MLWerke | | | 1844 | | | Marx/Engels |
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 392-409.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999
[»Vorwärts!« Nr. 63 vom 7. August 1844]
|392| |Spezielle Gründe veranlassen mich zu der Erklärung, daß der vorstehende Artikel der erste ist, den ich dem »Vorwärts« habe zukommen lassen. Anm. K. M.|
Die Nummer 60 des »Vorwärts« enthält einen Artikel, überschrieben: »Der König von Preußen und die Sozialreform«, unterzeichnet: »Ein Preuße«.
Zunächst referiert der angebliche Preuße den Inhalt der königlichen preußischen Cabinetsordre über den schlesischen Arbeiteraufstand und die Meinung des französischen Journals »La Réforme« über die preußische Cabinetsordre. Die »Réforme« halte den »Schrecken und das religiöse Gefühl« des Königs für die Quelle der Cabinetsordre. Sie finde in diesem Dokument sogar das Vorgefühl der großen Reformen, welche der bürgerlichen Gesellschaft bevorstehn. Der »Preuße« belehrt die »Réforme« wie folgt.
»Der König und die deutsche Gesellschaft ist noch nicht bei dem Vorgefühl ihrer Reform angelangt, |Man bemerke den stilistischen und grammatikalischen Unsinn. »Der König von Preußen und die Gesellschaft ist noch nicht bei dem Vorgefühl ihrer »(auf wen bezieht sich das »ihrer« »Reform angelangt.« Anm. K. M.)| selbst die schlesischen und böhmischen Aufstände haben dies Gefühl nicht erzeugt. Es ist unmöglich, die partielle Not der Fabrikdistrikte einem unpolitischen Lande, wie Deutschland, als eine allgemeine Angelegenheit, geschweige denn als einen Schaden der ganzen zivilisierten Welt zur Anschauung zu bringen. Das Ereignis hat für die Deutschen denselben Charakter, wie irgendeine lokale Wassers- oder Hungersnot. Deshalb nimmt es der König als einen Verwaltungs- oder Mildtätigkeitsmangel. Aus diesem Grunde und weil wenig Militär mit den schwachen Webern fertig wurde, flößt das Demolieren der Fabriken und Maschinen auch dem Könige und den Behörden keinen Schrecken ein. Ja, sogar das religiöse Gefühl hat die Cabinetsordre nicht diktiert: Sie ist ein sehr nüchterner Ausdruck der christlichen Staatskunst |393| und einer Doktrin, die vor ihrer einzigen Medizin, der guten Gesinnung christlicher Herzen keine Schwierigkeiten bestehn läßt. Armut und Verbrechen sind zwei große Übel; wer kann sie heilen? Der Staat und die Behörden? Nein, aber die Vereinigung aller christlichen Herzen.«
Der angebliche Preuße leugnet den »Schrecken« des Königs unter anderen aus dem Grunde, weil wenig Militär mit den schwachen Webern fertig wurde.
In einem Lande also, wo Festessen mit liberalen Toasten und liberalem Champagnerschaum - man erinnere sich des Düsseldorfer Festes - eine königliche Cabinetsordre provozieren, wo es keines einzigen Soldaten bedurfte, um die Gelüste der ganzen liberalen Bourgeoisie nach Preßfreiheit und Konstitution niederzuschlagen; in einem Lande, wo der passive Gehorsam à l'ordre du jour |an der Tagesordnung| ist; in einem solchen Lande wäre die erzwungene Anwendung der bewaffneten Macht gegen schwache Weber kein Ereignis und kein erschreckendes Ereignis? Und die schwachen Weber siegten bei dem ersten Zusammentreffen. Sie wurden unterdrückt durch eine nachträglich verstärkte Truppenzahl. Ist der Aufstand eines Arbeiterhaufens minder gefährlich, weil es keiner Armee bedarf; um ihn zu ersticken? Der kluge Preuße vergleiche den schlesischen Weberaufstand mit den englischen Arbeiteraufständen, und die schlesischen Weber werden ihm als starke Weber erscheinen.
Aus dem allgemeinen Verhältnis der Politik zu sozialen Gebrechen werden wir erklären, warum der Weberaufstand dem Könige keinen sonderlichen »Schrecken« einflößen konnte. Vorläufig nur soviel: Der Aufstand war nicht unmittelbar gegen den König von Preußen, er war gegen die Bourgeoisie gerichtet. Als Aristokrat und absoluter Monarch kann der König von Preußen die Bourgeoisie nicht lieben; er kann noch weniger darüber erschrecken, wenn ihre Unterwürfigkeit und ihre Ohnmacht durch ein gespanntes und schwieriges Verhältnis zum Proletariat gesteigert wird. Ferner: Der orthodoxe Katholik steht dem orthodoxen Protestanten feindlicher gegenüber als dem Atheisten, wie der Legitimist dem Liberalen feindlicher gegenübersteht als dem Kommunisten. Nicht weil Atheist und Kommunist dem Katholiken und Legitimisten verwandter, sondern weil sie ihm entfremdeter sind als der Protestant und der Liberale, weil sie außerhalb seines Kreises stehn. Der König von Preußen, als Politiker, hat seinen unmittelbaren Gegensatz in der Politik, in dem Liberalismus. Für den König existiert der Gegensatz des Proletariats ebensowenig, wie der König für das Proletariat existiert. Das |394| Proletariat müßte schon eine entschiedene Macht erlangt haben, um die Antipathien, die politischen Gegensätze zu ersticken und um die ganze Feindschaft der Politik gegen sich zu lenken. Endlich: Dem bekannten, nach Interessantem und Bedeutendem lüsternen Charakter des Königs mußte es sogar eine freudig aufregende Überraschung gewähren, jenen »interessanten« und »viel berufenen« Pauperismus auf eignem Grund und Boden und damit eine Gelegenheit zu finden, aufs neue von sich reden zu machen. Wie wohlig mag ihm gewesen sein bei der Nachricht, nunmehr einen »eignen« königlich preußischen Pauperismus zu besitzen!
Unser »Preuße« ist noch unglücklicher, wenn er das »religiöse Gefühl« als Quelle der königlichen Cabinetsordre leugnet.
