihre Unterhaltungsgegenstände sind ziemlich einförmig; die Barmer sprechen mehr von Pferden, die Elberfelder von Hunden; wenn's hoch kömmt, werden auch Schönheiten rezensiert oder es wird von Geschäftssachen geplappert, das ist alles. Alle halbe Jahrhundert sprechen sie auch von Literatur, unter welchem Namen sie Paul de Kock, Marryat, Tromlitz, Nestroy und Konsorten verstehen. In der Politik sind sie als sehr gute Preußen, weil sie unter preußischer Herrschaft stehen, a priori allem Liberalismus gar sehr zuwider, alles, solange es Sr. Majestät gefällt, ihnen den Code Napoleon zu lassen; denn mit ihm würde aller Patriotismus schwinden. Das junge Deutschland kennt niemand in seiner literarischen Bedeutung; es gilt für eine geheime Verbindung, etwa wie die Demagogie, unter dem Vorsitze der Herren Heine, Gutzkow und Mundt. Einige der edlen Jünglinge haben wohl etwas von Heine gelesen, vielleicht die »Reisebilder« mit Übergehung der Gedichte darin, oder den »Denunzianten«, aber von den übrigen herrschen nur dunkle Begriffe aus dem Munde der Pfarrer oder Beamten. Freiligrath ist den meisten persönlich bekannt und steht im Rufe eines guten Kameraden. Als er nach Barmen kam, wurde er von diesem grünen Adel (so |429| nennt er das junge Kaufmannsvolk) mit Besuchen überhäuft; bald aber hatte er ihren Geist erkannt und zog sich zurück; aber sie verfolgten ihn, lobten seine Gedichte und seinen Wein und strebten mit aller Gewalt darnach, mit einem Brüderschaft zu trinken, der etwas hatte drucken lassen; denn diesen Menschen ist ein Dichter nichts, aber ein Schriftsteller alles. Nach und nach brach Freiligrath allen Umgang mit diesen Menschen ab und verkehrt jetzt nur mit wenigen, nachdem Köster Barmen verlassen hat. Seine Prinzipale haben sich in ihrer prekären Stellung immer sehr anständig und freundlich gegen ihn benommen; merkwürdigerweise ist er ein höchst exakter und fleißiger Kontorarbeiter. Über seine dichterischen Leistungen zu sprechen, wäre sehr überflüssig, nachdem Dingelstedt, in dem »Jahrbuche der Literatur«, und Carrière in den Berliner »Jahrbüchern« ihn so genau beurteilt haben. Indes scheinen mir beide nicht genug beachtet zu haben, wie er bei allem Schweifen in die Ferne doch so sehr an der Heimat hängt. Darauf deuten die häufigen Anspielungen auf deutsche Volksmärchen, z.B. S.54, die Unkenkönigin, S.87, Snewittchen u.a., denen S.157 ein ganzes Gedicht (»Im Walde«) gewidmet ist, hin, die Nachahmung Uhlands (der Edelfalk, S.82, »Die Schreinergesellen«, S.85, auch das erste der »Zwei Feldherrngräber« erinnert doch nur zu seinem Vorteile an ihn), dann »Die Auswanderer« und vor allem sein unübertrefflicher »Prinz Eugen«. Auf diese wenigen Momente muß man desto mehr achten, je mehr Freiligrath in die entgegengesetzte Richtung sich verliert. Einen tiefen Blick in sein Gemüt eröffnet auch »Der ausgewanderte Dichter«, besonders die Fragmente, die im »Morgenblatt« abgedruckt sind; darin fühlt er schon, wie er in der Ferne nicht heimisch werden kann, wenn er nicht in echt deutscher Dichtkunst wurzelt.