Warum ist das religiöse Gefühl nicht die Quelle dieser Cabinetsordre? Weil sie ein »sehr nüchterner Ausdruck der christlichen Staatskunst« ist, ein »nüchterner« Ausdruck der Doktrin, die »vor ihrer einzigen Medizin, der guten Gesinnung christlicher Herzen, keine Schwierigkeiten bestehen läßt«.
Ist das religiöse Gefühl nicht die Quelle der christlichen Staatskunst? Basiert eine Doktrin, welche in der guten Gesinnung christlicher Herzen ihr Universalmittel besitzt, nicht auf dem religiösen Gefühl? Hört ein nüchterner Ausdruck des religiösen Gefühls auf, ein Ausdruck des religiösen Gefühls zu sein? Noch mehr! Ich behaupte, daß es ein sehr von sich eingenommenes, ein sehr trunkenes religiöses Gefühl ist, welches die »Heilung großer Übel«, die es dem »Staat und der Behörde« abspricht, in der »Vereinigung christlicher Herzen« sucht. Es ist ein sehr trunkenes religiöses Gefühl, welches - nach dem Zugeständnis des »Preußen« - das ganze Übel in dem Mangel an christlichem Sinn findet, und daher die Behörden auf das einzige Mittel, diesen Sinn zu stärken, auf die »Ermahnung verweist. Die christliche Gesinnung ist nach dem »Preußen« der Zweck der Cabinetsordre. Das religiöse Gefühl, versteht sich, wenn es betrunken, wenn es nicht nüchtern ist, hält sich für das einzige Gut. Wo es Übel sieht, schreibt es sie seiner Abwesenheit zu, denn wenn es das einzige Gut ist, so kann es auch einzig das Gute erzeugen. Die durch das religiöse Gefühl diktierte Cabinetsordre diktiert also konsequenterweise das religiöse Gefühl. Ein Politiker von nüchternem religiösen Gefühl würde in seiner »Ratlosigkeit« nicht an der »Ermahnung des frommen Predigers zur christlichen Gesinnung« seine »Hülfe« suchen.
Wie beweist also der angebliche Preuße der »Réforme«, daß die Cabinetsordre kein Ausfluß des religiösen Gefühls ist? Dadurch, daß er überall die Cabinetsordre als einen Ausfluß des religiösen Gefühls schildert. Ist von einem so unlogischen Kopfe eine Einsicht in soziale Bewegungen zu erwarten |395|*? Hören wir, was er über das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu der Arbeiterbewegung und zur sozialen Reform überhaupt plaudert.
Unterscheiden wir, was der »Preuße« vernachlässigt, unterscheiden wir die verschiedenen Kategorien, die unter dem Ausdrucke »deutsche Gesellschaft« zusammengefaßt worden: Regierung, Bourgeoisie, Presse, endlich die Arbeiter selbst. Das sind die verschiedenen Massen, um die es sich hier handelt. Der »Preuße« faßt diese Massen zusammen und verurteilt sie von seinem erhabenen Standpunkt aus in Masse. Die deutsche Gesellschaft ist nach ihm »noch nicht einmal bei dem Vorgefühl ihrer Reform angelangt«.
Warum fehlt ihr dieser Instinkt?
»In einem unpolitischen Lande wie Deutschland«, antwortet der Preuße, »ist es unmöglich, die partielle Not der Fabrikdistrikte als eine allgemeine Angelegenheit, geschweige denn als einen Schaden der ganzen zivilisierten Welt zur Anschauung zu bringen. Das Ereignis hat für die Deutschen denselben Charakter wie irgendeine lokale Wassers- oder Hungersnot. Der König nimmt »es daher als einen Verwaltungs- und Mildtätigkeitsmangel.«
Der »Preuße« erklärt also diese verkehrte Auffassung der Arbeiternot aus der Eigentümlichkeit eines unpolitischen Landes.
Man wird zugeben: England ist ein politisches Land. Man wird ferner zugeben: England ist das Land des Pauperismus, sogar dies Wort ist englischen Ursprungs. Die Betrachtung Englands ist also das sicherste Experiment, um das Verhältnis eines politischen Landes zum Pauperismus kennenzulernen. In England ist die Arbeiternot nicht partiell, sondern universell; nicht auf die Fabrikdistrikte beschränkt, sondern auf die Landdistrikte ausgedehnt. Die Bewegungen sind hier nicht im Entstehen, sie kehren seit beinahe einem Jahrhundert periodisch wieder.
Wie begreift nun die englische Bourgeoisie und die mit ihr zusammenhängende Regierung und Presse den Pauperismus?
Soweit die englische Bourgeoisie den Pauperismus als Schuld der Politik eingesteht, betrachtet der Whig den Tory und der Tory den Whig als die Ursache des Pauperismus. Nach dem Whig ist das Monopol des großen Grundeigentums und die Prohibitivgesetzgebung gegen die Einführung des Getreides die Hauptquelle des Pauperismus. Nach dem Tory liegt das ganze Übel in dem Liberalismus, in der Konkurrenz, in dem zu weit getriebenen Fabriksystem. Keine der Parteien findet den Grund in der Politik überhaupt, sondern jede vielmehr nur in der Politik ihrer Gegenpartei; von einer Reform der Gesellschaft lassen sich beide Parteien nicht träumen.
Der entschiedenste Ausdruck der englischen Einsicht in den Pauperismus - wir sprechen immer von der Einsicht der englischen Bourgeoisie und |396| Regierung - ist die englische Nationalökonomie, d.h. die wissenschaftliche Widerspiegelung der englischen nationalökonomischen Zustände.
Einer der besten und berühmtesten englischen Nationalökonomen, der die gegenwärtigen Verhältnisse kennt und eine Gesamtanschauung von der Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft besitzen muß, ein Schüler des zynischen Ricardo, MacCulloch, wagt noch in einer öffentlichen Vorlesung und wagt es unter Beifallsbezeugungen, auf die Nationalökonomie anzuwenden, was Baco von der Philosophie sagt:
»Der Mensch, welcher mit wahrer und unermüdlicher Weisheit sein Urteil suspendiert, stufenweise vorwärtsschreitet, eines der Hindernisse, welche wie Berge den Gang des Studiums aufhalten, nach dem andern überwindet, wird mit der Zeit den Gipfel der Wissenschaft erreichen, wo man der Ruhe und einer reinen Luft genießt, wo die Natur sich dem Auge in ihrer ganzen Schönheit darbietet, und von wo man, vermittelst eines bequem gesenkten Pfades, zu den letzten Details der Praxis herabsteigen kann.«
Gute reine Luft die Pestatmosphäre der englischen Kellerwohnungen! Große Naturschönheit die phantastische Lumpenkleidung der englischen Armen und das welke, zusammengeschrumpfte Fleisch der Weiber, die von Arbeit und Elend verzehrt sind; die Kinder, die auf dem Mist liegen; die Mißgeburten, welche die Überarbeitung in der einförmigen Mechanik der Fabriken erzeugt! Allerliebste letzte Details der Praxis: die Prostitution, der Mord und der Galgen!
Selbst der Teil der englischen Bourgeoisie, der von der Gefahr des Pauperismus durchdrungen ist, faßt diese Gefahr, wie die Mittel zur Abhülfe, in einer nicht nur partikulären, sondern, um es ohne Umschweife zu sagen, kindischen und albernen Weise auf.
So reduziert z.B. der Dr. Kay in seiner Broschüre »Recent measures for the promotion of education in England« alles auf die vernachlässigte Erziehung. Man errate, aus welchem Grunde! Aus Mangel an Erziehung sehe nämlich der Arbeiter die »natürlichen Gesetze des Handels« nicht ein, Gesetze, die ihn notwendig auf den Pauperismus herabbringen. Darum lehne er sich auf. Das könne »die Prosperität der englischen Manufakturen und des englischen Handels genieren, das wechselseitige Vertrauen der Geschäftsleute erschüttern, die Stabilität der politischen und sozialen Institutionen verringern.«
So groß ist die Gedankenlosigkeit der englischen Bourgeoisie und ihrer Presse über den Pauperismus, über diese Nationalepidemie Englands.
Gesetzt also, die Vorwürfe, die unser »Preuße« an die deutsche Gesellschaft richtet, seien begründet. Liegt der Grund in dem unpolitischen |397| Zustand Deutschlands? Aber wenn die Bourgeoisie des unpolitischen Deutschlands sich die allgemeine Bedeutung einer partiellen Not nicht zur Anschauung zu bringen weiß, so versteht es dagegen die Bourgeoisie des politischen Englands, die allgemeine Bedeutung einer universellen Not zu verkennen, einer Not, die ihre allgemeine Bedeutung teils durch die periodische Wiederkehr in der Zeit, teils durch die Ausbreitung im Raume, und teils durch die Vereitlung aller Versuche zur Abhülfe zur Anschauung gebracht hat.
Dem unpolitischen Zustand Deutschlands legt es der »Preuße« ferner zur Last, wenn der König von Preußen in einem Verwaltungs- und Wohltätigkeitsmangel den Grund des Pauperismus findet und daher in Verwaltungs- und Wohltätigkeitsmaßregeln die Mittel gegen den Pauperismus sucht.
Ist diese Anschauungsweise dem König von Preußen eigentümlich? Man werfe einen raschen Blick auf England, das einzige Land, wo von einer großen politischen Aktion auf den Pauperismus gesprochen werden kann.
Die jetzige englische Armengesetzgebung datiert von dem Gesetz im 43. Akt der Regierung der Elisabeth. |Es ist für unsern Zweck nicht nötig, bis zum Statut der Arbeiter unter Eduard III. zurückzugehen. Anm. K. M.| Worin bestehen die Mittel dieser Gesetzgebung? In der Verpflichtung der Pfarreien zur Unterstützung ihrer armen Arbeiter, in der Armentaxe, in der legalen Wohltätigkeit. Zwei Jahrhunderte hat diese Gesetzgebung - die Wohltätigkeit auf dem Wege der Verwaltung - gedauert. Nach langen und schmerzlichen Erfahrungen, auf welchem Standpunkte finden wir das Parlament in seiner Amendment-Bill von 1834?
Zunächst erklärt es die fürchterliche Zunahme des Pauperismus aus einem Verwaltungsmangel.
Die Administration der Armentaxe, die aus Beamten der respektiven Pfarreien bestand, wird daher reformiert. Man bildet Unionen von ungefähr zwanzig Pfarreien, die in eine einzige Administration vereinigt sind. Ein Büro von Beamten - Board of Guardians -, von Beamten, welche durch die Steuerpflichtigen gewählt werden, versammelt sich an einem bestimmten Tage in der Residenz der Union und entscheidet über die Zulässigkeit der Unterstützung. Diese Büros werden gelenkt und überwacht von Abgeordneten der Regierung, der Zentral-Kommission von Somerset House, dem Ministerium des Pauperismus, nach der treffenden Bezeichnung eines Franzosen |Eugène Buret|. Das Kapital, welches diese Administration überwacht, kommt |398| fast der Summe gleich, welche die Kriegsadministration in Frankreich kostet. Die Zahl der Lokaladministrationen, welche sie beschäftigt, beläuft sich auf 500, und jede dieser Lokaladministrationen setzt wenigstens wieder zwölf Beamte in Tätigkeit.
Das englische Parlament blieb nicht bei der formellen Reform der Administration stehen.
Die Hauptquelle des akuten Zustandes des englischen Pauperismus fand es in dem Armengesetz selbst. Das legale Mittel gegen das soziale Gebrechen, die Wohltätigkeit, begünstige das soziale Gebrechen. Was den Pauperismus im allgemeinen betreffe, so sei er ein ewiges Naturgesetz, nach der Theorie von Malthus:
»Da die Bevölkerung unaufhörlich die Subsistenzmittel zu überschreiten strebt, so ist die Wohltätigkeit eine Narrheit, eine öffentliche Aufmunterung für das Elend. Der Staat kann daher nichts tun, als das Elend seinem Schicksal überlassen, und höchstens den Tod der Elenden erleichtern.«
Mit dieser menschenfreundlichen Theorie verbindet das englische Parlament die Ansicht, daß der Pauperismus das selbstverschuldete Elend der Arbeiter sei, dem man daher nicht als einem Unglück zuvorzukommen, das man vielmehr als ein Verbrechen zu unterdrücken, zu bestrafen habe.
So entstand das Regime der Workhouses, d.h. der Armenhäuser, deren innere Einrichtung die Elenden abschreckt, eine Zuflucht vor dem Hungertod zu suchen. In den Workhouses ist die Wohltätigkeit sinnreich verflochten mit der Rache der Bourgeoisie an dem Elenden, der an ihre Wohltätigkeit appelliert.