In der eigentlichen Wuppertaler Literatur nimmt die Journalistik die wichtigste Stelle ein. Obenan steht die »Elberfelder Zeitung«, redigiert von Dr. Martin Runkel, die sich unter seiner einsichtsvollen Leitung einen bedeutenden und wohlverdienten Ruf erworben hat. Er übernahm die Redaktion, als zwei Zeitungen, die »Allgemeine« und »Provinzialzeitung«, zu einer verschmolzen wurden; unter nicht sehr günstigen Auspizien entstand das Blatt; die »Barmer Zeitung« trat konkurrierend auf, aber Runkel hat es nach und nach durch Streben nach eigner Korrespondenz und durch seine leitenden Artikel zu einer der ersten Zeitungen des preußischen Staates gemacht. Sie fand zwar in Elberfeld, wo die leitenden Artikel nur von wenigen gelesen werden, wenig, auswärts aber desto mehr Anerkennung, wozu der Verfall der »Preußischen Staats-Zeitung« auch das Seinige beigetragen haben mag. Die belletristische Beilage, »lntelligenzblatt«, erhebt sich nicht über das Gewöhnliche |430|*. Die »Barmer Zeitung«, deren Verleger, Redaktoren und Zensoren häufig wechselten, steht jetzt unter der Leitung von H. Püttmann, der zuweilen in der »Abendzeitung« rezensierend auftritt. Er möchte die Zeitung wohl gerne heben, aber durch des Verlegers wohlbegründete Kargheit sind ihm die Hände gebunden. Das Feuilleton mit einigen seiner Gedichte, Rezensionen oder Auszügen aus größeren Schriften angefüllt, tut's auch nicht. Der sie begleitende »Wuppertaler Lesekreis« nährt sich fast nur von Lewalds »Europa«. Außer diesen erscheint noch der Elberfelder »Tägliche Anzeiger« nebst »Fremdenblatt«, ein Kind der »Dorfzeitung«, unübertrefflich in herzbrechenden Gedichten und schlechten Witzen, und das »Barmer Wochenblatt«, eine alte Nachtmütze, dem die pietistischen Eselsohren alle Augenblick unter der belletristischen Löwenhaut hervorschauen.

Von der übrigen Literatur ist die Prosa gar nichts wert; nehme ich die theologischen oder vielmehr pietistischen Schriften, einige Werklein über Barmens und Elberfelds Geschichte, die sehr oberflächlich abgefaßt sind, weg, so bleibt nichts übrig. Aber die Poesie findet reichliche Pflege in dem »gesegneten Tale«, und eine ziemliche Anzahl Poeten haben dort ihren Wohnsitz aufgeschlagen.

Wilhelm Langewiesche, Buchhändler zu Barmen und Iserlohn, schreibt unter dem Namen W. Jemand, sein Hauptwerk ist eine didaktische Tragödie, »Der ewige Jude«, die freilich nicht an Mosens Bearbeitung desselben Gegenstandes reicht. Er ist als Verleger der bedeutendste seiner Wuppertaler Konkurrenten, was übrigens sehr leicht ist, da ihrer zwei, Hassel in Elberfeld, Steinhaus in Barmen, nur echten Pietismus verlegen. Freiligrath wohnt in seinem Hause.

Karl August Döring, Prediger in Elberfeld, ist Verfasser einer Menge von prosaischen und poetischen Schriften; von ihm gilt Platens Wort: Sie sind ein wasserreicher Strom, den niemand bis zu Ende schwimmt.

In seinen Gedichten unterscheidet er zwischen geistlichen Liedern, Oden und lyrischen Gedichten. Zuweilen hat er schon auf der Mitte des Gedichts den Anfang vergessen und gerät dann in ganz eigentümliche Regionen; von den Südseeinseln und ihren Missionären gerät er in die Hölle und von den Seufzern der zerknirschten Seele nach dem Eise des Nordpols.

Lieth, Vorsteher einer Mädchenschule in Elberfeld, Verfasser von Kindergedichten, die meistens in einer schon veralteten Manier geschrieben sind und keinen Vergleich mit denen Rückerts, Gülls und Heys aushalten können; doch finden sich auch einzelne hübsche Sachen darunter.

Friedrich Ludwig Wülfing, unstreitig der größte Dichter des Wuppertals, ein Barmer von Geburt, ist ein Mann, in dem die Genialität gar nicht |431| zu verkennen ist. Sieht man einen langen Menschen, von etwa fünfundvierzig Jahren, in einen langen rotbraunen Rock verhüllt, der halb so alt ist wie sein Herr, auf den Schultern ein unbeschreibliches Antlitz, auf der Nase eine vergoldete Brille, in deren Gläsern sich die strahlenden Blicke der Augen brechen, das Haupt gekrönt mit einer grünen Mütze, im Munde eine Blume, in der Hand einen eben vom Rock gedrehten Knopf - das ist der Horaz Barmens. Tag für Tag ergeht er sich auf dem Hardtberge und wartet, ob ihm nicht ein neuer Reim oder eine neue Geliebte aufstoße. Bis in sein dreißigstes Jahr huldigte er Pallas Athenen als industriöser Mann; dann geriet er Aphroditen in die Hände, die ihm neun Dulcineen nacheinander zuführte; diese sind seine Musen. Man spreche nicht von Goethe, der allem eine poetische Seite abgewann, nicht von Petrarca, der jeden Blick, jedes Wort der Geliebten in ein Sonett brachte - an Wülfing reichen sie lange nicht. Wer zählt die Sandkörner, die der Geliebten Fuß zerknittert? Das tut der große Wülfing. Wer besingt Minchens (die Clio der neun Musen) in einer sumpfigen Wiese beschmutzte Strümpfe? Nur Wülfing. - Seine Epigramme sind Meisterwerke der originellsten, volkstümlichsten Grobheit. Als seine erste Frau starb, schrieb er eine Todesanzeige, die alle Dienstmädchen zu Tränen rührte, und eine noch weit schönere Elegie: »Wilhelmine, schönster aller Namen!« Sechs Wochen später verlobte er sich schon wieder, und jetzt hat er die dritte Frau. Der geistreiche Mann hat alle Tage andere Pläne. Als er noch so recht in seiner poetischen Blütezeit stand, wollte er bald Knopfmacher, bald Landmann, bald Papierhändler werden; zuletzt ist er in den Hafen der Lichtzieherei geraten, um sein Licht auf irgendeine Weise leuchten zu lassen. Seine Schriften sind wie der Sand am Meer.