England hat also zunächst die Vernichtung des Pauperismus durch Wohltätigkeit und Administrationsmaßregeln versucht. Es erblickte sodann in dem progressiven Fortschritt des Pauperismus nicht die notwendige Konsequenz der modernen Industrie, sondern vielmehr die Konsequenz der englischen Armentaxe. Es begriff die universelle Not nur als eine Partikularität der englischen Gesetzgebung. Was früher aus einem Wohltätigkeitsmangel, wurde nun aus einem Wohltätigkeitsüberfluß hergeleitet. Endlich wurde das Elend als die Schuld der Elenden betrachtet und als solche an ihnen bestraft.
Die allgemeine Bedeutung, die das politische England dem Pauperismus abgewonnen hat, beschränkt sich darauf, daß im Laufe der Entwicklung, trotz der Verwaltungsmaßregeln, der Pauperismus zu einem Nationalinstitut sich heraufgebildet hat und daher unvermeidlicherweise zum Gegenstand einer verzweigten und weit ausgedehnten Administration geworden ist, einer Administration, die aber nicht mehr die Aufgabe hat, ihn zu ersticken, |399| sondern ihn zu disziplinieren, zu verewigen. Diese Administration hat es aufgegeben, durch positive Mittel die Quelle des Pauperismus zu verstopfen; sie begnügt sich damit, sooft er an der Oberfläche des offiziellen Landes hervorsprudelt, mit polizeilicher Milde ihm ein Totenbett zu graben. Der englische Staat, weit entfernt, über die Administrations- und Wohltätigkeitsmaßregeln hinauszugehen, ist weit unter sie herabgestiegen. Er administriert nur noch den Pauperismus, der die Verzweiflung besitzt, sich einfangen und einsperren zu lassen.
Bisher also hat der »Preuße« nichts Eigentümliches im Verfahren des Königs von Preußen nachgewiesen. Warum aber, ruft der große Mann mit einer seltenen Naivität aus: »Warum ordnet der König von Preußen nicht sogleich die Erziehung aller verwahrlosten Kinder an?« Warum wendet er sich erst an die Behörden und erwartet ihre Pläne und Vorschläge?
Der überkluge »Preuße« wird sich beruhigen, wenn er erfährt, daß der König von Preußen hier ebensowenig Original ist, wie in seinen übrigen Handlungen; daß er sogar den einzigen Weg eingeschlagen hat, den der Chef eines Staats einschlagen kann.
Napoleon wollte die Bettelei mit einem Schlag vernichten. Er trug seinen Behörden auf, Pläne für die Austilgung der Bettelei in ganz Frankreich vorzubereiten. Das Projekt ließ auf sich warten; Napoleon verlor die Geduld, er schrieb an seinen Minister des Innern, Crétet; er befahl ihm, innerhalb eines Monats die Bettelei zu vernichten; er sagte:
»Man darf über diese Erde nicht hinwegschreiten, ohne Spuren zu hinterlassen, die unser Andenken der Nachwelt empfehlen. Fordert mir nicht noch drei oder vier Monate, um Nachweisungen zu erhalten: Ihr habt junge Auditore, kluge Präfekten, wohlunterrichtete Ingenieure der Brücken und Chausseen, setzt diese alle in Bewegung, schlaft nicht ein in der gewöhnlichen Büroarbeit.«
In wenigen Monaten war alles geschehen. Den 5. Juli 1808 wurde das Gesetz erlassen, welches die Bettelei unterdrückt. Wodurch? Durch die Dépots |Anstalten für Polizeigewahrsam| welche sich so rasch in Strafanstalten verwandelten, daß der Arme bald nur mehr durch den Weg des Zuchtpolizeigerichts in diese Anstalten gelangte. Und dennoch rief damals M. Noailles du Gard, Mitglied des gesetzgebenden Korps, aus:
»Ewige Erkenntlichkeit dem Heroen, welcher der Dürftigkeit eine Zufluchtstätte und der Armut Lebensmittel sichert. Die Kindheit wird nicht mehr verlassen sein, die armen Familien werden nicht mehr der Ressourcen, noch die Arbeiter der Ermutigung |400| und Beschäftigung entbehren. Nos pas ne seront plus arrêtés per l'image dégoûtante des infirmités et de la honteuse misère.« |»Wir werden nicht mehr durch den Anblick widerlicher Gebrechen und schändlichen Elends gehemmt sein.«|
Der letzte zynische Passus ist die einzige Wahrheit dieser Lobrede.
Wenn Napoleon sich an die Einsicht seiner Auditore, Präfekte, Ingenieure adressiert, warum nicht der König von Preußen an seine Behörden?
Warum ordnete Napoleon nicht sogleich die Aufhebung der Bettelei an? Von demselben Wert ist die Frage des »Preußen« : »Warum ordnet der König von Preußen nicht sogleich die Erziehung der verwahrlosten Kinder an?« Weiß der »Preuße«, was der König anordnen müßte? Nichts anders als die Vernichtung des Proletariats. Um Kinder zu erziehen, muß man sie ernähren und von der Erwerbsarbeit befreien. Die Ernährung und Erziehung der verwahrlosten Kinder, d.h. die Ernährung und Erziehung des ganzen aufwachsenden Proletariats, wäre die Vernichtung des Proletariats und des Pauperismus.
Der Konvent hatte einen Augenblick den Mut, die Aufhebung des Pauperismus anzuordnen, zwar nicht »sogleich«, wie es der »Preuße« von seinem König verlangt, sondern erst nachdem er das Comité du salut public mit der Bearbeitung der nötigen Pläne und Vorschläge beauftragt und nachdem dieses die weitläufigen Untersuchungen der Assemblée constituante über den Zustand des französischen Elends benützt und durch Barère die Stiftung des »Livre de la bienfaisance nationale« |»Buches der nationalen Wohltätigkeit«|, etc., vorgeschlagen. Welches war die Folge der Anordnung des Konvents? Daß eine Anordnung mehr in der Welt war und ein Jahr nachher verhungerte Weiber den Konvent belagerten.
Der Konvent aber war das Maximum der politischen Energie, der politischen Macht und des politischen Verstandes.
Sogleich, ohne Verständigung mit den Behörden, hat keine Regierung der Welt Anordnungen über den Pauperismus getroffen. Das englische Parlament schickte sogar Kommissäre nach allen Ländern Europas, um die verschiedenen administrativen Heilmittel gegen denselben kennenzulernen. Soweit sich die Staaten aber mit dem Pauperismus beschäftigt haben, sind sie bei Verwaltungs- und Wohltätigkeitsmaßregeln stehengeblieben oder unter die Verwaltung und unter die Wohltätigkeit herabgestiegen.
Kann der Staat anders verfahren?
Der Staat wird nie im »Staat und der Einrichtung der Gesellschaft«, wie es |401| der Preuße von seinem König verlangt, den Grund sozialer Gebrechen finden. Wo es politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Übels darin, daß statt ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des Staats, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen.
Der Staat und die Einrichtung der Gesellschaft sind von dem politischen Standpunkt aus nicht zwei verschiedene Dinge. Der Staat ist die Einrichtung der Gesellschaft. Sofern der Staat soziale Mißstände zugesteht, sucht er sie entweder in Naturgesetzen, denen keine menschliche Macht gebieten kann, oder in dem Privatleben, das von ihm unabhängig ist, oder in der Zweckwidrigkeit der Administration, die von ihm abhängt. So findet England das Elend in dem Naturgesetz begründet, wonach die Bevölkerung stets das Subsistenzmittel überschreiten muß. Nach einer andern Seite hin erklärt es den Pauperismus aus dem schlechten Willen der Armen, wie ihn der König von Preußen aus dem unchristlichen Gemüt der Reichen und wie ihn der Konvent aus der konterrevolutionären verdächtigen Gesinnung der Eigentümer erklärt. England bestraft daher die Armen, der König von Preußen ermahnt die Reichen, und der Konvent köpft die Eigentümer.
Endlich suchen alle Staaten in zufälligen oder absichtlichen Mängeln der Administration die Ursache, und darum in Maßregeln der Administration die Abhülfe seiner Gebrechen. Warum? Eben weil die Administration die organisierende Tätigkeit des Staats ist.
Den Widerspruch zwischen der Bestimmung und dem guten Willen der Administration einerseits, und ihren Mitteln wie ihrem Vermögen andrerseits, kann der Staat nicht aufheben, ohne sich selbst aufzuheben, denn er beruht auf diesem Widerspruch. Er beruht auf dem Widerspruch zwischen dem öffentlichen und dem Privatleben, auf dem Widerspruch zwischen den allgemeinen Interessen und den Sonderinteressen. Die Administration muß sich daher auf eine formelle und negative Tätigkeit beschränken, denn wo das bürgerliche Leben und seine Arbeit beginnt, eben da hat ihre Macht aufgehört. Ja, gegenüber den Konsequenzen, welche aus der unsozialen Natur dieses bürgerlichen Lebens, dieses Privateigentums, dieses Handels, dieser Industrie, dieser wechselseitigen Plünderung der verschiedenen bürgerlichen Kreise entspringen, diesen Konsequenzen gegenüber ist die Ohnmacht das Naturgesetz der Administration. Denn diese Zerrissenheit, diese Niedertracht, dies Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist das Naturfundament, worauf der moderne Staat ruht, wie die bürgerliche Gesellschaft des Sklaventums das Naturfundament war, worauf der antike Staat ruhte. Die Existenz des |402| Staats und die Existenz der Sklaverei sind unzertrennlich. Der antike Staat und die antike Sklaverei - offenherzige klassische Gegensätze - waren nicht inniger aneinander geschmiedet als der moderne Staat und die moderne Schacherwelt, - scheinheilige christliche Gegensätze. Wollte der moderne Staat die Ohnmacht seiner Administration aufheben, so müßte er das jetzige Privatleben aufheben. Wollte er das Privatleben aufheben, so müßte er sich selbst aufheben, denn er existiert nur im Gegensatz zu demselben. Kein Lebendiger aber glaubt die Mängel seines Daseins im Prinzip seines Lebens, im Wesen seines Lebens begründet, sondern in Umständen außerhalb seines Lebens. Der Selbstmord ist widernatürlich. Also kann der Staat nicht an die inwendige Ohnmacht seiner Administration, das heißt seiner selbst glauben. Er kann nur formelle, zufällige Mängel derselben einsehn und ihnen abzuhelfen suchen. Sind diese Modifikationen fruchtlos, nun so ist das soziale Gebrechen eine natürliche, vom Menschen unabhängige Unvollkommenheit, ein Gesetz Gottes, oder der Wille der Privatleute ist zu verdorben, um den guten Zwecken der Administration entgegenzukommen. Und welche verkehrte Privatleute? Sie murren gegen die Regierung, so oft sie die Freiheit beschränkt, und sie verlangen von der Regierung, die notwendigen Folgen dieser Freiheit zu verhindern!
Je mächtiger der Staat, je politischer daher ein Land ist, um so weniger ist es geneigt, im Prinzip des Staats, also in der jetzigen Einrichtung der Gesellschaft, deren tätiger, selbstbewußter und offizieller Ausdruck der Staat ist, den Grund der sozialen Gebrechen zu suchen und ihr allgemeines Prinzip zu begreifen. Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik denkt. Je geschärfter, je lebendiger, desto unfähiger ist er zur Auffassung sozialer Gebrechen. Die klassische Periode des politischen Verstandes ist die französische Revolution. Weit entfernt, im Prinzip des Staats die Quelle der sozialen Mängel zu erblicken, erblicken die Heroen der französischen Revolution vielmehr in den sozialen Mängeln die Quelle politischer Übelstände. So sieht Robespierre in der großen Armut und dem großen Reichtume nur ein Hindernis der reinen Demokratie. Er wünscht daher eine allgemeine spartanische Frugalität zu etablieren. Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je einseitiger, das heißt also, je vollendeter der politische Verstand ist, um so mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, um so blinder ist er gegen die natürlichen und geistigen Schranken des Willens, um so unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu entdecken. Es bedarf keiner weiteren Ausführung gegen die alberne Hoffnung des »Preußen«, wonach der »politische Verstand die Wurzel der geselligen Not für Deutschland zu entdecken« berufen ist.
|403| Es war töricht, dem König von Preußen nicht nur eine Macht zuzumuten, wie sie der Konvent und Napoleon vereint nicht besaßen; es war töricht, ihm eine Anschauungsweise zuzumuten, welche die Grenzen aller Politik überspringt, eine Anschauungsweise, deren Besitz der kluge »Preuße« selbst nicht näher steht als sein König. Diese ganze Deklaration war um so törichter, als der »Preuße« uns gesteht:
»Die guten Worte und die gute Gesinnung sind wohlfeil, die Einsicht und die erfolgreichen Taten sind teuer; sie sind in diesem Fall mehr als teuer, sie sind noch gar nicht zu haben.«
Wenn sie noch gar nicht zu haben sind, so erkenne man jeden an, der das von seiner Stellung aus Mögliche versucht. Ich überlasse es übrigens dem Takt des Lesers, ob bei dieser Gelegenheit die merkantilische Zigeunersprache von »wohlfeil«, »teuer«, »mehr als teuer«, »noch gar nicht zu haben« zu der Kategorie der »guten Worte« und der »guten Gesinnung« zu zählen ist.