Montanus Eremita, ein Solinger Anonymus, gehört als nachbarlicher Freund auch hieher. Er ist der poetischste Historiograph des Bergischen Landes; seine Verse sind weniger unsinnig als langweilig und prosaisch.

Ebenso Johann Pol, Pastor zu Heedfeld bei Iserlohn, der ein Bändlein Gedichte schrieb.

Könige kommen von Gott und Missionäre desgleichen,
Aber der Goethe-Poet kommt von den Menschen allein.

Dies zeigt den Geist des ganzen Bandes. Aber er hat auch Witz, denn er sagt: »Die Dichter sind Lichter, die Philosophen sind der Wahrheit Zofen.« Und welche Phantasie liegt in den beiden Anfangszeilen seiner Ballade: »Attila an der Marne« :

Gleich Lawinen ungeheuer, schneidend hart wie Schwert und Kiesel,
Wälzt durch Schutt und Städteflammen sich nach Gallien Godegisel.

|432| Auch hat er Psalme gedichtet, oder vielmehr aus Davidschen Fragmenten komponiert Sein Hauptwerk ist die Besingung des Streits zwischen Hülsmann und Sander, und zwar auf eine höchst originelle Weise, in Epigrammen. Da dreht sich alles um den Gedanken, die Rationalisten wagten -

Zu schmähen und zu lästern den Herrn Herrn.

Weder Voß noch Schlegel haben jemals einen so vollkommenen Spondeus am Schluß eines Hexameters gehabt. Er versteht die Einteilung seiner Gedichte noch besser als Döring, er teilt sie in: »Geistliche Gesänge und Lieder und vermischte Gedichte.«

F. W. Krug, Kandidat der Theologie, Verfasser von poetischen Erstlingen oder prosaischen Reliquien, Übersetzer mehrerer holländischer und französischer Predigten, schrieb auch eine rührende Novelle im Geschmack Stillings, worin er unter andern einen neuen Beweis für die Wahrheit der mosaischen Schöpfungsgeschichte aufstellt. Das Buch ist ergötzlich.

Zum Schlusse muß ich noch eines geistvollen jungen Mannes erwähnen, der die Idee hat, da Freiligrath Handlungsdiener und Dichter zugleich sei, müßte er es auch können. Hoffentlich wird die deutsche Literatur bald durch einige seiner Novellen vermehrt werden, die von den besten nicht übertroffen werden; die einzigen Fehler, die man ihnen vorwerfen kann, sind Abgedroschenheit der Handlung, übereilte Anlage und nachlässiger Stil. Sehr gern würde ich eine im Auszüge mitteilen, wenn es die Dezenz nicht verböte; doch wird sich vielleicht bald ein Buchhändler des großen D. |Gemeint ist Dürholt, ein Kontorist aus Barmen| (seinen ganzen Namen wage ich nicht zu nennen, weil ihn sonst seine verletzte Bescheidenheit zu einem Injurienprozeß gegen mich verleiten würde) erbarmen und seine Novellen verlegen. Auch will er ein sehr genauer Freund Freiligraths sein.

Dies sind so ziemlich die literarischen Erscheinungen des weltberühmten Tals, wozu vielleicht noch einige weinentflammte Kraftgenies zu zählen wären, die sich dann und wann reimend versuchen und die ich Herrn Dr. Duller zur Porträtierung für einen neuen Roman sehr empfehlen kann. Die ganze Gegend liegt von einem Meer von Pietismus und Philisterei überschwemmt, und was daraus hervorragt, sind keine schönen blumenreichen Eilande, nur dürre nackte Klippen oder lange Sandbänke, und Freiligrath irrt dazwischen umher wie ein verschlagener Schiffer.


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