Gesetzt also, die Bemerkungen des »Preußen« über die deutsche Regierung und die deutsche Bourgeoisie - letztere ist doch wohl einbegriffen in der »deutschen Gesellschaft« - seien vollkommen begründet. Ist dieser Teil der Gesellschaft ratloser in Deutschland als in England und Frankreich? Kann man ratloser sein als z.B. in England, wo man die Ratlosigkeit in ein System gebracht hat? Wenn heute Arbeiteraufstände in ganz England ausbrechen, so ist die dortige Bourgeoisie und Regierung nicht besser beraten als im letzten Dritteil des achtzehnten Jahrhunderts. Ihr einziger Rat ist die materielle Gewalt, und da die materielle Gewalt in demselben Grade abnimmt, als die Ausbreitung des Pauperismus und die Einsicht des Proletariats zunehmen, so wächst notwendig die englische Ratlosigkeit in geometrischer Proportion.
Unwahr, faktisch unwahr ist es endlich: daß die deutsche Bourgeoisie die allgemeine Bedeutung des schlesischen Aufstandes gänzlich verkennt. In mehreren Städten versuchen die Meister sich mit den Gesellen zu assoziieren. Alle liberalen deutschen Zeitungen, die Organe der liberalen Bourgeoisie strömen über von Organisation der Arbeit, Reform der Gesellschaft, Kritik der Monopole und der Konkurrenz etc. Alles infolge der Arbeiterbewegungen. Die Zeitungen von Trier, Aachen, Köln, Wesel, Mannheim, Breslau, selbst von Berlin bringen häufig ganz verständige soziale Artikel, aus denen der »Preuße« sich immerhin belehren kann. Ja, in Briefen aus Deutschland spricht sich fortwährend die Verwunderung über den geringen Widerstand der Bourgeoisie gegen soziale Tendenzen und Ideen aus.
Der »Preuße« - wäre er mit der Geschichte der sozialen Bewegung vertrauter - hätte seine Frage umgekehrt gestellt. Warum deutet selbst die |404| deutsche Bourgeoisie die partielle Not verhältnismäßig so universell? Woher die Animosität und der Zynismus der politischen, woher die Widerstandslosigkeit und die Sympathien der unpolitischen Bourgeoisie in bezug auf das Proletariat?
[»Vorwärts!« Nr. 64 vom 10. August 1844]
Nun zu den Orakelsprüchen des »Preußen« über die deutschen Arbeiter.
»Die deutschen Armen«, witzelt er, »sind nicht klüger als die armen Deutschen, d.h., sie sehen nirgends über ihren Herd, ihre Fabrik, ihren Distrikt hinaus: die ganze Frage ist von der alles durchdringenden politischen Seele bis jetzt noch verlassen.«
Um den Zustand der deutschen Arbeiter mit dem Zustand der französischen und englischen Arbeiter vergleichen zu können, mußte der »Preuße« die erste Gestalt, den Beginn der englischen und französischen Arbeiterbewegung mit der eben beginnenden deutschen Bewegung vergleichen. Er versäumt dies. Sein Räsonnement läuft daher auf eine Trivialität hinaus, etwa darauf, daß die Industrie in Deutschland noch nicht so entwickelt ist wie in England, oder daß eine Bewegung in ihrem Beginn anders aussieht als in ihrem Fortschritt. Er wollte über die Eigentümlichkeit der deutschen Arbeiterbewegung sprechen. Er sagt kein Wort über dies sein Thema.
Der »Preuße« stelle sich dagegen auf den richtigen Standpunkt. Er wird finden, daß kein einziger der französischen und englischen Arbeiteraufstände einen so theoretischen und bewußten Charakter besaß wie der schlesische Weberaufstand.
Zunächst erinnere man sich an das Weberlied, an diese kühne Parole des Kampfes, worin Herd, Fabrik, Distrikt nicht einmal erwähnt werden, sondern das Proletariat sogleich seinen Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums in schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise herausschreit. Der schlesische Aufstand beginnt grade damit, womit die französischen und englischen Arbeiteraufstände enden, mit dem Bewußtsein über das Wesen des Proletariats. Die Aktion selbst trägt diesen überlegenen Charakter. Nicht nur die Maschinen, diese Rivalen des Arbeiters, werden zerstört, sondern auch die Kaufmannsbücher, die Titel des Eigentums, und während alle andern Bewegungen sich zunächst nur gegen den Industrieherrn, den sichtbaren Feind kehrten, kehrt sich diese Bewegung zugleich gegen den Bankier, den versteckten Feind. Endlich ist kein einziger englischer Arbeiteraufstand mit gleicher Tapferkeit, Überlegung und Ausdauer geführt worden.
Was den Bildungsstand oder die Bildungsfähigkeit der deutschen Arbeiter im allgemeinen betrifft, so erinnere ich an Weitlings geniale Schriften, die in |405| theoretischer Hinsicht oft selbst über Proudhon hinausgehn, sosehr sie in der Ausführung nachstehen. Wo hätte die Bourgeoisie - ihre Philosophen und Schriftgelehrten eingerechnet - ein ähnliches Werk wie Weitlings »Garantien der Harmonie und Freiheit« in bezug auf die Emanzipation der Bourgeoisie - die politische Emanzipation - aufzuweisen? Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen politischen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten literarischen Debut der deutschen Arbeiter; vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der deutschen Bourgeoisie, so muß man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien. Man muß gestehen, daß das deutsche Proletariat der Theoretiker des europäischen Proletariats, wie das englische Proletariat sein Nationalökonom und das französische Proletariat sein Politiker ist. Man muß gestehen, daß Deutschland einen ebenso klassischen Beruf zur sozialen Revolution besitzt, wie es zur politischen unfähig ist. Denn wie die Ohnmacht der deutschen Bourgeoisie die politische Ohnmacht Deutschlands, so ist die Anlage des deutschen Proletariats - selbst von der deutschen Theorie abgesehen - die soziale Anlage Deutschlands. Das Mißverhältnis zwischen der philosophischen und der politischen Entwicklung in Deutschland ist keine Abnormität. Es ist ein notwendiges Mißverhältnis. Erst in dem Sozialismus kann ein philosophisches Volk seine entsprechende Praxis, also erst im Proletariat das tätige Element seiner Befreiung finden.
Doch ich habe in diesem Augenblick weder Zeit noch Lust, dem »Preußen« das Verhältnis der »deutschen Gesellschaft« zur sozialen Umwälzung und aus dem Verhältnis einerseits die schwache Reaktion der deutschen Bourgeoisie gegen den. Sozialismus, anderseits die ausgezeichneten Anlagen des deutschen Proletariats für den Sozialismus zu erklären. Die ersten Elemente zum Verständnis dieses Phänomens findet er in meiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (»Deutsch-Französische Jahrbücher«).
Die Klugheit der deutschen Armen steht also in umgekehrtem Verhältnis zur Klugheit der armen Deutschen. Aber Leute, welchen jeder Gegenstand zu öffentlichen Stilübungen dienen muß, geraten durch diese formelle Tätigkeit auf einen verkehrten Inhalt, während der verkehrte Inhalt seinerseits wieder der Form den Stempel der Gemeinheit aufdrückt. So hat der Versuch des »Preußen«, sich bei Gelegenheit wie der schlesischen Arbeiterunruhen in der Form der Antithese zu bewegen, ihn zu der größten Antithese gegen die Wahrheit verführt. Die einzige Aufgabe eines denkenden und wahrheitsliebenden |406| Kopfes, angesichts eines ersten Ausbruchs des schlesischen Arbeiteraufstandes, bestand nicht darin, den Schulmeister dieses Ereignisses zu spielen, sondern vielmehr seinen eigentümlichen Charakter zu studieren. Dazu gehört allerdings einige wissenschaftliche Einsicht und einige Menschenliebe, während zu der andern Operation eine fertige Phraseologie, eingetunkt in eine hohle Selbstliebe, vollständig hinreicht.
Warum beurteilt der »Preuße« die deutschen Arbeiter so verächtlich? Weil er die »ganze Frage« - nämlich die Frage der Arbeiternot - »bis jetzt noch« von der »alles durchdringenden politischen Seele« verlassen findet. Er führt seine platonische Liebe zu der politischen Seele näher dahin aus:
»Es werden alle Aufstände in Blut und Unverstand ersticken, die in dieser heillosen Isolierung der Menschen von dem Gemeinwesen und ihrer Gedanken von den sozialen Prinzipien ausbrechen; erzeugt aber erst die Not den Verstand und entdeckt der politische Verstand der Deutschen die Wurzel der geselligen Not, alsdann werden auch in Deutschland diese Ereignisse als Symptome einer großen Umwälzung empfunden werden.«
Zunächst erlaube uns der »Preuße« eine stilistische Bemerkung. Seine Antithese ist unvollkommen. In der ersten Hälfte heißt es: Erzeugt die Not den Verstand, und in der zweiten Hälfte: Entdeckt der politische Verstand die Wurzel der geselligen Not. Der einfache Verstand in der ersten Hälfte der Antithese wird in der zweiten Hälfte zum politischen Verstand, wie die einfache Not der ersten Hälfte der Antithese in der zweiten Hälfte zur geselligen Not wird. Warum hat der Stilkünstler beide Hälften der Antithese so ungleich beschenkt? Ich glaube nicht, daß er sich darüber Rechenschaft abgelegt hat. Ich will ihm seinen richtigen Instinkt deuten. Hätte der »Preuße« geschrieben: »Erzeugt die gesellige Not den politischen Verstand und entdeckt der politische Verstand die Wurzel der geselligen Not«, so konnte keinem unbefangnen Leser der Unsinn dieser Antithese entgehn. Zunächst hätte jeder sich gefragt, warum stellt der Anonyme nicht den geselligen Verstand zur geselligen Not und den politischen Verstand zur politischen Not, wie die einfachste Logik gebietet? Nun zur Sache!
Es ist so falsch, daß die gesellige Not den politischen Verstand erzeugt, daß vielmehr umgekehrt das gesellige Wohlbefinden den politischen Verstand erzeugt. Der politische Verstand ist ein Spiritualist und wird dem gegeben, der schon hat, der schon behaglich in seiner Wolle sitzt. Unser »Preuße« höre darüber einen französischen Nationalökonomen, Herrn Michel Chevalier:
»Im Jahre 1789, als die Bourgeoisie sich erhob, fehlte ihr, um frei zu sein, nur die Teilnahme an der Regierung des Landes. Die Befreiung bestand für sie darin, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, die hohen bürgerlichen, militärischen und |407| religiösen Funktionen den Händen der Privilegierten, welche das Monopol dieser Funktionen besaßen, zu entziehen. Reich und aufgeklärt, imstande sich selbst genug zu sein und sich selbst zu lenken, wollte sie sich dem régime du bon plaisir |Willkürherrschaft| entziehen.«
Wie unfähig der politische Verstand ist, die Quelle der geselligen Not zu entdecken, haben wir dem »Preußen« schon nachgewiesen. Über diese seine Ansicht noch ein Wort. Je ausgebildeter und allgemeiner der politische Verstand eines Volkes ist, um so mehr verschwendet das Proletariat - wenigstens im Beginn der Bewegung - seine Kräfte an unverständige, nutzlose und in Blut erstickte Emeuten. Weil es in der Form der Politik denkt, erblickt es den Grund aller Übelstände im Willen und alle Mittel zur Abhülfe in der Gewalt und dem Umsturz einer bestimmten Staatsform. Beweis: die ersten Ausbrüche des französischen Proletariats. Die Arbeiter zu Lyon glaubten nur politische Zwecke zu verfolgen, nur Soldaten der Republik zu sein, während sie in Wahrheit Soldaten des Sozialismus waren. So verdunkelte ihr politischer Verstand ihnen die Wurzel der geselligen Not, so verfälschte er ihre Einsicht in ihren wirklichen Zweck, so belog ihr politischer Verstand ihren sozialen Instinkt.
Wenn aber der »Preuße« die Erzeugung des Verstandes durch die Not erwartet, warum wirft er die »Erstickungen in Blut« und die »Erstickungen in Unverstand« zusammen? Ist die Not überhaupt ein Mittel, so ist die blutige Not sogar ein sehr akutes Mittel zur Erzeugung des Verstandes. Der »Preuße« mußte also sagen: Die Erstickung im Blut wird den Unverstand ersticken und dem Verstande einen gehörigen Luftzug verschaffen.
Der »Preuße« prophezeit die Erstickung der Aufstände, die in der »heillosen Isolierung der Menschen vom Gemeinwesen und in der Trennung ihrer Gedanken von den sozialen Prinzipien« ausbrechen.
Wir haben gezeigt, daß der schlesische Aufstand keineswegs in der Trennung der Gedanken von den sozialen Prinzipien stattfand. Wir haben es nur noch mit der »heillosen Isolierung der Menschen vom Gemeinwesen« zu tun. Unter Gemeinwesen ist hier das politische Gemeinwesen, das Staatswesen zu verstehn. Es ist das alte Lied von dem unpolitischen Deutschland.
Brechen aber nicht alle Aufstände ohne Ausnahme in der heillosen Isolierung des Menschen vom Gemeinwesen aus? Setzt nicht jeder Aufstand die Isolierung notwendig voraus? Hätte die Revolution von 1789 stattgefunden ohne die heillose Isolierung der französischen Bürger vom Gemeinwesen? Sie war eben dazu bestimmt, diese Isolierung aufzuheben.
|408| Das Gemeinwesen aber, von welchem der Arbeiter isoliert ist, ist ein Gemeinwesen von ganz andrer Realität und ganz andrem Umfang als das politische Gemeinwesen. Dies Gemeinwesen, von welchem ihn seine eigene Arbeit trennt, ist das Leben selbst, das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, der menschliche Genuß, das menschliche Wesen. Das menschliche Wesen ist das wahre Gemeinwesen der Menschen. Wie die heillose Isolierung von diesem Wesen unverhältnismäßig allseitiger, unerträglicher, fürchterlicher, widerspruchsvoller ist als die Isolierung vom politischen Gemeinwesen, so ist auch die Aufhebung dieser Isolierung und selbst eine partielle Reaktion, ein Aufstand gegen dieselbe um so viel unendlicher, wie der Mensch unendlicher ist als der Staatsbürger, und das menschliche Leben als das politische Leben. Der industrielle Aufstand mag daher noch so partiell sein, er verschließt in sich eine universelle Seele: der politische Aufstand mag noch so universell sein, er verbirgt unter der kolossalsten Form einen engherzigen Geist.
Der »Preuße« schließt seinen Aufsatz würdig mit folgender Phrase:
»Eine Sozialrevolution ohne politische Seele (d.h. ohne die organisierende Einsicht vom Standpunkt des Ganzen aus) ist unmöglich.«
Man hat gesehn. Eine soziale Revolution befindet sich deswegen auf dem Standpunkt des Ganzen, weil sie - fände sie auch nur in einem Fabrikdistrikt statt - weil sie eine Protestation des Menschen gegen das entmenschte Leben ist, weil sie vom Standpunkt des einzelnen wirklichen Individuums ausgeht, weil das Gemeinwesen, gegen dessen Trennung von sich das Individuum reagiert, das wahre Gemeinwesen des Menschen ist, das menschliche Wesen. Die politische Seele einer Revolution besteht dagegen in der Tendenz der politisch einflußlosen Klassen, ihre Isolierung vom Staatswesen und von der Herrschaft aufzuheben. Ihr Standpunkt ist der des Staats, eines abstrakten Ganzen, das nur durch die Trennung vom wirklichen Leben besteht, das undenkbar ist ohne den organisierten Gegensatz zwischen der allgemeinen Idee und der individuellen Existenz des Menschen. Eine Revolution von politischer Seele organisiert daher auch, der beschränkten und zwiespältigen Natur dieser Seele gemäß, einen herrschenden Kreis in der Gesellschaft, auf Kosten der Gesellschaft.
Wir wollen dem »Preußen« anvertrauen, was eine »soziale Revolution mit einer politischen Seele« ist; wir vertrauen ihm damit zugleich das Geheimnis, daß er selbst nicht einmal in Redensarten sich über den bornierten politischen Standpunkt zu erheben weiß.
Eine »soziale« Revolution mit einer politischen Seele ist entweder ein zusammengesetzter Unsinn, wenn der »Preuße« unter »sozialer« Revolution |409| eine »soziale« Revolution im Gegensatz zu einer politischen versteht, und nichtsdestoweniger der sozialen Revolution statt einer sozialen eine politische Seele verleiht. Oder eine »soziale Revolution mit einer politischen Seele« ist nichts als eine Paraphrase von dem, was man sonst eine »politische Revolution« oder eine »Revolution schlechthin« nannte. Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch.
Der »Preuße« wähle zwischen der Paraphrase und dem Unsinn! So paraphrastisch oder sinnlos aber eine soziale Revolution mit einer politischen Seele, ebenso vernünftig ist eine politische Revolution mit einer sozialen Seele. Die Revolution überhaupt - der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse - ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.
So vieler Weitläufigkeiten bedurfte es, um das Gewebe von Irrtümern, die sich in eine einzige Zeitungsspalte verstecken, zu zerreißen. Nicht alle Leser können die Bildung und die Zeit besitzen, sich Rechenschaft über solche literarische Scharlatanerie abzulegen. Hat also der anonyme »Preuße« dem lesenden Publikum gegenüber nicht die Verpflichtung, vorläufig aller Schriftstellerei in politischer und sozialer Hinsicht, wie den Deklamationen über die deutschen Zustände zu entsagen, und vielmehr mit einer gewissenhaften Selbstverständigung über seinen eigenen Zustand zu beginnen?
Paris, den 31. Juli 1844
Karl Marx
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